Freitag, 8. November 2002
Kerstin Krupp
BERLIN, 7. November. Ausländer raus aus Deutschland, Homosexuelle von der Straße und härtere Strafen für Unruhestifter. Die Forderungen sind überspitzt formuliert. Eine Studie von Bielefelder Wissenschaftlern aber ergab, dass sie den Ansichten einer Mehrzahl der Deutschen entsprechen. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer sieht durch wachsende fremdenfeindliche Einstellungen die Grundrechte gefährdet. "Die Würde des Menschen ist antastbar geworden", sagte Heitmeyer am Donnerstag bei der Vorstellung der Langzeitstudie in Berlin. Seiner Ansicht nach sind Übergriffe aus Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus nur die sichtbare Spitze eines wesentlich breiteren Phänomens. Sie würden Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und so das Ausmaß von Ausgrenzung und Diskriminierung verdecken. "Wir haben es mit einem Syndrom von feindseligen Mentalitäten in dieser Gesellschaft zu tun", sagte Heitmeyer. Fremde, Juden, Obdachlose, Behinderte, Muslime und auch Frauen würden oft als ungleichwertig betrachtet.
Die Befragung von 3 000 Menschen zeigt, dass eine stark fremdenfeindliche Atmosphäre in Deutschland herrscht. Mehr als 55 Prozent der Befragten meinen, in Deutschland leben zu viele Ausländer. Fast ein Drittel würde Ausländer am liebsten sofort in ihre Heimat zurückschicken, wenn Arbeitsplätze knapp werden. Auch antisemitische Gefühle sind der Studie nach weit verbreitet. Fast 22 Prozent der Befragten monieren einen angeblich großen Einfluss von Juden in Deutschland. Die Zahl ist zwar in den vergangenen Jahrzehnten stabil geblieben. Dennoch haben in den letzten zehn Jahren die Schändung jüdischer Friedhöfe oder Übergriffe auf Synagogen dramatisch zugenommen. Drastisch verschlechtert hat sich die Stimmung gegenüber Moslems. Die Hälfte der Befragten möchte nicht in einer Gegend leben, in der viele Muslime wohnen. Im Gegensatz zu anderen Vorurteilen ist die Islamphobie bei gut gebildeten Menschen verstärkt zu beobachten. So wird zunehmend mit dem Grad der Bildung die Ansicht vertreten, Muslime hätten kein Recht, hierzulande nach ihren Glaubensgesetzen zu leben.
Aber nicht nur Menschen aus anderen Ländern oder mit anderer Religionszugehörigkeit als dem Christentum rufen bei Deutschen Abneigung hervor. Häufig reicht es, "anders zu sein", wie zum Beispiel Homosexuelle, um abwertende Gefühle hervorzurufen. Mehr als ein Drittel empfinden Ekel, wenn sich zwei Männer oder zwei Frauen in der Öffentlichkeit küssen. Noch unangenehmer ist vielen der Anblick von Obdachlosen. Nach Ansicht von 35 Prozent müssten Wohnungslose aus Fußgängerzonen entfernt werden. Die Ablehnung fremder, "normabweichender" Gruppen ist den Ergebnissen der Studie zufolge in Ostdeutschland ausgeprägter als im Westen - völlig unabhängig davon, ob es Erfahrungen zum Beispiel mit Moslems gibt.
Die Menschen, die sich in der Studie fremdenfeindlich geäußert haben, befürworten zugleich autoritäre Maßnahmen. Das Ausmaß der "rabiaten Forderungen", so Heitmeyer, war für die Forscher überraschend. 88 Prozent der Befragten wünschen sich eine härtere Bestrafung von Verbrechern.
Auch wenn es in Deutschland keinen erfolgreich organisierten Rechtspopulismus gibt, sehen die Forscher ein erhebliches Potential von etwa 20 Prozent. Bemerkenswert aber ist, dass diese Menschen sich selbst politisch "in der Mitte" sehen und zu 83 Prozent die beiden Volksparteien wählen.
Freitag, 8. November 2002
BERLIN, 7. November. Die CDU/CSU hat der Bundesregierung Neuverhandlungen über ein Zuwanderungsgesetz angeboten, falls das Bundesverfassungsgericht das Gesetz in seiner jetzigen Fassung kippt. "Die Forderungen von CDU/CSU sind bekannt", sagte der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Wolfgang Bosbach, der Berliner Zeitung. Sollte es keine Einigung geben, könnten Regierung und Opposition zumindest ein Integrationsgesetz auf den Weg bringen.
Vor einer emotional aufgeladenen Diskussion um die Zuwanderung warnte CSU-Generalsekretär Thomas Goppel. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung erklärte er allerdings, dass es unabhängig von der Entscheidung in Karlsruhe durchaus notwendig sei, noch einmal breit über die Ziele einer Zuwanderungsgesetzgebung zu diskutieren: "Das muss sachlich, vernünftig passieren und nicht als heftige Auseinandersetzung im Sinne von rechts gegen links oder nationalistisch gegen internationalistisch."
Goppel deutete aber an, dass bei den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen, die im Februar stattfinden sollen, nun möglicherweise auch über die Zuwanderungspolitik abgestimmt werden könnte. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) befürchtet im Falle einer Ablehnung des Gesetzes in Karlsruhe einen "stark emotionalisierten Wahlkampf" in Hessen und Niedersachsen. Er warnte vor einer erneuten Debatte um die Zuwanderung.
Thierse appellierte anlässlich der Vorstellung einer Studie über Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in Berlin an das Verantwortungsgefühl von Politikern und Medien. Man brauche sich nicht über eine wachsende Ablehnung von Fremden zu wundern, wenn Zuwanderung hauptsächlich als Problem und Bedrohung dargestellt werde. Genauso "fatal falsch" sei es, wenn Ausländer und derzeit vor allem Muslime hauptsächlich als Sicherheitsrisiko angesehen würden. "Die politische Klasse hat eine fundamentale Verantwortung dafür, wie über solche Gruppen diskutiert wird", sagte Thierse.
Bosbach warnte indes davor, die Entscheidung in Karlsruhe schon als gegeben anzunehmen. Die Berliner Zeitung und die Süddeutsche Zeitung hatten gestern berichtet, eine Mehrheit der Richter im Zweiten Senat werde das zu Standekommen des Gesetzes für verfassungswidrig erklären.
