Freitag, 6. Dezember 2002

Demo von Rechtsextremen wird nicht verboten

Die Sicherheitsbehörden werden eine während des Staatsbesuchs von Israels Präsident Mosche Katzav geplante Demonstration von Rechtsextremen in Berlin nicht verbieten. "Ein vollständiges Verbot kommt aus versammlungsrechtlichen Gründen nicht in Betracht", sagte Innensenator Ehrhart Körting (SPD) gestern. Es werde aber alles daran gesetzt, die Demonstranten am kommenden Montag nicht in die Nähe des Staatsgastes zu lassen. Katzav kommt von Sonntag bis Dienstag nach Deutschland. Die Demonstration ist unter dem Motto "Hände weg von Palästina. Keine Waffen für Israel" angemeldet worden.

 

 

 

Freitag, 6. Dezember 2002

Leichsenring kündigt ihren Rücktritt an

Differenzen über Arbeit als Extremismus-Beauftragte

POTSDAM. Brandenburgs Landesbeauftragte für Extremismus, Uta Leichsenring, gibt ihr Amt auf. Dies habe sie am Donnerstag bei einem Gespräch mit dem zuständigen Staatssekretär Frank Szymanski mitgeteilt, bestätigte das Bildungsministerium am Abend in Potsdam. Eine mögliche Entlassung sei in keiner Weise ein Thema des Gesprächs gewesen.

Nach Angaben des Ministeriums begründete Leichsenring ihren Rücktritt mit "unterschiedlichen Auffassungen über die Arbeitsstruktur und Rahmenbedingungen" für ihre Aufgabe. "Im Bewusstsein dieser Aufgabe mache ich das Angebot der Aufhebung des Arbeitsverhältnisses", sagte Leichsenring nach Ministeriumsangaben. In den vergangenen Wochen hatte Leichsenring bereits mit Ministerpräsident Matthias Platzeck und Bildungsminister Steffen Reiche (beide SPD) Gespräche geführt.

Uta Leichsenring, die keiner Partei angehört, hatte ihr Amt erst im Juli dieses Jahres offiziell angetreten, war jedoch nur zwei Wochen danach im Dienst. Seitdem ist sie krank geschrieben. Staatssekretär Szymanski sagte am Abend, er habe Hochachtung für die Entscheidung von Frau Leichsenring. Er bedaure es sehr, dass sie diese Entscheidung "jetzt so treffen musste".

Die 54-jährige Leichsenring war zwischen 1990 und 2002 zwölf Jahre lang Präsidentin des Polizeipräsidiums Eberswalde. Dort hatte sie sich mit engagiertem Eintreten gegen Rechtsextremismus bundesweit einen Namen gemacht. Mehrfach wurde sie dafür ausgezeichnet. Im Frühjahr dieses Jahres stand sie im Verdacht, in einen Korruptionsfall in ihrer Behörde verwickelt zu sein. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft lieferten dafür aber keine Beweise.

Nach der Polizeireform in Brandenburg, bei der die ursprünglich fünf Präsidien zu nur noch zwei Präsidiumsbereichen in Potsdam und Frankfurt (Oder) verschmolzen, war für Leichsenring kein Platz mehr im Polizeidienst. Das Verhältnis zwischen ihr und Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) gilt als gespannt. Nach langem Hin und Her wurde die Stelle der Extremismusbeauftragten, die beim Bildungsministerium angesiedelt ist, extra für sie geschaffen. Im Gespräch war auch ein Landratsposten in der Uckermark.

Angaben über eine mögliche Nachfolge machte das Ministerium nicht. Auch Details über die inhaltlichen Differenzen zwischen Leichsenring und der Landesregierung wurden nicht genannt.

 

 

Freitag, 6. Dezember 2002

 

Hülsemann: Freizeitclubs müssen für alle Jugendlichen offen bleiben


Potsdam/Berlin (ddp-lbg). Rechtsradikale Jugendliche dürfen nach Auffassung des Mobilen Beratungsteams Brandenburg nicht prinzipiell aus Jugendklubs ausgeschlossen werden. Aber bei Regel- oder Gesetzesverstößen müssten Konsequenzen gezogen werden, sagte Leiter Wolfram Hülsemann der Nachrichtenagentur ddp in Berlin. Wird ein Jugendclub beispielsweise zu einem «Umschlagsplatz» für rechtsextreme Propaganda oder Musik, sei eine «klare Ausgrenzung» der Betreffenden notwendig. Dazu zähle ein zeitweiliges oder komplettes Clubverbot. Dies werde auch praktiziert, betonte Hülsemann. Ein Jugendclubleiter könne jedoch keine Gesinnung bestrafen und Jugendliche auf Verdacht ausschließen.

Im uckermärkischen Potzlow war Mitte des Jahres ein Jugendlicher brutal misshandelt und ermordet worden, angeblich weil er eine weite Hiphop-Hose trug und blondierte Haare hatte. Einer der Täter verkehrte im Jugendclub der benachbarten Gemeinde Strehlow.

