Montag, 2. Dezember 2002

Gegen Rechtsextremismus

Das Berliner Abgeordnetenhaus sucht Schüler bis 21 Jahre, die sich in Projekten, Initiativen, in Texten, Gedichten oder Songs gegen Rechtsextremismus engagieren. Am 27. Januar, dem Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus, werden alle Beiträge im Abgeordnetenhaus präsentiert. Anmeldung (Thema und Umfang) bis zum 13. Dezember an: Präsident des Abgeordnetenhauses, Walter Momper, Niederkirchnerstraße 5, 10111 Berlin. E-Mail: Walter.Momper@parlament-berlin.de

 

 

 

Montag, 2. Dezember 2002

Grundlos fast zu Tode geprügelt

20-Jähriger ermahnt drei jugendliche Randalierer - und wird brutal zusammengeschlagen und schwer verletzt

Von Tanja Kotlorz und Michael Behrendt

Schon wieder hat ein Berliner seine Zivilcourage fast mit dem Leben bezahlen müssen. Der 20-jährige Sven M. sah, wie drei jugendliche Randalierer in aller Ruhe gegen eine Hauswand urinierten. Er fragte sie: «Könnt ihr das nicht zu Hause machen?» Jetzt liegt Sven M. im Krankenhaus.

Sein Gesicht möchte Sven M. lieber nicht fotografieren lassen. Der 20-Jährige will vermeiden, dass ihm die Jugendlichen, die ihn in der Nacht zum Sonnabend fast umgebracht hätten, auch noch zuhause auflauern. Dabei ist der fast zwei Meter große Köpenicker kein ängstlicher Typ. Er sagt, wenn er etwas nicht okay findet.

Wie am Freitagabend. Da ging er gegen 22.15 Uhr mit einer Freundin auf der Breiten Straße durch Pankow. «Wir wollten zu Freunden zu einem Spieleabend gehen», erzählt er. Auf dem Weg dorthin sah er, wie drei Jugendliche gegen eine Hauswand urinierten. «Könnt ihr das nicht zu Hause machen?», fragte er die Jugendlichen im Vorbeigehen. Diese beschimpften Sven in übler Weise, so dass er sich umdrehte und sagte, dass seine Kritik kein Grund zum Ausrasten sei.

Doch genau das taten die Jugendlichen. Ohne Warnung prügelten sie auf den 20-Jährigen ein. «Einer trat mir gegen das Schienbein, zweimal bekam ich eine Flasche über den Kopf», beschreibt Sven. Die vollen Bierflaschen zersplitterten auf seinem Schädel. Blutüberströmt wurde er von einer Freundin in die Pankower Caritas-Kliniken «Maria Heimsuchung» gebracht.

Dort liegt er auf der chirurgischen Abteilung. Eine acht Zentimeter lange Schnittwunde an seinem Hals musste genäht werden. Zwei weitere Schnittwunden wurden versorgt, die Glassplitter entfernt. Sven M. hat eine Schädelprellung erlitten. Sein Kopf und seine Halswirbelsäule mussten geröntgt werden. Er hat viel Blut verloren und musste an den Tropf. Frühestens heute Abend darf er wieder nach Hause.

«Er hat noch Glück gehabt», sagt Oberarzt Wladimir Wilk. Wäre die Halsschlagader des mutigen Mannes durchtrennt worden, wäre er wohl nach zehn Minuten verblutet. Einem anderen couragierten Menschen ist es wohl zu verdanken, dass Sven M. überhaupt noch lebt. Denn ein Passant verhinderte schlimmere Ausschreitungen, indem es ihm gelang, einen der drei jugendlichen Schläger, den 15-jährigen Fabian H. aus Pankow, festzuhalten und der Polizei zu übergeben. Fabian H, eines von vier Kindern, wurde einem Haftrichter vorgeführt und in einer betreuten Jugendeinrichtung untergebracht.

Sven M. vermutet, dass die Jugendlichen aus der Sprayer-Szene kommen und betrunken waren. Aus den Wortgefechten habe er heraushören können, dass es zwei Brüder sind.

Es habe ihn geärgert, dass sie an die Hauswand urinierten. «So was muss ja nicht sein», sagt Sven. Doch niemals habe er geglaubt, dass er wegen seiner Kritik von «lauter Kindern» fast totgeprügelt werde.

Der Fall von Sven M. erinnert an eine Tat im Juli, als zwei 16-Jährige und ein 23-Jähriger in einer Straßenbahn einen 42-Jährigen mit Stiefeln ins Gesicht traten. Der 42-Jährige hatte sich eingemischt, als zwei der betrunkenen Täter einen Fahrgast verprügelten. Trotz ihrer Brutalität erhielten die Schläger keine Haftbefehle.

Das 42-jährige Opfer war in der vergangenen Woche vom Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit geehrt worden (siehe unten). Sven M. ist froh, dass ihm «nichts weiter passiert» sei. Seine Lehre hat er aus dem Fall indes schon gezogen. Zwar würde er in einer ähnlichen Situation wieder seine Meinung sagen. «Aber ich würde mit Sicherheit mehr Abstand halten.»

 

 

Sonntag, 1. Dezember 2002

Potzlow: Ein Dorf wird zur Festung

Potzlow - Das uckermärkische Dorf Potzlow glich gestern einer Festung. Herscharen von Polizisten, bis aus Berlin angereiste Demonstranten der linken Szene und einzelne versprengte Rechtsextreme bevölkerten das 600-Seelen-Dorf. Anlass: Eine Demonstration unter dem Motto «Potzlow ist überall - dem rechten Konsens entgegentreten». Sie ist eine Reaktion auf den Mord an dem Jugendlichen Marinus Schöberl, dessen Leiche Mitte November in einer Güllegrube in Potzlow gefunden worden war.

Die Kundgebung verlief friedlich, die Polizei sprach allerdings gegen zwei ortsbekannte Rechte Platzverweise aus. Die rund 150 Demonstranten kritisierten mit ihrer Aktion außerdem die ihrer Ansicht nach Rechtsextremisten-freundliche örtliche Jugendarbeit. Zudem gebe es in der Uckermark Diskriminierung von Flüchtlingen, Obdachlosen und Aussiedlern sowie «linker Jugendlicher». Am späten Nachmittag sollte es eine weitere Demonstration gegen Rechts im uckermärkischen Prenzlau geben.

Das Jugendzentrum im Potzlower Nachbardorf Strehlow toleriert nach Ansicht der «Antifa Aktion Berlin» Rechtsradikale und ist inzwischen zum Anlaufpunkt für Neonazis aus der gesamten Region geworden. Auch zwei der mutmaßlichen Mörder seien dort häufig gewesen, heißt es im Demonstrationsaufruf.