Das vorzeitige Bekanntwerden einer solchen Entscheidung könne nur bewusst gesteuert worden sein, meinte Bosbach. Der Fall sei sehr ungewöhnlich. "Ich glaube, da ist etwas bewusst durchgestoßen worden, in der Erwartung, dass öffentlicher Druck entsteht." Nur ein Richter müsste nach dem vorliegenden Stand seine Meinung noch ändern, dann würden die sechs unionsgeführten Länder, die die Klage eingereicht hatten, den Prozess verlieren.
Der Deutsche Richterbund zeigte sich am Donnerstag verärgert über die öffentlichen Spekulationen und warnte vor einer Missachtung des Gerichts. Die Bundesregierung trat entschieden Unterstellungen aus der CSU entgegen, sie habe Journalisten über den Stand des Verfahrens informiert. Dies sei absurd, sagte ein Sprecher. Der Chef der bayerischen Staatskanzlei, Erwin Huber, hatte erklärt, die Union verfüge über keinerlei Signale, wie das Gericht entscheiden werde. Durch die Indiskretionen wolle die Bundesregierung Druck auf die Richter ausüben.
Freitag, 8. November 2002
Nach dem Eklat bei der Straßenumbenennung in Spandau soll der SPD-Bundestagsabgeordnete Swen Schulz in einem Interview gesagt haben: "Mit der Einladung an Herrn Brenner wurde die Sache erst richtig aufgebauscht." Schulz soll nun zurücktreten, fordert die CDU.
Herr Schulz, die FDP übt Kritik und behauptet, Sie würden ihr und dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde die Schuld für Antisemitismus geben. Was haben Sie denn nun gesagt?
Ich hatte in einem Gespräch versucht deutlich zu machen, dass der Streit um die Rückbenennung der Kinkel- in Jüdenstraße stark emotionalisiert war und dass sich die FDP den Tag der Rückbenennung für eine Parteiveranstaltung zu eigen gemacht hat. Auch das hat zu weiterer Unruhe geführt. Soweit hätte es nicht kommen müssen. Auf gar keinen Fall gebe ich der Jüdischen Gemeinde und der FDP Schuld am Antisemitismus.
Dennoch fordert die CDU, dass Sie ihr Bundestagsmandat zurückgeben.
Das, was wir jetzt erleben, ist ein Stück aus dem Tollhaus. Einige Parteienvertreter nehmen die Debatte nach dem Eklat zum Anlass, um auf den politischen Gegner einzudreschen.
Was unternehmen Sie jetzt?
Ich will kein Öl ins Feuer gießen. Zunächst muss das, was am 1. November vorgefallen ist, rückhaltlos aufgeklärt werden. Außerdem müssen wir mit allen Beteiligten darüber reden, wie wir nun Gottfried Kinkels gedenken, an den ja keine Straße mehr erinnert.
Bedauern Sie das?
Ich habe nichts gegen die Jüdenstraße. Aber auch Kinkel ist eng mit Spandau verbunden. Dass die Straße nun Jüdenstraße heißt, das akzeptiere ich selbstverständlich. Unser SPD-Kreisbüro hat seinen Sitz in der früheren Kinkelstraße und alle Schreiben tragen als Absenderadresse jetzt Jüdenstraße.
Das Gespräch führte Marcel Gäding.
Freitag, 8. November 2002
POTSDAM. Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) will den geplanten Aufmarsch von Rechtsextremisten am 17. November auf dem Soldatenfriedhof in Halbe offenbar mit allen Mitteln verhindern. Schönbohm habe das zuständige Polizeipräsidium in Frankfurt an der Oder "angewiesen, alle rechtlichen Möglichkeiten bis zum Äußersten auszureizen", sagte Ministeriumssprecher Heiko Homburg am Donnerstag. Den geplanten Aufmarsch von Rechtsextremisten auf einem der größten Soldatenfriedhöfe bezeichnete Schönbohm als "Provokation und Störung der Totenruhe".
Freitag, 8. November 2002
aus Berlin THOMAS GOEBEL
Ruhe und Ordnung stehen hoch im Kurs in Deutschland: Achtzig Prozent der Deutschen sind dafür, gegen Außenseiter und Unruhestifter härter vorzugehen. Die Zahl stammt aus einer Studie des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, die von ihrem Leiter Wilhelm Heitmeyer gestern in Berlin vorgestellt wurde. Die "autoritäre Aggression", die hinter dem lauten Ruf nach Ruhe und Ordnung stehe, sei vor allem gegen Minderheiten wie Ausländer, Juden oder Homosexuelle gerichtet, sagte Heitmeyer.
Rabiate Forderungen zeigten "möglicherweise einen Abschied von liberalen Vorstellungen zur Sicherung der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung". Das Potenzial für eine rechtspopulistische Bewegung in Deutschland schätzt Heitmeyer auf etwa zwanzig Prozent.
Für die groß angelegte Studie hatte die Bielefelder Forschergruppe 3.000 repräsentativ ausgewählten Personen interviewt. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage nach so genannter "gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit" - also die Frage, warum Menschen wegen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe abgewertet oder angegriffen werden.
Dabei differenzierten die Forscher auch nach Geschlecht und Herkunft der Befragten, und kommen zu teils erstaunlichen Ergebnissen: So verdichte sich der "wenig thematisierte Trend", dass Frauen "deutlich fremdenfeindlicher eingestellt" seien als Männer: 38,1 Prozent der weiblichen und 30,1 Prozent der männlichen Befragten äußerten sich entsprechend. Im Osten Deutschlands sind diese Werte mit 46,2 Prozent insgesamt höher als im Westen (31,7 Prozent); in den alten Bundesländern ist dagegen der "klassische Sexismus" wesentlich häufiger vertreten (31 zu 23 Prozent). Antisemitische Einstellungen unterscheiden sich nicht nach Ost und West: Sie liegen bei gut 12 Prozent. Für die Wissenschaftler sind diese verschiedenen Formen der "gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" Teil eines "Syndroms" und haben vieles gemeinsam. Sie werden verstärkt durch autoritäres Denken - und sie stehen in Bezug zu den "negativen Anerkennungsbilanzen" ihrer Urheber.
Einfache Erklärungsmuster wie die Arbeitslosigkeit reichten nicht aus, um menschenfeindliche Einstellungen zu erklären, betonte Heitmeyer. Seine Studie habe aber ergeben, dass die Bereitschaft zu Diskriminierung und Gewalt bei Menschen besonders hoch sei, die wirtschaftlich, politisch und sozial benachteiligt seien. Die schwierige Lage auf dem Arbeitsmarkt, geringe Möglichkeiten zur politischen Mitwirkung und zerbrechende Familien förderten abwertendes Denken und Handeln.