Laut Hülsemann geht es bei der Jugendarbeit auch darum, rechtsextrem orientierte Jugendliche mit ihrem menschenfeindlichen und antisemitischen Verhalten zu konfrontieren und sie zu einer Abkehr davon zu bewegen. Gelinge das nicht, grenzten sich die Jugendlichen selbst aus und müssten gegebenenfalls die Freizeiteinrichtung verlassen, betonte Hülsemann. Die «demokratisch verantwortete Jugendarbeit» setze voraus, dass der Jugendclubleiter mit einem «hohen Maß an Empathie» die Gefährdung Jugendlicher durch rechtsextreme Ideologien herausfinde und darauf reagiere. Für diese Vorgehensweise wachse das Verständnis bei den zuständigen Fachleuten in Brandenburg.

Hülsemann hob hervor, die Jugendarbeit habe in den vergangenen Jahren mit dazu beigetragen, dass sich fremdenfeindliche und intolerante Einstellungen bei Jugendlichen nicht noch weiter verbreitet hätten. Dennoch seien immer noch mehr als 20 Prozent der Jugendlichen rechtsextrem orientiert. Diese Zahl schwanke allerdings von Region zu Region. Aus der Jugendarbeit seien Gruppen hervorgegangen, die sich aktiv mit rechten Parolen und deren Befürworten auseinander setzten.

Das Mobile Beratungsteam Brandenburg bietet nach eigenen Angaben «Hilfe zur Selbsthilfe» für Menschen, die etwas gegen Rechtsextremismus tun wollen. Es hält Kontakt zu Jugendgruppen, Vereinen und Verbänden, den Kirchen, den öffentlichen Verwaltungen und der Politik.

 

 

Freitag, 6. Dezember 2002

Lehrer war bereits als Extremist bekannt

Ministerium: kein V-Mann des Geheimdienstes

Schwerin (vo) Der Neuklosteraner Gymnasiallehrer Guido S., der sich wegen Beihilfe zur schweren Brandstiftung gegen einen Asia-Imbiss in Untersuchungshaft befindet, ist bereits früher wegen rechtsextremer Aktivitäten aufgefallen. Wie unsere Zeitung aus Geheimdienstquellen erfuhr, wird der 36-Jährige seit längerem im Nachrichtendienstlichen Erkennungssystem (NADIS) des Verfassungsschutzes geführt. Den Informationen zufolge soll der Musiklehrer früher in Krefeld als Aktivist der DVU ins Visier des Verfassungsschutzes von Nordrhein-Westfalen geraten sein.

Eine Anwerbung oder Zusammenarbeit zwischen Guido S. und dem Düsseldorfer Geheimdienst hat es aber offensichtlich nicht gegeben. "Wir betonen, dass Herr S. zu keinem Zeitpunkt als Quelle oder Vertrauensperson für unseren Verfassungsschutz gearbeitet hat", bestätigte ein Sprecher des Innenministeriums in Düsseldorf auf Anfrage.

Das Schweriner Bildungsministerium wusste bei der Einstellung von Guido S. in den Schuldienst des Landes vor eineinhalb Jahren offenbar nichts von dessen politischer Vergangenheit. "Das polizeiliche Führungszeugnis war in Ordnung, weitere Gründe gegen eine Einstellung waren nicht ersichtlich", so eine Ministeriumssprecherin.

Dem Lehrer wird vorgeworfen, zwei 18-Jährige im November zu einem Brandanschlag auf einen vietnamesischen Imbiss in Wismar geholfen zu haben (wir berichteten). Bei der Durchsuchung der Wohnung wurden ein Hitler-Porträt, eine Hakenkreuzfahne und rechtsextreme Schriften gefunden

 

 

Freitag, 6. Dezember 2002

Neues Deutschland

Wieder droht Neonazi-Demo durch das Tor
Rechtsextremisten planen für Montag antiisraelischen Aufmarsch/PDS ruft zur Zivil-Courage auf 
 