Der Leiter des Mobilen Beratungsteams Brandenburg, Wolfram Hülsemann, verteidigte hingegen die Arbeit des Jugendzentrums. Es sei zwar «offen für alle, die sich den Regeln des Hauses stellten, aber keine Anlaufstelle für rechtsextreme Jugendliche». In dem Haus hörten Jugendliche keine rechtsextrem Musik und trügen auch keine Kleidung mit verfassungsfeindlichen Symbolen. Die Mitarbeiter wahrten und gestalteten in «qualifizierter Weise» die demokratischen Werte.

Die Einwohner von Potzlow zeigten sich einerseits fasziniert von dem Spektakel in dem sonst ruhigen Dorf. Andererseits wehren sie sich dagegen, als «Brutstätte rechter Gewalt» abgestempelt zu werden.

 

 

Montag, 2. Dezember 2002

Zentralrat bestätigt Spiegel

Präsident und Stellvertreter einstimmig wieder gewählt

Berlin. Der alte Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland ist auch der neue. Paul Spiegel wurde am Sonntag in Berlin vom neunköpfigen Präsidium wieder gewählt. Der 64-jährige Inhaber einer Künstleragentur in Düsseldorf war der einzige Kandidat für das renommierte Ehrenamt und erhielt alle Stimmen. Spiegel wird damit vier weitere Jahre an der Spitze der 1950 gegründeten Organisation stehen. Der Zentralrat repräsentiert mehr als 90 000 Juden, die in Deutschland leben.

Als Spiegels Stellvertreter wurden der Frankfurter Anwalt Michel Friedman und die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in München, Charlotte Knobloch, ebenfalls einmütig wieder gewählt. Spiegel hatte vor seiner Wahl klar gemacht, dass er für eine zweite Amtszeit als Zentralratspräsident nur dann zur Verfügung stehe, wenn er erneut gemeinsam mit Friedman und Knobloch das Führungsteam bilden könne. Spiegel kündigte nach seiner Wahl an, er werde sich vor allem um die Integration der russischen Einwanderer in die 83 jüdischen Gemeinden in Deutschland kümmern. In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich die Mitgliederzahl der Gemeinden durch die Auswanderer aus Osteuropa von 30 000 auf fast 100 000 mehr als verdreifacht. Deren Eingliederung ist schwierig, weil sie zumeist keinerlei deutsche Sprachkenntnisse haben. Zudem sind sie mit den kulturellen und religiösen Inhalten des Judentums kaum vertraut.

„Wenn es uns gelingt, die Integrationsaufgabe so zu lösen, wie es die Betroffenen erwarten, stehen wir vor einer Renaissance des Judentums in Deutschland“, sagte Spiegel. Friedman wies aber darauf hin, dass es ein selbstbewusstes jüdisches Leben nur geben könne, wenn Antisemitismus nicht als Bestandteil der Gesellschaft hingenommen werde. „Wir müssen Judenfeindschaft auch in bürgerlichen Schichten eindeutig ächten“, sagte er mit Blick auf die Antisemitismusdebatte im Frühjahr.

 

 

 

Montag, 2. Dezember 2002

Antifa-Demo
wegen Potzlow

An einer friedlichen Demonstration linker Gruppen zum Gedenken an die Ermordung des Schülers Marinus S. haben am Samstag in Prenzlau (Uckermark) rund 200 Menschen teilgenommen. Dazu hatten unter dem Motto "Potzlow ist überall - Dem rechten Konsens entgegentreten" antifaschistische Gruppen aus Berlin und Brandenburg aufgerufen. Bei dem Marsch waren Transparente "Eure Ignoranz tötet" und "Nazis stoppen" gezeigt worden. Der 16-jährigen Marinus war brutal ermordet und kürzlich in einer ehemaligen Stallanlage entdeckt worden. Die drei als rechtsextrem eingestuften, mutmaßlichen Täter sitzen in Untersuchungshaft.

 

 

Montag, 2. Dezember 2002

Überfall auf Club

Bei einem Überfall auf einen Jugendclub in Teutschenthal in Sachsen-Anhalt sind Sonntagnacht mehrere Menschen verletzt worden. Nach MDR-Angaben stürmten etwa 30 Rechtsextreme gegen Mitternacht den Club. Es werde in diese Richtung ermittelt, sagte ein Polizeisprecher.

 

Montag, 2. Dezember 2002

 

Linke Gruppen demonstrieren in der Uckermark gegen Rechts - Rechtsextreme Plakate am Prenzlauer Bahnhof entdeckt


Potzlow/Prenzlau (ddp-lbg). Unter dem Motto «Potzlow ist überall - dem rechten Konsens entgegentreten» haben linksgerichtete Gruppen aus Berlin und Brandenburg am Samstag im uckermärkischen Potzlow und in Prenzlau friedlich gegen Rechtsextremismus demonstriert. Hintergrund war der Mord an dem 17-jährigen Jugendlichen Marinus Schöberl, dessen Leiche Mitte November in einer Güllegrube in Potzlow gefunden worden war. Der Junge war den Ermittlungen zufolge im Sommer von drei Männern im Alter zwischen 17 und 23 Jahren bestialisch gefoltert und anschließend getötet worden. Nach Polizeiangaben nahmen zirka 170 überwiegend junge Leute an den Protestveranstaltungen in Potzlow und Prenzlau teil. Die Veranstalter bezifferten die Zahl der Protestler auf 200 bis 300.

Die Demonstranten kritisierten mit ihren Aktionen auch die Arbeit des Jugendzentrums im Potzlower Nachbardorf Strehlow. Die Einrichtung toleriert nach Ansicht der «Antifaschistischen Aktion Berlin» Rechtsradikale und ist inzwischen zum Anlaufpunkt für Neonazis aus der gesamten Region geworden. Auch zwei der mutmaßlichen Mörder seien dort häufig gewesen, hieß es im Demonstrationsaufruf.

Der Leiter des Mobilen Beratungsteams Brandenburg, Wolfram Hülsemann, verteidigte hingegen die Arbeit des Treffs. Es sei zwar «offen für alle, die sich den Regeln des Hauses stellen, aber keine Anlaufstelle für rechtsextreme Jugendliche». In dem Haus hörten Jugendliche keine rechtsextreme Musik und trügen auch keine Kleidung mit verfassungsfeindlichen Symbolen. Die Mitarbeiter wahrten und gestalteten in «qualifizierter Weise» die demokratischen Werte.