Bundestagspräsident Wofgang Thierse forderte bei der Präsentation der Studie, die "Kultur sozialer Werte und menschlicher Beziehungen" besser zu pflegen. Mit der Beschränkung auf wirtschaftlichen Erfolg seien "feindselige Mentalitäten" nicht zu bekämpfen. So sei etwa die gegenwärtige Bildungsdebatte in Deutschland "reduziert auf den schrecklichen Begriff des Fitmachens".
Freitag, 8. November 2002
Der Eklat bei der Rückbenennung der Kinkel- in Jüdenstraße wurde gestern auch von der BVV Spandau aufs Schärfste verurteilt. Jedoch einigten sich die fünf Fraktionen erst nach mehrstündiger Beratung auf einen gemeinsamen Beschlusstext.
Derweil versucht der Staatsschutz zu ermitteln, wer für die Pöbeleien gegen den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Berlin, Alexander Brenner, verantwortlich ist. Nach Angaben von Karl-Heinz Bannasch von der FDP ließen sich «mindestens zwei der antisemitischen Aussagen» zuordnen. So soll eine Geschäftsfrau aus der Jüdenstraße auf seine Feststellung, dass die Straße 1938 von den Nazis umbenannt worden war, gesagt haben: «Und das war auch gut so!»
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Swen Schulz wies Vorwürfe von sich, er habe an der Demonstration teilgenommen. «Die Attacken der FDP gegen mich sind falsch, beleidigend und bösartig.»
Freitag, 8. November 2002
Bezirksverordnete einigen sich auf gemeinsame
Resolution
Stundenlang debattierten die Fraktionen, bis sich die Spandauer Bezirksverordneten
am späten Mittwochabend auf eine gemeinsame Resolution gegen Antisemitismus und
Fremdenfeindlichkeit einigten. Dabei war man sich in der Sache einig,
antijüdische Äußerungen, die am 1. November während der Rückbenennung der
Kinkel- in Jüdenstraße gefallen sein sollen, auf das Schärfste zu verurteilen.
Doch dann gab es wieder parteipolitisches Gezänk.
SPD, Grüne und PDS stießen sich an dem Zusatz von CDU und FDP, immer betont zu
haben, dass die Rückbenennung nicht zu Wahlkampfzwecken „missbraucht“ werden
dürfe. Schließlich einigte man sich auf einen Kompromiss. Zuvor hatte
Bezirksbürgermeister Konrad Birkholz (CDU) eine persönliche Erklärung verlesen.
Er äußerte sein „tief empfundenes Bedauern und Entsetzen“ darüber, dass „einige
wenige Zeitgenossen“ die Anwesenheit des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde
genutzt hätten, um „ihre ureigenste, von Aggressionen und Verachtung
gezeichneten und geprägten Denkweisen“ lauthals darzustellen. Birkholz dankte
Brenner, dass er seine Teilnahme an der heutigen Gedenkfeier zum Jahrestag der
Pogromnacht nicht abgesagt hat.
Die CDU forderte den Rücktritt von Swen Schulz als SPD-Kreisvorsitzender und
Bundestagsabgeordneter. Schulz hatte erklärt, der FDP-Fraktionschef Karl-Heinz
Bannasch habe mit der von ihm initiierten Veranstaltung die Situation erst
aufgebauscht. Bannasch selbst erklärte, spätestens mit Beginn der Rede von
Alexander Brenner habe am Freitag eine „pogromähnliche Stimmung“ geherrscht.
Inzwischen versucht der polizeiliche Staatsschutz die Frage zu beantworten, wer
tatsächlich welche Äußerungen gemacht hat. Bannasch sprach unter anderem von
Rufen wie „Juden raus“ und „Juden haben Jesus ans Kreuz genagelt“. Am Montag
will Innensenator Körting das Ergebnis der Ermittlungen im Innenausschuss des Berliner
Abgeordnetenhauses vorstellen. du-
Freitag, 8. November 2002
Aufführung in Schulen
Potsdam (ddp-lbg). Die freie Theatergruppe Poetenpack bringt «Die Judenbank»
auf die Bühne. Das Stück von Reinhold Massag hat am Abend des 9. November
Premiere im Potsdamer KunstWerk, sagte ein Sprecher des Aktionsbündnisses gegen
Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit am Donnerstag in Potsdam. Es
erinnert an das Schicksal der Juden in der Nazi-Zeit. Die Premiere findet genau
64 Jahre nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 statt. Anschließend
wird das Poetenpack «Die Judenbank» unter anderem in zehn Brandenburger Schulen
aufführen. Die Schirmherrschaft haben Bildungsminister Steffen Reiche (SPD) und
das Aktionsbündnis übernommen.
Freitag, 8. November 2002
Der Verein "Für Demokratie und Toleranz" muss zum Jahresende seine Regionalstellen im gesamten Land, so auch in Rostock, schließen. Die SAM-Stellen laufen aus. Und auch das Geld für Raummiete und Co. ist nicht da, so erklärt Mitarbeiterin Anke Tretow.
Als 1998 die rechtsextreme NPD angekündigt hatte, sie werden den Schwerpunkt ihres Wahlkampfes nach Mecklenburg-Vorpommern verlegen, hatten sich Parteien, Verbände, Institutionen und Einzelpersonen zusammengeschlossen, um gegenzusteuern. Am 24. Februar gründeten sie den Verein.
"Toleranz braucht Übung", so die gemeinsame Überzeugung, aus der vor drei Jahren die Regionalzentren in Greifswald, Neubrandenburg, Schwerin und Rostock entstanden. Anke Tretow bilanziert: Allein seit diesem Frühjahr hat sie in Rostock 13 Projekttage an Schulen auf die Beine gestellt, bei denen Gewaltprävention im Mittelpunkt stand. Ein Thema, mit dem ihrer Meinung nach Lehrer nicht alleine gelassen werden dürfen. Neun Workshops bot das Rostocker Zentrum in der gleichen Zeit unter dem Motto "Tanzende Rollen" an. Ein Projekt, bei dem junge Leute dazu angeregt werden sollen, sich über ihre eigenen Werte Gedanken zu machen, um eine kritische Selbstreflexion zu beginnen. Und schließlich nennt Anke Tretow die "Netzwerkarbeit" als dritten Schwerpunkt ihres Jobs. Bis Ende Dezember wird sie den noch erfüllen, danach hofft die Sozialarbeiterin an anderer Stelle auf den gesammelten Erfahrungen aufbauen zu können. Was der Verein künftig ohne Mitarbeiter noch bewerkstelligen kann, bleibt abzuwarten. Ohnehin hat das ehemalige Bündnis gegen rechte Intoleranz mittlerweile gerade noch 37 Mitglieder.