Vor dem Jugendzentrum in Strehlow kritisierte eine Sprecherin der Antifa-Uckermark auch die Jugendpolitik des Landkreises Uckermark. Rechtsextrem orientierte Jugendliche würden auf Akzeptanz und Toleranz stoßen. In der Region zählte die Antifa-Gruppe in den vergangenen zwei Jahren 145 rechtsextreme Aktivitäten. In den vergangenen Jahren sei es zu «Dutzenden rechtsextremer Gewalttaten» gekommen. Die Sprecherin nannte auch Stadt- und Dorffeste, die für Ausländer und alternativ aussehende Jugendliche so genannte «No go areas» seien. «Und niemanden interessiert es», fügte die Sprecherin hinzu. In der Uckermark werde Flüchtlingen, Obdachlosen, Aussiedlern sowie «linke Jugendlichen» intolerant, misstrauisch wenn nicht gar feindlich begegnet.

Die Berliner und Brandenburger Initiatoren der Protestaktionen teilten mit, Flüchtlinge seien auf der Zugfahrt zur Demonstration nach Prenzlau angepöbelt worden. Die Polizei bestätigte dies jedoch nicht. Nach ihren Angaben waren über 100 Beamte bei den Protestkundgebungen im Einsatz. Zu Zusammenstößen zwischen linksgerichteten Demonstranten und Neonazis kam es nicht. In Potzlow erhielten zwei ortsbekannte Rechte Platzverweise. Die Beamten stellten einen Schlaghandschuh sicher. In Prenzlau nahm die Polizei eine Person aus dem rechtsextremen Spektrum vorläufig fest. Am Morgen waren nach Angaben eines Polizeisprechers Plakate mit rechtsextremem Inhalt am Bahnhof in Prenzlau angebracht worden. (Quellen: Hülsemann und Polizeisprecher auf Demonstration und am Sonntag zu ddp; Antifa-Sprecherin in Potzlow)

 

 

Montag, 2. Dezember 2002

Sächsische Zeitung

 

Courage wird geehrt
Netzwerk gegen Rechts mit Julius-Rumpf-Preis ausgezeichnet
Von Peter Hilbert

Das Netzwerk Sachsen gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit ist am Sonnabend mit dem diesjährigen Julius-Rumpf-Preis der Martin-Niemöller-Stiftung geehrt worden. Die Auszeichnung erinnert an den geradlinigen Pfarrer Julius Rumpf, der den Nationalsozialisten die Stirn geboten hat.

„Eine Demokratie geht nicht durch Extremisten zugrunde, sondern durch einen Mangel an Demokraten“, warnte der Präsident der Martin-Niemöller-Stiftung, Martin Stöhr, bei der Eröffnung der Auszeichnungsveranstaltung am Sonnabendvormittag im Dresdner Rathaus. Deshalb werde eine Initiative mit dem Julius-Rumpf-Preis geehrt, „die nicht aus Respekt vor Paragraphen, sondern um der Menschen und ihres Rechtes willen gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit couragiert auftritt“. Das Netzwerk setze die Brille der Verharmlosung gar nicht erst auf, sondern frage nach Ursachen von Gewalt und Fremdenfeindlichkeit – und vor allem: „Wie kann man sie durch Aufklärung und Respekt der Grundrechte, durch Abbau von Angst und Feindbildern überwinden?“

Die Initiative rede nicht nur von Demokratie, sondern lebe sie durch die Arbeit in Schulen, und Medien, Behörden und Kirchen, Jugend- und Elterngruppen. „So wird unsere Welt verwandelt“, sagte Stöhr.

Obwohl es unmodern sei, von Vorbildern zu sprechen, werden sie heute gebraucht, sagte Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth in ihrer Laudatio. Schließlich bräuchten die Menschen Orientierung. Als besondere Vorbilder nannte sie Netzwerk-Gründer Helmar-Leo Blech, der am Tag der Auszeichnung seinen 62. Geburtstag feierte, und Geschäftsführer Manfred Lindemann.

„Es hat einen hohen symbolischen Wert, diesen Preis als Gäste in dieser Stadt entgegennehmen zu dürfen“, sagte Netzwerk-Präsident Wolf Dähne. Denn Dresden und sein jüngeres Schicksal seien „Synonym für eine elend gescheiterte nationalsozialistische Hybris“. „Aber gerade im Umfeld dieser Stadt mit ihren anmutigen Landschaften sammeln sich Gruppen, die den Müll deutscher Geschichte recyceln möchten.“ Deshalb habe sich das Netzwerk gegründet. Wenn es dafür ein Leitziel gäbe, wäre es, sich als „Gegen“-Netzwerk überflüssig zu machen. Bis dahin sei aber noch viel zu tun. „Wachrütteln, aufklären, wirksame Bündnisse bilden und vernünftig handeln – das ist unser Ziel.“

 

 

 

Montag, 2. Dezember 2002

 

Die können »alles machen«

Brandenburg: Demonstrationen nach Ermordung von Marinus Schöberl durch Neonazis

Jochen Köhler

 

»Potzlow ist überall«, lautete das Motto der rund 200 Demonstranten, die sich am Samstag gegen Mittag auf dem Marktplatz des brandenburgischen Dorfes Potzlow versammelten. Mehrere antifaschistische Gruppen hatten zu der Kundgebung in dem Ort aufgerufen, in dem am 12. Juli Marinus Schöberl von drei Rechtsradikalen stundenlang gequält und dann brutal ermordet worden war. Erst am 16. November war die Leiche des 17jährigen, den die mutmaßlichen Täter in einer ehemaligen Jauchegrube verscharrt hatten, entdeckt worden (siehe junge Welt vom 25. 11.).

Anschließend zog der Protestzug in das benachbarte Strehlow vor das Jugendzentrum. Das war in die Kritik geraten, weil dort »akzeptierende Jugendarbeit« mit rechtsradikalen Jugendlichen betrieben werde. Zumindest einer der mutmaßlichen Mörder Schöberls hatte dort regelmäßig verkehrt. Eine Sprecherin der Antifa Uckermark kritisierte das »Mehrheitsklima von Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus« in der Region. Man verweigere eine Diskussion und ignoriere die rechtsextremen Ursachen des Mordes an Schöberl. Die Tat würde in Potzlow und Umgebung lediglich als »schrecklicher Einzelfall« dargestellt, »antisemitische Überzeugungen der Täter« würden ausgeblendet, erklärte die Aktivistin. Seit Jahren glichen sich die »naiven und gefährlichen« Versuche, »die Jungs von der Straße zu holen und mit ihnen zu reden«, wie es heiße, sagte die Sprecherin. Und weiter: Jugendpolitik bedeute in der Uckermark »kein Geld, keine Politik, keine antirassistische Bildung, keine Förderung emanzipatorischer Projekte«, statt dessen »Akzeptanz und Toleranz gegenüber Nazis«.

Einige Bewohner Potzlows äußerten gegenüber Pressevertretern ihren Unmut über den Protestmarsch. Man mache aus einem »Furz einen Elefanten«. Es gebe »keine rechtsextreme Jugendszene« in der Region. Zwar sei man »geschockt« über den Mord. Doch wären die Täter »gar keine richtigen Nazis«, sondern nur »Mitläufer«. Und das, obwohl im gesamten Ort eine vom Bürgermeister, dem Pfarrer und der Leiterin des Jugendzentrums unterschriebene Erklärung aushängt, in der es heißt: »Wir trauern um Marinus Schöberl, der bestialisch von Rechtsextremen ermordet wurde«.

Bereits am Vormittag hatte das Jugendzentrum gemeinsam mit dem Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, dem Mobilen Beratungsteam Brandenburg (MBT) und Potzlows Bürgermeister Peter Feike zu einer Pressekonferenz geladen, um sich gegen die »Diskreditierung« der Jugendarbeit durch »schlecht recherchierende Journalisten« und antifaschistische Gruppen zu wehren. Während Andreas Hillinger, Abteilungsleiter im Bildungsministerium, sich nicht »wagen« wollte, »den Mord in Zusammenhang mit Rechtsextremismus« zu sehen und »sicher« war, daß »keine rechtsextremistische Organisation« den Tätern »als Motiv« gedient habe, räumte MBT-Leiter Wolfram Hülsemann ein, daß Schöberls Mörder »von einem Milieu indiziert« sein könnten, in dem es »Legitimationsmuster für nichtdemokratische Strömungen« gebe. Gleichzeitig machte Hülsemann deutlich, daß »jeder, der von der Jugendarbeit eine Rettung der Situation« erwarte, »fehl« gehe. Man müsse Sozialisationsfaktoren wie Familie und Schule »im Blick« haben. Weiter sagte er, daß Jugendlichen »nur mit Akzeptanz« begegnet werden könne. Dies heiße aber nicht, daß »alles hingenommen« werde. Im Jugendzentrum habe es jedenfalls »keine verfassungsfeindlichen Kennzeichen« und »keine rechtsextreme Musik« gegeben, hob Hülsemann hervor.

Bürgermeister Feike erklärte, daß es »Wut« unter den Bürgern Potzlows gebe. Sie könnten mit dem »Medienrummel schwer umgehen« und würden nicht verstehen, warum sie jetzt in der Öffentlichkeit »in die rechte Ecke gedrängt« werden. Die Antifa-Demonstration würde im Ort als »Bedrohung« empfunden. Gegenüber junge Welt sagte Feike, daß man sich »bisher nicht bewußt« gewesen sei, welche »politischen Strömungen« in der Region existieren. Künftig müsse man sich mit dem Problem Rechtsextremismus »mehr auseinandersetzen«. Gleichzeitig forderte er von den Gemeinden »mehr Zivilcourage« ein. Bisher, so der Bürgermeister, hätte man »den Rechtsradikalen den Eindruck vermittelt«, sie könnten »alles machen«. Das liege aber auch daran, daß die Menschen Angst hätten, Straftäter anzuzeigen. »Es gibt keinen richtigen Schutz. Da wird dann einer eingesperrt, und wenn der wieder rauskommt, muß man mit Repressalien rechnen«, so Feike. Als Grund für rechtsextremistisches Gedankengut nannte er die miserable wirtschaftliche Lage. In einigen Ortschaften läge die Arbeitslosigkeit bei 80 Prozent. Von den Jüngeren seien die meisten weggezogen, dorthin, wo sie Arbeit oder Ausbildungsplätze gefunden hätten. »Diejenigen, die hier bleiben, haben keine Ausbildung und keine Arbeit. Das ist dann die besonders schwierige Klientel«, meinte Feike. Zudem »erschrecke« ihn, daß die Landesregierung »den Rotstift immer zuerst bei der Jugendarbeit« ansetze.

Am Nachmittag fuhren die Demonstranten mit Bussen in die Kreisstadt Prenzlau. Dort zogen sie mit weiteren Gruppen in einem neuerlichen Protestzug durch die Innenstadt. Wie ein Polizeisprecher mitteilte, sei es durch die Teilnehmer der Kundgebungen in Potzlow, Strehlow und Prenzlau zu »keinen Störungen oder Rechtsverstößen« gekommen. In Potzlow sprach die Polizei dagegen zwei bekannten Rechtsradikalen Platzverweise aus. In Prenzlau wurde ein Mann festgenommen, der dem Demonstrationszug mit »Sieg Heil«-Ruf und Hitler-Gruß begegnete. Nach Angaben der Antifa sind Angehörige der Flüchtlingsinitiative auf der Zugfahrt von Berlin zur Kundgebung nach Prenzlau von Rechtsradikalen angepöbelt und mit Bier übergossen worden.

 

 

 

Montag, 2. Dezember 2002

Vieles sieht wie Symbolpolitik und ein kurzes Strohfeuer aus

Eine Zwischenbilanz der Programme gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit / Von Benno Hafeneger, Roland Roth und Albert Scherr

Die Initiativen gegen Rechtsextremismus sind inzwischen zahlreich. Doch oft drängt sich der Eindruck auf, als sei vor allem viel Aktionismus gefragt, könne Fremdenfeindlichkeit mit etwas Engagement "ausgetrocknet" werden. Eine kritische "Erfolgs"-Bilanz des Programmes ziehen Benno Hafeneger (Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Marburg), Roland Roth (Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule Magdeburg) und Albert Scherr (Professor für Soziologie an der PH Freiburg). Wir dokumentieren ihre Analyse, die sich auf den Bericht für die Friedrich-Ebert-Stiftung ("Bürgernetzwerke gegen Rechts") und auf Ergebnisse einer Expertentagung stützt. Die Tagungsberichte erscheinen in Kürze in Buchform: Heinz Lynen von Berg / Roland Roth (Hg.): Programme und Maßnahmen gegen Rechtsextremismus wissenschaftlich begleitet; Verlag Leske + Budrich, Opladen.

I.