Freitag, 8. November 2002
Rechte sagen Aufmarsch in Hoyerswerda
ab
Neue Demonstration für Dezember angekündigt
Von Thomas Mielke
Hoyerswerda. Der für
Sonnabend geplante rechte Aufmarsch in Hoyerswerda ist abgesagt worden. Zur
Begründung heißt es auf einschlägigen Seiten im Internet, dass die
Demonstration zugunsten einer NPD-Veranstaltung in Weimar verschoben wurde. Das
Verbot der Demonstration durch die Hoyerswerdaer Stadtverwaltung wird nicht
erwähnt. Gleichzeitig wird die Anmeldung einer neuen Demonstra-tion für
Dezember angekündigt.
Bei der
Stadtverwaltung ist allerdings noch keine Absage durch den Organisator
eingegangen. Sie zweifelt noch an der inoffiziellen Mitteilung. Wenn trotz des
Verbots oder durch einen Gerichtsbeschluss die Demonstration doch stattfindet,
wolle die Verwaltung noch kurzfristig zur Teilnahme an der Gegendemonstration
aufrufen, kündigte Stadtsprecher Sandro Fiebig gestern an. In diesem Fall werde
Oberbürgermeister Horst-Dieter Brähmig (PDS) auf einer Kundgebung zu den
Gegendemonstranten sprechen. Das Stadtoberhaupt will damit ein deutliches
Zeichen setzen, dass sich Hoyerswerda in den letzten zehn Jahren geändert hat und
rechte Aufmärsche nicht toleriert.
Wird der rechte
Aufmarsch per Gerichtsbeschluss durchgedrückt, wollen der Hoyerswerdaer „Verein
engagierter Bürger“ und die Juso‘s nach eigenen Angaben die angemeldete
Gegendemonstration ab 10 Uhr vom Altstadt-Bahnhof durchführen. Bleibt es aber
bei der Absage, fällt die Gegendemonstration ebenfalls aus.
Freitag, 8. November 2002
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Am Samstag wird die NPD durch die Straßen unserer Stadt marschieren. Erstmals nach 1945 werden die Nationalisten ihre ausgrenzenden Parolen grölen können. Eine Partei, die die Gleichheit aller Menschen ablehnt. Eine Partei, die das parlamentarische System der BRD ablehnt und die sich für die ehemaligen "Ostgebiete" einsetzt, die gegen Ausländer, jüdische Zentralräte, "Linke" und andere Gruppen Hass und Gewalt schürt, hat in Weimar - wie auch in anderen Städten - nichts zu suchen. Der Plan, am Jahrestag der
Pogromnacht von 1938, Weimar als einen Aufmarschplatz zu missbrauchen, ist
eine Missachtung der Opfer des Naziregimes und an Obszönität kaum zu
überbieten. Obszönes Vorhaben Bisher ist der NPD ein Aufmarsch in Weimar nicht gelungen. Dank des damaligen Rechtsdezernenten ist im Jahr 2000 ein Verbot auf den Weg gebracht worden, dass so wasserdicht und inhaltlich so begründet war, dass es den Gerichten unmöglich schien, dieses aufzuheben. Dieses Jahr nun ist es etwas anders, auch weil neue Menschen in politischer Verantwortung sitzen. Eine lange Kette von Missverständnissen zwischen Bürgerbündnis und Stadtverwaltung endete mit der Verbotsaufhebung durch das Verwaltungsgericht. "Inhaltlich zu dünn", meinte das Verwaltungsgericht sinngemäß und stufte das Demonstrationsverbot als rechtswidrig ein. Wesentliche Einschätzungen der Polizeidirektion und des Landesverfassungsschutzes fehlten im Verbotsantrag der Stadtverwaltung. Und das impliziert auch: Oft nur spekulative Einschätzungen und Vermutungen über die Lage reichen dem Gericht eben nicht aus. Warum die Verwaltung derart Schiffbruch erlitt, bleibt im Dunkeln. Immerhin konnte sie sich sechs lange Monate mit dem Thema beschäftigen, denn die NPD meldete die Demo bereits am 9. April an. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es der Verwaltung und vor allem den politischen Wahlbeamten nicht so wichtig war und ist, ein hieb- und stichfestes Verbot zu erlassen. Aber dies ist eben nur ein Verdacht. Eine Anfrage bei der
Stadtverwaltung, ob man nun vor das Oberverwaltungsgerichte ziehe, also die
zweite Instanz anruft, blieb bis zum jetzigen Zeitpunkt unbeantwortet.