Programmvielfalt und Ausbau

Gegen Ende der 1990er Jahre zog die Problematik Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus kaum noch öffentliches und politisches Interesse auf sich, und die älteren Aktionsprogramme des Bundes und der Länder waren weitgehend eingestellt worden. Nach den Anschlägen im Sommer 2000 ist die Phase der Passivität überwunden. Es wurden mehrere Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit aufgelegt: das "Bündnis für Demokratie und Toleranz gegen Rechtsextremismus und Gewalt", das Aktionsprogramm "Jugend für Toleranz und Demokratie" (mit den Programmteilen "Maßnahmen gegen Gewalt und Rechtsextremismus", "Xenos" und "Civitas", dann "Entimon") und schließlich das Modellprogramm "Demokratie lernen und leben" der Bund-Länder-Kommission. Ihr Gesamtvolumen liegt bei mehr als 200 Millionen Euro, und die Zahl der damit geförderten Projekte liegt gegenwärtig bei ca. 3600. Die Zahl der geförderten Einzelmaßnahmen dürfte über 10 000 betragen.

Die Laufzeit der Programme reicht von einem bis zu drei Jahren. Eine EU-Finanzierung von Xenos ist voraussichtlich bis 2006 möglich, und für Entimon ist eine Verstetigung durch einen eigenen Haushaltstitel geplant. Neben diesen großen Aktionsprogrammen gibt es entsprechende Programmschwerpunkte in anderen Institutionen und Förderprogrammen des Bundes und der EU, so z. B. bei der Bundeszentrale für politische Bildung, im Rahmen des Kinder- und Jugendplans des Bundes, in der Gedenkstättenförderung und diverse Aussteigerprogramme. EU-Programme wie Sokrates, Leonardo und Jugend für Europa haben in diesem Jahr den Schwerpunkt "Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit". Darüber hinaus existieren zahlreiche Länderprogramme mit ähnlichen Zielsetzungen, und hinzu kommen in noch weit größerer Zahl kommunale Initiativen (die Kommunale Datenbank gegen Gewalt, Extremismus und Fremdenfeindlichkeit verzeichnet z. B. über 400 Einträge) sowie bürgerschaftliche Zusammenschlüsse und Initiativen gegen Rechtsextremismus. So verzeichnet die AG Netzwerke allein für die neuen Bundesländer 1608 Einträge von Initiativen und Projekten.

An Aktivitäten mangelt es gegenwärtig also nicht. Die Frage, wem diese nützen und was diese bewirken, ist damit jedoch noch nicht beantwortet. Insbesondere gilt es zu prüfen, ob es sich tatsächlich um aussichtsreiche Vorgehensweisen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus oder aber mehr um Instrumente einer symbolischen Politik handelt, deren Effekt zentral darin liegt, politische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren.

II.

Richtung und Ziele der Programme

Die in den Programmtexten formulierten Ziele geben zunächst die Grundausrichtung und Leitziele mit einem relativ niedrigen Konkretisierungsgrad an. So geht es um "die Stärkung der demokratischen Kultur bei jungen Menschen" und um "Jugend für Toleranz und Demokratie - gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus"; sie können unter der Überschrift "Stärkung der demokratischen Kultur in verschiedenen Dimensionen" zusammengefasst werden. In den Ausführungen zu den einzelnen Maßnahmebereichen der Programme werden Förderschwerpunkte markiert und ausgehend von den Leitzielen konkrete Teil- oder Handlungsziele formuliert. Dazu zählen Maßnahmen zur Initiierung von (kommunalem) Engagement und zur Entwicklung von nachhaltigen lokalen Handlungskonzepten in und für soziale Brennpunkte. Allen Programmen ist gemeinsam, dass sie

- auf die Stärkung bzw. Entwicklung demokratischer Kultur setzen,

- mit ihren Zielen und Schwerpunkten Raum für eine große Projekte- und Maßnahmenvielfalt eröffnen,

- politische Bildung als Schwerpunkt ausweisen und

- eine lokale Komponente haben, zu denen u. a. lokale Öffentlichkeit, Gemeinwesenarbeit, kommunale Kooperationsstrukturen, Vernetzung lokaler Akteure und Mobile Beratungsteams gehören.

Damit wird in allen Programmen eher auf eine Stärkung demokratischer Gegenkulturen als auf die direkte Auseinandersetzung mit fremdenfeindlichen und rechtsextremen Strukturen, Einstellungs- und Verhaltensweisen gesetzt. Darin und mit dem Schwerpunkt "politische Bildung" unterscheiden sich die aktuellen Programme deutlich vom sozialpädagogisch und pädagogisch-interaktiv geprägten AgAG-Programm der damaligen Bundesregierung in den Jahren 1992 bis 1996.

Zielgruppen sind (mit Ausnahme von Civitas) vorwiegend Kinder und Jugendliche und hier vor allem Sekundar- und BerufsschülerInnen. Weitere Zielgruppen sind Erwachsene, wenn sie als Multiplikatoren in der Jugendbildung und Erziehung tätig sind. In den Programmen Entimon und Xenos wurde der Adressatenkreis durch die gesonderte Benennung von MigrantInnen ergänzt. Civitas stellt insofern eine Besonderheit dar, weil hier ein zentrales Anliegen der Opfer- und Minderheitenschutz und die kommunale Integrationspolitik sind. Auch der Maßnahmebereich, der die Stärkung und Entwicklung zivilgesellschaftlicher und demokratischer Strukturen beinhaltet, zielt auf eine generationsübergreifende Zusammenarbeit verschiedener Akteure ab. Unter geschlechtsspezifischer Perspektive werden männliche Jugendliche als die problematische Zielgruppe definiert.

Alle Programme verfolgen in unterschiedlicher Intensität die Implementierung lokaler Projekte und Maßnahmen. Die Kriterien für die regionale Verteilung der Mittel und Maßnahmen sind jedoch nicht transparent, und der Mangel an Transparenz im Bewilligungsverfahren wird von vielen Projekten beklagt. Die Antragsverfahren der verschiedenen Programme stehen der direkten Beteiligung lokaler Initiativen ohne Zugehörigkeit zu einem großen Träger eher entgegen. Barrieren in der Projektteilnahme und -realisierung bilden u. a. die kurzfristige Ausschreibung, die späte Mittelvergabe (z. T. erst im Sommer/Herbst eines Förderjahres), gepaart mit der Anforderung, diese Mittel bis Jahresende abzurechnen, die erforderliche Kofinanzierung (Xenos, Entimon) sowie hohe Anforderungen an die vorbereitende Ausarbeitung der Anträge. Dies verschafft großen Verbänden und Organisationen, die über professionelle Antragsverfasser verfügen und informelle Zugänge zu Informationen verfügen, erhebliche Vorteile.

Festgehalten werden kann weiter: Es gibt gegenwärtig keinen systematischen und vollständigen Überblick über das gesamte Feld der staatlich geförderten Maßnahmen und Projekte sowie der bürgerschaftlichen Initiativen in diesem Themenfeld; gleichzeitig ist zu vermuten, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie eine solche Fülle von Initiativen gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit gegeben hat.

Zudem ist festzustellen: Eine wissenschaftliche Begleitung und Evaluation der Programme ist zwar vorhanden, aber insgesamt nur schwach institutionalisiert (nachträglich benannt, zudem wechselnd und kurzfristig), und ein wirklich ambitionierteres wissenschaftliches Begleitprogramm fehlt. Ebenso fehlt es an Mitteln für die Qualitätsentwicklung der Projekte, insbesondere die trägerübergreifende Qualifizierung der MitarbeiterInnen. Stattdessen stehen medienwirksame Events wie Wettbewerbe, Messen, Feste und "best practice"-Präsentationen im Vordergrund.

III.

Zehn bilanzierende Thesen

Die folgenden Thesen nehmen diese Defizitmarkierung auf und bieten mit Blick auf "alte" und "neue" Präventions- und Interventionskonzepte sowie die bisherigen Erfahrungen mit den großen Bundesprogrammen eine erste Bilanz an. Dabei ist die Absicht leitend, thematische, methodische und evaluative Anforderungen an zukünftige Programme und die Nachhaltigkeit von Maßnahmen gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit zu begründen.

Positive Aspekte:

1. Dass der "Aufstand der Anständigen" vom Sommer 2000 - neben vielen durchaus problematischen repressiven Strategien - zu einer Fülle von pädagogischen und zivilgesellschaftlich orientierten Programmen mit beachtlichem Mittelaufwand geführt hat, ist zunächst positiv zu bewerten. Der Anerkennungseffekt, der von solchen programmgestützten Thematisierungen ausgeht, war bis in "die Provinz" und "einzelne Schulen" zu spüren. Kaum ein Bürgermeister oder ein Schulleiter konnten sich dem Thema entziehen. Mit dem allmählichen Auslaufen der Programme ist aber die Gefahr verbunden, dass die alten Mechanismen der Verdrängung und Verleugnung wieder greifen werden oder sich gar die Illusion breit macht, als habe man mit den abgeschlossenen Programmen erfolgreich den Rechtsextremismus "bekämpft" und "ausgetrocknet".

2. Die zivilgesellschaftliche Orientierung der Programme, d. h. dass Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit eher als Problem der politischen Kultur und nicht auf der Ebene des abweichenden Verhaltens in einer bestimmten Lebensphase ("gewaltbereite Jugendliche") betrachtet wird, stellt eine programmatische Weiterentwicklung dar, die Anschluss zur wissenschaftlichen Debatte hält. Sie bricht mit der Täterfixierung und der (Sozial-)Pädagogisierung von Problemkonstellationen früherer Programme, indem sie auf die Stärkung demokratischer Gegenkräfte setzt und sich zudem den Opfern und potenziellen Opfern rechtsextremer Gewalt zuwendet; darüber hinaus werden "Sonderleistungen für Problemjugendliche" weitgehend vermieden, die vielfach falsche Signale aussenden.

3. An der Formulierung der Programme und ihrer Umsetzung waren bzw. sind zum Teil zivilgesellschaftliche und für das Themenfeld besonders ausgewiesene Initiativen beteiligt, die für mutige und ideenreiche Vorhaben (Aktivitäten) und eine praxisnahe Themen- und Methodenvielfalt gesorgt haben. Es ist den beteiligten Ministerien durchaus gelungen, zivilgesellschaftliche Akteure einzubinden und deren Infrastruktur und Kompetenzen zu nutzen. Sie sind vermutlich die eigentlichen Garanten dafür, dass von den Mitteln - in demokratie- und sozialisationspolitischer Perspektive - vernünftiger Gebrauch gemacht werden kann.

4. Positiv zu bewerten ist auch die große Fülle von zusätzlichen Initiativen, Projekten und Maßnahmen, die durch die Bundesprogramme in diesem gesellschaftlichen Problembereich ermöglicht worden sind bzw. noch werden. Sie sind regional breit gestreut und erreichen zahlreiche lokale Initiativen und z.T. auch kleine Träger; das gilt insbesondere für Projekte in Schulen, in der Jugend- und Sozialarbeit. Auch wenn die Nachhaltigkeit der Programme nicht gesichert ist, dürften einige dieser Ansätze das Ende der Förderungszeit überleben und die demokratische politische (Alltags-)Kultur bereichern.

Kritik und Forderungen:

1. Es gibt zahlreiche Anhaltspunkte für die These, dass die Programme eher in den Bereich der Symbolpolitik gehören, zumindest so zu enden drohen - viele der Maßnahmen könnten sich als kurzes Strohfeuer erweisen. Dies hat bereits mit ihrem Charakter als befristete Sonder- und Aktionsprogramme zu tun, die überwiegend nicht auf Dauer angelegt sind (nur für Entimon ist ein fester Haushaltstitel vorgesehen) und viel Aktionismus auslösen. Ein enger Zeithorizont verlangt schnelle Erfolge und vorzeigbare Ergebnisse, wie es sich aktuell in der Begeisterung für "good" und "best practice" (Beispiele) und deren Präsentation zeigt. Diese zeitliche Orientierung steht jedoch im Gegensatz zu den Erfordernissen von zivilgesellschaftlichen Interventionen und auch pädagogischen Prozessen, die auf Nachhaltigkeit setzen. Denn die politische Kultur kann nur längerfristig und behutsam verändert werden; vor allem die Beziehungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen erfordert Verlässlichkeit und personelle Kontinuität; lokale Netzwerke leben vom kontinuierlichen Engagement und benötigen nach allen Erfahrungen längere Anschubphasen, um sich zu festigen; die Förderung von zivilgesellschaftlichen Ansätzen stellt hohe Ansprüche an die Qualifikationen von MitarbeiterInnen und ist an deren dauerhafte Präsenz gebunden. Und letztlich ist nicht mit schnellen Erfolgen zu rechnen, weil alle ernst zu nehmenden Beobachter sich auch darin einig sind, dass wir es mit einem anhaltenden - und im "Aufschwung" befindlichen - Problem zu tun haben, dessen Gelegenheitsstrukturen gerade in den neuen Bundesländern auch in Zukunft "günstig" sein werden (anhaltendes West/Ost-Gefälle, EU-Osterweiterung, Abwanderung, Arbeitsmarktmisere politisch-kulturelle Mentalitäten etc.).