"Schlecht", meint das Bürgerbündnis und zweifelt grundsätzlich an
der Ernsthaftigkeit, die das Thema gerade in Weimar erzwingt. Wenig Engagement im
Rathaus? Was in anderen Städten traurige Normalität ist, findet nun wohl auch in Weimar Eingang. Nun ist das Bürgerbündnis keine politische Initiative oder Partei, sondern setzt sich aus unterschiedlichsten Menschen und Institutionen zusammen, die sich für diese Stadt einsetzen. Das Bürgerbündnis wird dies trotz aller Neuheiten, die es im so genannten bunten Haus gibt, auch am Samstag tun. Aufgefordert und eingeladen sind auch die politischen Wahlbeamten und der Oberbürgermeister. Aufgefordert, die Bürgerinnen und Bürger, die ja auch Wählerinnen und Wähler sind, nicht alleine zu lassen. Vielerlei Aktivitäten sind geplant und wird es geben. Das Bündnis bedankt sich im Vorfeld für die Unterstützung der Vereine und Menschen dieser Stadt. Zeigen die Bürgerinnen und Bürger kreativ und beeindruckend ihre Ablehnung, könnte es gelingen, die NPD und andere Rechte schnell und möglichst für immer nach Hause zu schicken. In dieser Stadt und in anderen Städten ist für sie kein Platz. i Michel Brehm ist Mitglied des Weimarer Bündnisses "BürgerInnen gegen Rechts" (BgR) |
Freitag, 8. November 2002
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Weimar. (tlz/bük) Die Schlappe vor dem Gericht, sie war absehbar: So habe das Rathaus vor dem Beschluss der Verwaltungsrichter aus dem Landesverwaltungsamt das eindeutige Signal erhalten, das Demo-Verbot für die NPD nachzubessern. Das sagte am Donnerstag Ratsherr Michael Hasenbeck (Parteilose), der bei "Radio Lotte" ein Gespräch nach einem Gespräch mit dem OB wiedergab. Bestätigt wurden damit Gerüchte, die nach der jüngsten Sitzung des Hauptausschusses bereits an die Öffentlichkeit gelangten. Das Landesverwaltungsamt räumte auf TLZ-Nachfrage lediglich ein, dass es Hinweise allgemeiner Art gegeben habe. - Die Ohnmacht der Justiz beklagte Superintendent Wolfram Lässig. Er zeigte sich bestürzt darüber, dass Rechtsradikale am Jahrestag der Pogromnacht marschieren dürften. Lässig rief Christen und Nichtchristen dazu auf, sich an den Protesten zu beteiligen. "Mich treibt die Sorge, die Menschen dieser Stadt könnten sich an solche Ereignisse gewöhnen und mit den Jahren vergessen, dagegen zu protestieren", betonte er. Die Bündnisgrünen starten die Aktion "Es ist zum Heulen - Zwiebeln gegen Rechts". Mitglieder der Partei verkleiden sich als Zwiebelmarktköniginnen und -könige und verteilen Zwiebelkuchen. Damit will man die Größe und Volksnähe veranschaulichen, die die Gegendemo eigentlich besitzen müsste. |
Freitag, 8. November 2002
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Weimar/Jena. (tlz) Dass das Weimarer Verwaltungsgericht das Verbot einer rechtsradikalen Demonstration am morgigen 9. November aufgehoben hat, registriert der Verfassungsrechtler und Rechtsphilosoph Rolf Gröschner mit großer Gelassenheit. "Solche behördlichen Verbote haben vor der Justiz selten Bestand, weil die Richter das Grundrecht der Versammlungsfreiheit stets höher bewerten", erklärt der Jura-Professor. Eine intakte und wehrhafte Demokratie müsse derartige Aufmärsche selbst an symbolträchtigen Gedenktagen aushalten. Nur wenn massive Verletzungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu befürchten seien, sei ein Verbot gerechtfertigt. "Unsere demokratische Verfassung fußt nun einmal auf dem hohen Gut der Grundrechte", so Gröschner. "Sollen wir die etwa außer Kraft setzen, um dieser ,rechten Gefahr´ zu begegnen?" Zugleich stärkte Gröschner den Organisatoren der Gegenveranstaltungen auf dem Weimarer Theaterplatz den Rücken: "Das ist die richtige Antwort: Radikale ignorieren und den Gedenktag selber gestalten. Ich wünsche dafür viel Bürgerresonanz." |
Freitag, 8. November 2002
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Weimar/Jena. (tlz) Zwei Seelen wohnen in der Brust des Jenaer Jura-Professors Rolf Gröschner: "Als Rechtsphilosoph würde ich gern dafür plädieren, rechtsradikale Demos an derart geschichtsträchtigen Tagen wie dem 9. November zu verbieten", sagte er mit Blick auf den für morgen geplanten NPD-Aufmarsch in Weimar. "Aber für mich als Verfassungsrechtler wiegt das Grundrecht der in Artikel 8 garantierten Versammlungsfreiheit schwerer." Gröschner verweist auf entsprechende Bundesverfassungsgerichts-Urteile, in denen die Versammlungsfreiheit als "wesentliches Element demokratischer Offenheit" und als "ein Stück ungebändigter, unmittelbarer Demokratie" bezeichnet werden. Behördliche Verbote gegen Rechtsradikalen-Demos würden daher meistens von den Verwaltungsgerichten wieder kassiert. Grundsätzliche Handhabe böte erst ein NPD-Verbot, das der Jenaer Jurist energisch befürwortet. Rolf Gröschner: "Aber ich habe große Sympathie für die Weimarer Stadtverwaltung, deren Aufmarsch-Verbot natürlich trotzdem eine politische und sozialpsychologische Signalwirkung hat." Durch friedliche Gegendemonstrationen und die öffentliche Stadtratssitzung werde hingegen die "Ambivalenz dieses Tages in der deutschen Geschichte" deutlich: Ausrufung der Republik 1918, Reichspogromnacht 1938, Fall der Mauer 1989 einerseits, Marsch auf die Feldherrnhalle 1923 andererseits. "Gute Demokraten wissen, zu welcher Veranstaltung sie gehen", mahnt der Professor, "dann wird man wirklich sehen, wer auf den Straßen Meinungsführerschaft beanspruchen kann". |
Freitag, 8. November 2002
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Erfurt. (tlz/dpa/ger) "Sozialarbeiter und Juristen müssen besser zusammenarbeiten, um Straftaten von Jugendlichen zu vermeiden", forderte Sozialminister Frank-Michael Pietzsch (CDU) beim ersten Thüringer Jugendgerichtstag. Er setzt sich für eine enge Verzahnung von Jugendhilfe und Justiz ein. Justizminister Karl Heinz Gasser begrüßte im TLZ-Gespräch dieses Vorhaben, die bereits bestehende Zusammenarbeit auszubauen. Er machte aber auch deutlich, dass "die Justiz nur einen kleinen Haushalt" habe. Pietzsch müsse für seine Vorschläge deshalb auch finanziell einspringen. Eine erste Freiheitsstrafe führe oft dazu, das Jugendliche noch weiter ins kriminelle Milieu abrutschten, so der Sozialminister. Juristen und Sozialarbeiter müssten gemeinsam überprüfen, ob alternative Strafen wie Anti-Gewalt-Trainingskurse, gemeinnützige Arbeiten oder Projekte eines Täter-Opfer-Ausgleichs geeigneter seien. In Thüringen gibt es 42 verschiedene Projekte mit alternativen Strafmaßnahmen. Nach Ansicht von Pietzsch reichten zur Verhinderung von Jugend-Straftaten weder reine Erziehungsangebote noch die alleinige Haftandrohung aus. Beides müsse kombiniert werden. "Das ist im Interesse der jungen Menschen und im Interesse der gesamten Gesellschaft." Der Präsident des Landesamtes für Soziales und Familie, Michael Rückert, forderte bei den Hilfsangeboten ein Qualitätsmanagement. Sowohl die Kosten als auch der Erfolg müsse überprüft werden. |