2. Im Unterschied zum vollmundigen Bekenntnis zu Evaluation und Wirkungskontrolle - so zu lesen im umfänglichen Bericht der Bundesregierung vom Mai 2002 - hegen nicht nur wissenschaftliche Beobachter den Verdacht, dass die de facto marginale Bedeutung der Evaluation innerhalb dieser Programme mit dem fehlenden Interesse seitens der Politik an seriöser Evaluation zu begründen ist. Auf die Erfahrungen mit der Evaluation des AgAG-Programms wurde konzeptionell ebenso wenig zurückgegriffen wie auf die reichen Evaluationserfahrungen mit ähnlich gerichteten Programmelementen in den USA. Ein "Evaluierungsvakuum" kann dazu führen, dass einzelne Projekte ohne nachvollziehbare Standards als "good" oder "best practice" ausgewiesen werden. Es drängt sich der Verdacht auf, dass man scheinbar nicht wirklich so genau wissen will, wie die Programme mit ihren Chancen und Grenzen wirken. Immer dann, wenn bislang wenigstens ansatzweise versucht worden ist, Projekte und Maßnahmen eingehender zu analysieren, wurden massive Probleme sichtbar - so wurden Zielgruppen nicht erreicht oder es fehlte an deren Partizipationsmöglichkeiten.

3. Unverkennbar sind einige konzeptionelle Schwächen und Fallstricke der Programme - auf fünf soll hier hingewiesen werden: Der Schwerpunkt politische Bildung führt unter der Hand erstens die zentrale Zielgruppe junge Menschen wieder ein, obwohl sie schon biografisch bedingt den geringsten Anteil an der Verfassung der lokalen Zivilgesellschaft haben. Wie man Erwachsene und ältere Menschen im Kontext lebenslangen Lernens einbeziehen will, bleibt konzeptionell weitgehend unbelichtet. Sosehr die Überwindung der Fixierung auf die Zielgruppe "gewaltbereite Jugendliche" zu begrüßen ist, so problematisch ist zweitens deren fast vollständige Vernachlässigung in den gegenwärtigen Programmen. Dies ist umso überraschender, weil die breite Auseinandersetzung mit den AgAG-Erfahrungen die professionellen Standards (auch mit ihren Grenzziehungen) für die Arbeit mit dieser Zielgruppe gefestigt hat. Wir wissen heute mehr über die Eigenlogik pädagogischer Prozesse und auch genauer, unter welchen Bedingungen professionelle Zugänge und Ansätze "akzeptierender Arbeit" sinnvoll sind.

Es ist drittens fraglich, ob mit den Maßnahmen auch Jugendliche aus unteren Bildungsschichten (Haupt- und Sonderschüler) erreicht werden. Weil in den meisten empirischen Studien diese Gruppe aber als besonders anfällig für Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus hervorgehoben wird, ist es umso verwunderlicher, dass hier nicht deutlich konzeptionell und förderungspolitisch gegengesteuert wurde.

Pädagogik ist viertens eine bescheidene Profession und stark von Lernkontexten abhängig. Hier liegt eine zentrale Paradoxie pädagogischer Interventionsstrategien, denn sie reichen nicht nur nicht an die wesentlichen Problemursachen heran, sondern stehen zudem vor der Schwierigkeit, gegen kollektive Ängste, Vorurteile und Feindbilder in der Gesellschaft anzugehen, die auch im demokratischen politischen Diskurs immer wieder Rückhalt finden - wie z. B. die Debatten über Einwanderung, Asylrecht oder doppelte Staatsbürgerschaft verdeutlichen. Auch in der "politischen Mitte" gibt es keinen Konsens über das Leitbild einer kulturell pluralisierten Einwanderungsgesellschaft. Schließlich fehlen fünftens in den Programmen auch Hinweise auf angemessene Formen und ethisch-professionelle Standards, die den Rahmen der legitimen Interventionen in die lokale Zivilgesellschaft bzw. politische Kultur abstecken oder zumindest diskutierbar machen.

4. Obwohl programmatisch vorgesehen, fehlt es weitgehend an konzeptionellen und personellen Grundlagen, um die gewünschten "integrierten lokalen Handlungsstrategien" in Richtung kommunale Kooperationsstrukturen zu entwickeln und umzusetzen. Es dominiert unserer Wahrnehmung nach vor Ort weitgehend ein unverbundenes Nebeneinander unterschiedlicher Maßnahmen und Akteure, eine gezielte Verknüpfung von einzelnen Maßnahmen und eine Vernetzung der beteiligten Akteure gibt es kaum. Damit kann mit Nachhaltigkeit und Kontinuität allenfalls in Ansätzen und eher punktuell gerechnet werden. Selbst dort, wo eine regionale Konzentration von Maßnahmen auf Problemgebiete vorgenommen wurde, wie bei dem Programmteil "Lokale Aktionspläne für Toleranz und Demokratie", der für 59 Gebiete lokale Handlungskonzepte ausweist, dominiert eher ein instabiles Nebeneinander. Für stabilere Netzwerke fehlt es gerade in den Problemregionen oft an dauerhaften institutionellen Grundlagen.

5. Geradezu fahrlässig ist die fehlende konzeptionelle Berücksichtigung der besonderen Bedingungen in Ostdeutschland. Dies wird besonders in der Evaluation des ausschließlich für die neuen Länder konzipierten Programmteils Civitas deutlich. Die problematische Unterstellung von demokratischer Mehrheitskultur und rechtsextremer Minderheit - ein Gefälle, von dem der pädagogische Schwung vieler Maßnahmen lebt - versagt hier besonders im Jugendbereich. Es gibt Orte und Stadtteile in Ostdeutschland, in denen eine (konsolidierte) rechte bzw. rechtsextreme Jugendszene die dominierende, gelegentlich sogar die einzige und zur Normalität gewordene Jugendkultur darstellt.

Das kaum mehr bestrittene Ost/West-Gefälle in nahezu allen Dimensionen des Rechtsextremismus und der Fremdenfeindlichkeit verlangt spezifische Überlegungen und Ansätze. Dies gilt besonders für zivilgesellschaftliche Ansätze und Strukturen (Vereine, Initiativen etc.), die in den östlichen Bundesländern deutlich schwächer und in ihrer demokratischen Grundorientierung keineswegs garantiert und gefestigt sind. Das gilt häufig auch für die tragenden Institutionen der örtlichen Gemeinschaft, wie z. B. Gemeindeverwaltungen oder Schulen. Damit fehlt vielfach der lokale Resonanzboden für langfristige Prävention ebenso wie für kurzfristige Interventionen. Auf das Dilemma einer schwachen Zivilgesellschaft haben einige der ostdeutschen Länder mit eigenen Programmen zu deren Stärkung reagiert (z. B. RAA in Brandenburg, Miteinander e. V. in Sachsen-Anhalt). Geht man die bewilligten Maßnahmen durch, dann stößt man auf Bildungsangebote, die unter den beschriebenen Bedingungen wenig Aussicht auf nachhaltige Wirkung und Kontinuität haben. So wichtig Informationen über den historischen Faschismus oder Gedenkstättenbesuche sind, so greifen sie doch häufig ins Leere, weil sie dem "modernen" und "normalisierten" Rechtsextremismus nicht gerecht werden.

Besondere Schwierigkeiten haben weiter alle Versuche, interkulturelle Projekte und Orientierungen zu stärken. Von wenigen Städten abgesehen, gibt es in den neuen Bundesländern bei 1,6 % Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung häufig keine anderen - als die monokulturellen - Kulturen im Alltag. Es muss zudem mit einem gegenteiligen Effekt gerechnet werden, da fachlich unzureichend fundierte interkulturelle Projekte in der Gefahr stehen, Stereotypen und Vorurteile eher zu verstärken, als sie abzubauen. Auch die Akzeptanz der Programme insgesamt ist fraglich, weil sie in den neuen Ländern nicht selten auf ein wenig förderliches lokales politisch-kulturelles Klima treffen. Die hohe Zahl der Gewalttaten von rechtsextremen Propagandadelikten und das Festhalten an völkischen, monokulturellen Ideologien in Teilen der Erwachsenengesellschaft sind vielfach mit dem öffentlichen Bewusstsein und Haltungen bei Entscheidungsträgern verknüpft, den Rechtsextremismus zu bagatellisieren oder geradezu naiv zu pädagogisieren. Dabei besteht die Gefahr, dass die Initiativen und Projekte, die dieses Bild einer vermeintlich unproblematischen Normalität stören und auf Thematisierung drängen, selbst in Misskredit geraten und denunziert werden.

6. Nicht zuletzt diese Hinweise auf besondere Schwierigkeiten und Konstellationen hätten ein experimentelleres Programmdesign erfordert, das einerseits auf eine "Kultur der Evaluation", auf Qualitätsentwicklung, Beratung und Weiterbildung der MitarbeiterInnen setzt und andererseits die Projekte als Fundus für neue Erfahrungen, als Feldarbeit mit einem sehr veränderlichen Objekt nutzt. Diese Chance ist zum Schaden von Wissenschaft und Praxis zunächst vertan. Dringlich ist deshalb ein Theorie-Praxis-Dialog, in dem evaluative Anforderungen und Erfordernisse der Qualitätsentwicklung geklärt werden. Nur so wird es möglich sein, verlässliche Informationen über die Wirksamkeit und Reichweite, über Erfolg und Nachhaltigkeit von Programmen zu erhalten und auf dieser Grundlage fundierte politische und pädagogische Folgerungen für künftige Förderprogramme zu ziehen.

 

 

 

 

Montag, 2. Dezember 2002

Spiegel bleibt Zentralratspräsident

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, bleibt weitere drei Jahre im Amt. Gemeinsam mit seinen Stellvertretern Michel Friedmann und Charlotte Knobloch ist Spiegel einstimmig wiedergewählt worden.

Berlin/Düsseldorf - Der am 31. Dezember 1937 in Warendorf geborene Spiegel hatte das Amt nach dem Tod von Ignatz Bubis im Januar 2000 übernommen. Von Anfang an hat er sich nicht nur zum Kampf gegen Rechtsextremismus bekannt, sondern auch vor Rechtspopulismus gewarnt, etwa im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um den FDP-Politiker Jürgen Möllemann.

Die inzwischen 83 jüdischen Gemeinden in Deutschland zählen wieder rund 100.000 Mitglieder. Erst Mitte November hat die Bundesregierung ihre Fördermittel für den Zentralrat der Juden auf drei Millionen Euro aufgestockt. Der Zentralratsvorsitzende kündigte die Ausbildung von geistlichem Nachwuchs für die Führung der jüdischen Gemeinden an, die derzeit nur über 30 Rabbiner verfügen.

Spiegel stammt aus einem eher traditionell religiösen, bürgerlichen Elternhaus. Die Familie floh 1939 vor dem Naziterror nach Belgien. Sein Vater überlebte mehrere Konzentrationslager und kehrte nach Ende des Zweiten Weltkrieges in die alte Heimatstadt Warendorf im Münsterland zurück. Spiegels von den Nazis 1942 verschleppte ältere Schwester Rosa blieb verschollen. Ihre Spuren verloren sich im Konzentrationslager Bergen-Belsen.

Spiegel, der seit 1986 eine internationale Künstleragentur in Düsseldorf leitet, war vor seiner ersten Wahl zum Präsidenten des Zentralrats sieben Jahre lang einer der beiden Stellvertreter. Nach dem Abitur lernte er bei der "Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung" das journalistische Handwerk und arbeitete als Redakteur. Seit 1964 ist er verheiratet und hat mit seiner Frau Giselle zwei Töchter.

Einsatz auch für Flüchtlinge und Aussiedler

Spiegel warnte in öffentlichen Stellungnahmen seit seiner ersten Wahl angesichts der Zunahme rechtsextremer Gewalttaten in Deutschland und fremdenfeindlichen Übergriffen vor der Gleichgültigkeit und stummen Zustimmung zur Gewalt der Rechten. Dazu hatte er mehrfach betont, der Zentralrat werde sich nicht nur für Juden, sondern auch für Flüchtlinge, Aussiedler und andere benachteiligte Minderheiten einsetzen.

Große Aufmerksamkeit erregte Spiegel am 9. November 2000 auf einer Kundgebung vor dem Brandenburger Tor in Berlin aus Anlass des Jahrestags der Pogromnacht 1938. Er forderte damals "deutliche Signale, dass die nichtjüdische Bevölkerung in ihrer Mehrheit uns und unsere jüdischen Gemeinden in diesem Land haben wollen".

Bundeskanzler Gerhard Schröder gratulierte Spiegel zu dessen Wiederwahl. "Sie haben sich durch Ihr unermüdliches persönliches Engagement für das jüdische Leben und die jüdische Gemeinschaft großes Vertrauen erworben", schrieb Schröder in einem am Sonntag in Berlin veröffentlichten Brief an Spiegel. Dieser setze "sich ein für die demokratische Kultur in Deutschland und für ein tolerantes und offenes Miteinander in unserer Gesellschaft".