Freitag, 8. November 2002
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WEIMAR (rd). Das gescheiterte Verbot einer NPD-Demonstration am 64. Jahrestag der Reichsporgromnacht in Weimar hat gestern Wut und Trauer in der Kulturstadt ausgelöst. Weimars Evangelisch-Lutherischer Superintendent Wolfram Lässig zeigte sich bestürzt über den nun möglichen Aufmarsch der Rechtsradikalen: "Ich beklage die Ohnmacht der Justiz, den Eklat zu verhindern. Mich treibt die Sorge, die Menschen dieser Stadt könnten sich an solche Ereignisse gewöhnen und mit den Jahren vergessen, dagegen zu protestieren", sagte er. "Darum rufe ich die Christen und Nichtchristen dieser Stadt auf, sich an Bürgerprotesten zu beteiligen. Protestieren Sie durch Teilnahme an der Kundgebung auf dem Theaterplatz. Machen Sie durch Protest mit friedlichen Mitteln keinen Hehl daraus, dass Sie Aufmärsche rechtsgerichteter Radikaler in Weimar ablehnen. Nehmen Sie teil am Kerzenzug vom Kegelplatz (17.30) zum Pogromgedenken am jüdischen Friedhof in der Leibnizallee (18.00 Uhr)."Reinhard Schramm, der Stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, erinnerte daran, dass in das Konzentrationslager der Stadt Weimar, nach Buchenwald, in der Progromnacht vom 9. November 1938 und direkt danach etwa 10 000 Männer aus jüdischen Familien gebracht, misshandelt und nicht wenige zu Tode qequält wurden. "Wenn in diesem Weimar an diesem denkwürdigen 9. November - der einst den Auftakt zum Völkermord an den europäischen Juden gab - den geistigen Erben der Nazis durch ein deutsches Gericht die Erlaubnis gegeben wird, mit ihrem Aufmarsch die Toten zu verhöhnen, schäme ich mich für die Richter und alle anderen Bürger dieses Landes, die das unter Demokratie verstehen", so Prof. Schramm. |
Freitag, 8. November 2002
Was wir unter Menschenfeindlichkeit verstehen
Ein großer Teil der bundesdeutschen Gesellschaft hält nicht viel von Achtung der Menschenwürde / Aus einer Repräsentativbefragung von Bielefelder Forschern
Das Ausmaß an diskriminierenden Einstellungen und Verhaltensmustern in der Gesellschaft untersuchen Wissenschaftler unter Federführung des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Uni Bielefeld. Wir dokumentieren Teile des Berichts "Feindselige Mentalitäten, Zustandsbeschreibungen zur angetasteten Würde von Menschen in Deutschland". Der Report gibt Auszüge aus dem "GMF-Survey 2002" und dem Suhrkamp-Band "Deutsche Zustände" wieder. Autoren sind Wilhelm Heitmeyer, Kirsten Endrikat, Ari Heyder, Steffen Kühnel, Dagmar Schaefer, Peter Schmidt und Ulrich Wagner.
Jede Gesellschaft tut gut daran, für Selbstaufklärung zu sorgen. Erst in der Konfrontation mit ihrer vielfachen verdrängten oder geschönten Realität erhält sie die Chance, sich dem Ausmaß der Verwirklichung ihrer grundlegenden Wertvorstellungen zu vergewissern. Dazu gehören die Gleichwertigkeit und psychische wie physische Unversehrtheit. Artikel 1 des Grundgesetzes besagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Von einer Realisierung dieser Grundwerte sind wir in Deutschland weit entfernt. Deshalb geht es um die Frage, wie Menschen unterschiedlicher sozialer, religiöser und ethnischer Herkunft in dieser Gesellschaft leben, Anerkennung erfahren oder mit feindseligen Mentalitäten konfrontiert sind, die wir "Menschenfeindlichkeit" nennen. Sie beginnt zumeist schleichend dann, wenn Personen auf Grund ihrer gewählten oder zugewiesenen Gruppenzugehörigkeit als ungleichwertig markiert werden und sich ihrer körperlichen wie seelischen Unversehrtheit nicht mehr sicher sein können.
Auch für die Bundesrepublik sind drei zentrale Fragen ständig wieder neu zu klären:
- In welchem Ausmaß ist für zahlenmäßig schwache bzw. beschwerdearme Gruppen die Würde antastbar durch abwertende, ausgrenzende Einstellungen und diskriminierendes Verhalten?
- Welche Zusammenhänge gibt es mit verschiedenen Einstellungen, Gefühlslagen und Haltungen wie Autoritarismus, Orientierungslosigkeit und politischen Forderungen?
- Welche Erklärungen sind dafür zu finden, dass sich menschenfeindlichen Mentalitäten in dieser Gesellschaft hartnäckig halten bzw. ausbreiten? Um Antworten zu finden, werden jährlich 3000 repräsentativ ausgewählte Personen in Deutschland befragt.
Um den Grad der Inhumanität in einer Gesellschaft aufzuspüren, reicht es nicht aus, nur Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nachzugehen. Dies sind vielfach die brutalen Zuspitzungen, die zugleich Leidensgeschichten von Menschen anderer Gruppen überlagern - und so das ganze Ausmaß von Ausgrenzung und Diskriminierung eher verdecken. Daher wird mit einem neuen Konzept versucht, eine größere Spannbreite zu erfassen, da wir davon ausgehen, dass wir es mit einem Syndrom von feindseligen Mentalitäten in dieser Gesellschaft zu tun haben. Die Befunde können hier nur schlaglichtartig beleuchtet werden.
Zum Rassismus zählt die von ca. 16 % der Befragten vertretene Auffassung, dass die Weißen zu Recht führend in der Welt sind. Und für 14 % gibt es Gruppen in dieser Gesellschaft, die weniger wert sind als andere. Die Fremdenfeindlichkeit drückt sich u.a. darin aus, dass mehr als 55 % die Auffassung artikulierten, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben. Zudem sollen Ausländer zurückgeschickt werden, wenn die Arbeitsplätze knapp werden, so die Auffassung von fast 28 %.
Hinsichtlich des Antisemitismus wird von fast 22 % zu viel Einfluss von Juden in Deutschland moniert. Fast 17 % weisen den Juden eine Mitschuld an ihren Verfolgungen auf Grund ihres Verhaltens zu. Diese weitgehend bekannten und stabilen Ausmaße sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Schändungen z. B. jüdischer Friedhöfe im letzten Jahrzehnt dramatisch zugenommen haben. Der Resonanzboden ist erheblich, denn fast 52 % unterstellen, dass Juden aus der Vergangenheit Vorteile ziehen wollen. Die Heterophobie, also die Angst vor dem "Anderssein" und damit zusammenhängenden, meist subtilen Abwertungen lässt sich an drei Gruppen zeigen. Hinsichtlich der Homosexualität erregt z. B. das Küssen in der Öffentlichkeit für mehr als 33 % der Befragten Ekel. Obdachlose sind deutlich mehr als 42 % unangenehm, so dass sich enge Zusammenhänge mit rabiaten Forderungen zur Entfernung aus den Fußgängerzonen bei fast 35 % finden lassen. Schließlich erfahren Muslime seit jüngerer Zeit eine besondere Einschätzung. So zeigt sich nach Auffassung von fast 53 % an der Verbreitung von Moscheen, dass der Islam auch hier seine Macht vergrößern will und für mehr als 46 % gilt es als schlimm, dass Frauen aus religiösen Gründen Kopftücher tragen.
Etabliertenvorrechte reklamieren Rangfolgen und verletzen auf subtile Art die Gleichwertigkeit. Für mehr als 40 % der Befragten sollten die, die schon immer hier leben mehr Rechte haben als solche, die später zugezogen sind. Und wer neu ist, sollte sich erst mal mit weniger zufrieden geben; 58 % vertreten eine solche Auffassung.
Schließlich ist auf Sexismus zu verweisen. Er hat einen "Sonderstatus", da sich solche Einstellungen nicht gegen eine zahlenmäßige Minderheit richten. Gleichwohl gibt es in erheblichem Ausmaß geschlechtsdiskriminierende Vorstellungen in der Bevölkerung. So sollen sich Frauen nach der Auffassung von fast 30 % wieder auf die "angestammte" Rolle der Ehefrau und Mutter besinnen - und: für fast 45 % ist die Diskriminierung von Frauen in Deutschland kein Problem. Alles ist in Ordnung. Das bedeutet die Leugnung von Diskriminierung von Frauen in dieser Gesellschaft und ist damit Ausdruck eines modernen Sexismus. Dieser Effekt ist sogar bei besser Gebildeten ausgeprägter.
Die einzelnen Elemente des Syndroms, also demonstrativer bzw. verdeckter Abwertung hängen in unterschiedlicher enger Weise zusammen. Dies muss betont werden, weil dadurch deutlich wird, dass erstens die Kette der Vergiftung einer liberalen Atmosphäre an verschiedenen Stellen des Syndroms entstehen und intensiviert werden kann. Mit anderen Worten, sie kann bei unterschiedlichen Gruppen ansetzen, also bei jenen, die schon "traditionelle" Opfer sind, wie ethnische oder religiöse Gruppen oder die etwa neuerdings auf Grund von Kapitalinteressen etc. verstärkt aus öffentlichen Räumen vertrieben werden. (. . .)
Die Abwertung bzw. Abwehr von Angehörigen fremder und "normabweichender" Gruppen ist ausgeprägter in Ost- als in Westdeutschland. Und die höheren Werte zur Islamphobie demonstrieren erneut, dass eine solche Abwehr und Abwertung auch ohne Erfahrungen mit den entsprechenden Gruppen auskommt. Dagegen ist Antisemitismus in den neuen Bundesländern ebenso ausgeprägt wie im Westen. Aber das Bild ist längst nicht so eindeutig. Wenn es um die Gleichheit ohne ethni-sche und religiöse Fremdheit geht, wie bei Etabliertenvorrechten und klassischem Sexismus, vertreten die ostdeutschen Befragten eher egalitäre Vorstellungen.
Welche Haltungen und politischen Forderungen hängen mit solchen Einstellungen zusammen? Es konnte erwartet werden, dass autoritäre Überzeugungen in einer engen Beziehung mit der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit stehen. Unerwartet indessen ist das Ausmaß der Zustimmungen zu rabiaten Forderungen (Verbrechen sollen härter bestraft werden: 88 %; . . . härter gegen Außenseiter und Unruhestifter vorgehen: 80 %). Diese autoritäre Aggression signalisiert möglicherweise einen Abschied von liberalen Vorstellungen zur Sicherung der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung. (. . .)
Wie lassen sich diese Zusammenhänge erklären, d.h. auf welchem gesellschaftlichen Hintergrund gedeihen die menschenfeindlichen Einstellungen und diskriminierenden Verhaltensweisen? (. . .) Drei zentrale Aspekte sind intensiv zu verfolgen. Zunächst geht es um die prekäre Teilhabe an materiellen und kulturellen Gütern sowie die unsicheren Chancen auf Anerkennung auf Grund der ausgeübten Tätigkeiten. Die Ergebnisse verweisen auf große Probleme. Mehr als 66 % schätzen die wirtschaftliche Lage in Deutschland als schlecht ein. Und für fast 30 % gilt dies für die eigene wirtschaftliche Lage. Hinzu kommt, dass sich mehr als 33 % in der sozialen Absicherung für die Zukunft schlecht ausgestattet fühlen.
Ein zweiter Blick muss auf die politische Partizipation und die moralische Anerkennung fallen, also in wieweit Sinnlosigkeit erfahren wird und Personen auf Grund von Ohnmachtserfahrungen keine ausreichende Realisierung von Grundnormen erleben. Dies bedeutet ein Verlust an moralischer Anerkennung. Für fast 57 % ist eine politische Einflussnahme als Bürger nicht möglich und 87 % vertreten die Auffassung, dass Reiche immer reicher und Arme immer ärmer werden. Immer mehr Menschen werden an den Rand gedrängt, so ist die Überzeugung von fast 78 %.
Schließlich geht es um den Lebensbereich des eigenen Milieus, die private Lebensführung und die dort mögliche emotionale Anerkennung. So notieren fast 43 %, dass sie gern mehr Personen in der Nähe hätten, die zu ihnen halten, auch wenn sie Fehler machen und fast 74 % vertreten die Auffassung, dass die sozialen Beziehungen immer labiler werden. (. . .)
Unsere Analysen lassen erwarten, dass eine Zunahme menschenfeindlicher Einstellungen und Verhaltensweisen davon abhängt, inwieweit immer mehr Menschen in unsichere Arbeits- und Lebensverhältnisse, politisches Ohnmachtsempfindungen und instabile emotionale Situatio-nen, kurz: in prekäre Anerkennungsverhältnisse geraten. (. . .)
Freitag, 8. November 2002
Wirbel um Zuwanderungsgesetz
Rot-Grün hält Karlsruher Urteil für offen / Richter üben Kritik
Von Pitt von Bebenburg
Das ungewisse Schicksal des rot-grünen Zuwanderungsgesetzes bereitet Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) Sorgen. In Berliner Koalitionskreisen gilt es aber als völlig offen, ob die Klage der Union gegen das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht Erfolg haben wird.
BERLIN, 7. November. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) hat die Bedeutung des Zuwanderungsgesetzes für die Integration hervorgehoben. Auf Presseberichte über ein angebliches Scheitern des Gesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht reagierte Thierse besorgt. Er wisse zwar nicht, wie Karlsruhe entscheiden werde. Bei einem Erfolg der Kläger habe er aber "Fantasie genug, mir vorzustellen, dass wieder der Streit beginnt und es vielleicht wieder zu einem emotionalisierten Wahlkampfthema wird", sagte Thierse.
Die Innenpolitiker von SPD und Grünen, Dieter Wiefelspütz und Volker Beck, wollten zu Spekulationen über das Urteil nicht Stellung nehmen. Die Bundesregierung wies Vorwürfe des bayerischen Staatsministers Erwin Huber (CSU) zurück, das Kanzleramt habe die Berichte über ein drohendes Nein aus Karlsruhe lanciert, um die Verfassungsrichter einzuschüchtern. "Das ist eine völlig absurde Anschuldigung", sagte ein Sprecher.
Mit dem Zuwanderungsgesetz, das von Januar an gelten soll, reformiert Rot-Grün die Integration von Ausländern und deren Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Im Bundesrat hatte es nur durch das umstrittene Abstimmungsverhalten Brandenburgs eine Mehrheit erhalten. Zwei Zeitungen hatten gemeldet, fünf der acht Richter wollten der Unionsklage gegen das Zustandekommen des Gesetzes stattgeben. Das Bundesverfassungsgericht sprach von einer "Fehlinformation". Bei Rot-Grün rechnet man nach Informationen der FR mit einer "engen Entscheidung". Danach könnte die Klage mit vier zu vier Richterstimmen abgewiesen oder mit fünf zu drei Stimmen gebilligt werden.
Der Deutsche Richterbund machte indirekt die Befürworter des Zuwanderungsgesetzes für die Spekulationen verantwortlich. Der Vorsitzende des Richterbundes, Geert Mackenroth, sagte: "Der Urheber dieser Ente versucht offenbar, Richter, von denen er eine nicht genehme Entscheidung befürchtet, unter Druck zu setzen."
Freitag, 8. November 2002
Rechtsrock im Rockerclub lässt Südwest-Ermittler rätseln
Bei konspirativem Skinhead-Konzert mischte Ex-Funktionär der verbotenen Neonazi-Gruppe "Blood & Honour" mit
Von Jürgen Maier (Mannheim)
Ein Skinhead-Konzert in einer Einrichtung von Mannheimer Rockern am vergangenen Wochenende stellt baden-württembergische Ermittler vor die Frage, wie eng Rocker und Rechte inzwischen zusammenarbeiten. Zu dem konspirativ organisierten Konzert kamen rund 400 Personen. Mobilisiert hatte unter anderem ein Ex-Aktivist der verbotenen Neonazi-Organisation "Blood & Honour". Die Polizei äußert sich nur zurückhaltend zu der Veranstaltung.
Samstagabend gegen 20 Uhr im Mannheimer Rheinau-Hafen: Am Clubhaus der Rockergruppe "Bandidos" geht es zu wie vor einer Diskothek. Rund 120 Autos aus ganz Süddeutschland und dem benachbarten Ausland treffen ein, die Besucher erwarten den Auftritt der baden-württembergischen Skin-Bands White Voice, Propaganda und Siegnum sowie die österreichische Gruppe Stoneheads. Die Ankündigungen per E-Mail hatte unter anderem Hartwin Kalmus verschickt, der auch den Internet-Versand "Ragnarök Records" betreibt. Kalmus war nach Auskunft des Stuttgarter Landesamtes für Verfassungsschutz der Vize-Sektionsleiter des rechten Neonazi-Netzwerks "Blood & Honour" (Blut und Ehre) Baden. Das Netz, das auch als Konzertveranstalter bekannt ist, ist seit September 2000 in Deutschland verboten. Als Gründer von B&H gilt der Sänger der Band "Skrewdriver", deren CDs Ragnarök im Internet anbietet.
Im Raum Heilbronn etabliert sich unterdessen die Organisation "Furchtlos & Treu" (F&T) als Partyveranstalter. Nach eigenen Angaben im Internet haben sich "Mitglieder der B&H-Sektion Württemberg und die Kameraden von White Youth Württemberg" zu F&T Württemberg zusammengeschlossen. Die Band Race War, die nach Auskunft des südwestdeutschen Verfassungsschutzes aus dem Ostalbkreis stammt, hat auf einer CD Titel wie "Hail Blood & Honour" und "Furchtlos & Treu" veröffentlicht.
Die Mannheimer Verbindung zwischen Neonazis und Rockern wirkt ungewöhnlich. Internationale Rockerbanden werden gelegentlich mit Drogengeschäften in Verbindung gebracht, auch bei den Bandidos vermutete das österreichische Innenministerium im Jahr 2000 entsprechende Aktivitäten. Skin-Bands dagegen verteufeln Drogenhandel in ihren Liedern. Die Bandidos werden außerdem im Internet als Unterstützer der "Biker gegen rechts" genannt.
Der Stuttgarter Verfassungsschutz jedenfalls gibt zu den "laufenden Entwicklungen" derzeit keine Einschätzung ab. Überschneidungen zwischen Rockern und Skins im Bereich persönlicher Kontakte habe es immer wieder gegeben, heißt es, eine Zusammenarbeit aber bisher nicht. Immerhin aber hatte im August der Pforzheimer Motorradclub "Gremium" zu einem Konzert mit der Hool-Band "Kategorie C" eingeladen, die unter Skinheads beliebt ist. "KC" ist für den 16. November auch in Mannheim angekündigt.
Sehr zurückhaltend verhielt sich jedenfalls die Mannheimer Polizei im Zusammenhang mit der Samstagabend-Veranstaltung im Bandidos-Clubheim. Zwar waren Zivilpolizisten vor Ort; ein Polizeisprecher sprach aber noch von einem "angeblichen Neonazi-Konzert", als in einem Internet-Forum bereits erste Szene-Berichte über das Konzert zu lesen waren. Denen zufolge sind alle vier angekündigten Bands auch aufgetreten. Zwei von ihnen, Propaganda und White Voice, stuft der Landesverfassungsschutz in seinem jüngsten Jahresbericht als rechtsextremistisch ein. Trotzdem gab es laut Mannheimer Polizei "zum Betreten der nicht öffentlichen, geschlossenen Veranstaltung" bei den Bandidos keine Rechtsgrundlage.