Von Rainer Funke 
 
Einsatzberatungen, Gullydeckel-Procedere entlang geheimer Fahrtrouten, also die Prüfung dessen, was sich darunter befindet, sowie die anschließende Versiegelung, dazu Vorbereitungen für Absperrungen von Straßen – die Polizei ist derzeit mit den üblichen Vorkehrungen für einen hochrangigen Staatsbesuch befasst.
Denn am Montag besucht Israels Präsident Moshe Karsav die Stadt und die nähere Region. Ab Sonntag herrscht deshalb die Sicherheitsstufe 1. Vor allem weiträumig um das Hotel »Interconti« in der Budapester Straße, wo der Gast dem Vernehmen nach übernachtet, dürfte es deshalb zu Staus und verschärften Personenkontrollen kommen. Jüdische und US-amerikanische Einrichtungen würden aber nicht verstärkt überwacht, so ein Polizeisprecher. Ihnen gelte ohnehin höchste Aufmerksamkeit.
Wie ND in der gestrigen Ausgabe informierte, hat nach Auskunft des Sprechers die NPD eine Demonstration angemeldet, auf der 200 Neonazis durch die City marschieren wollen. Vorwiegend soll es sich um Parteimitglieder sowie Angehörige von Berliner und Brandenburger »Kameradschaften« handeln, darunter die zuletzt sehr aktive »Kameradschaft Tor«. Das Motto: »Hände weg von Palästina. Keine Waffen für Israel«.
Der Marsch wird, wie zu erfahren war, zwischen 17 und 22 Uhr vom Bahnhof Friedrichstraße, Unter den Linden über den Pariser Platz, die Straße des 17. Juni, die Entlastungsstraße, die Hofjägerallee, die Budapester Straße zum Bahnhof Zoo führen. Erstmals seit der Neueröffnung des Brandenburger Tores am 3. Oktober d.J. nach seiner Sanierung käme es womöglich zu einem Neonazi-Aufmarsch durch Berlins markantestes Symbol. Zwischendurch will man entlang der Route mehrere Kundgebungen abgehalten, etwa am so genannten Antreteplatz, auf dem Pariser Platz, vor dem »Interconti« sowie am Zoo.
Am gestrigen Nachmittag gab es Gespräche zwischen der polizeilichen Versammlungsbehörde und den Veranstaltern. Gegenstand war eine veränderte Route sowie Auflagen für den Aufmarsch. Zwar werde es laut Innensenator Ehrhart Körting (SPD) aufgrund des Versammlungsrechtes zu keinem vollständigen Verbot des rechtsextremistischen Aufzuges kommen. Die Innenverwaltung werde aber alles daran setzen, dass die Neonazis nicht in die Nähe des Staatsgastes geraten können.
Marion Seelig, innenpolitische Sprecherin der PDS im Abgeordnetenhaus, geht davon aus, dass ein Aufzug an den konkreten Orten nicht genehmigt wird. Mit dem aktuellen politischen Zusammenhang und der hohen Sicherheitsstufe hätten die Behörden eine entsprechende Handhabe. Ansonsten werde man sich der Neonazi-Demo »in den Weg stellen«. Einzelheiten würden aber noch erörtert, so Seelig.
Wie PDS-Sprecher Axel Hildebrandt inzwischen bekannt gab, rufe die Berliner PDS zur Zivil-Courage gegen den Nazi-Aufmarsch auf. Gegen-Kundgebungen sind am Montag für 16.30 Uhr u.a. in der Dorotheen-/Ecke Friedrichstraße und in der Friedrichstraße/Höhe Tränenpalast geplant. Weitere Protestaktionen wurden von verschiedenen Antifa-Gruppen angekündigt. Der Polizei war aber gestern Nachmittag zunächst nur eine Anmeldung bekannt.
Inzwischen mehren sich erneut Stimmen, wonach an ausgewählten historischen Orten mit Symbolcharakter perfide neonazistische Selbstdarstellungen durch entsprechende Gesetzesänderungen oder Klarstellungen im Gesetzeswerk unterbunden werden sollen.
Wie beispielsweise GdP-Bundeschef Konrad Freiberg gegenüber einer Zeitung sagte, würde es bei der Polizei »als unerträgliche Belastung« empfunden, »immer wieder die von Gerichten genehmigten braunen Aufmärsche an Stätten zu schützen, die gerade an die Überwindung des Naziterrors gemahnen sollen«. Dem grundgesetzlich verbrieften Demonstrationsrecht wäre kein Abbruch getan, wenn an bestimmten, geschichtlich belasteten Orten oder Mahnmalen keine Demonstrationen rechtsextremistischer Gruppierungen stattfinden könnten, meinte Freiberg.

 

 

Freitag, 6. Dezember 2002

Neues Deutschland

Was ausloten?
Eingeschränktes Versammlungsrecht 
 
Von Claus Dümde 
 
Schon im Vorfeld der Konferenz der Innenminister von Bund und Ländern hatte Brandenburgs Ressortchef Schönbohm wieder mal eine Einschränkung des Versammlungsrechts gefordert. Der CDU-Politiker dürfte damit durchaus auf Sympathien treffen, denn er begründete den Vorstoß damit, so könnten vor allem Aufmärsche von Neonazis an symbolträchtigen Tagen und Orten verhindert werden. Man müsse das Grundgesetz gar nicht ändern, wenn die Grenzen des Versammlungsrechts »genau ausgelotet« würden.
Das klingt gut. Nur: Genau darum haben sich seit Jahren nicht nur Ordnungsämter und Rechts-Anwälte, sondern auch Gerichte aller Instanzen bemüht. Und die letzte in Karlsruhe hat in jüngster Zeit Verbote von Neonazi-Aufmärschen und -Kundgebungen zumeist wieder aufgehoben. Dabei beriefen sich die Bundesverfassungsrichter nicht nur auf die durch die Artikel 5 und 8 Grundgesetz garantierte Meinungs- und Versammlungsfreiheit, sondern im Falle der NPD auch auf das Parteienprivileg: Um der politischen Freiheit willen müsse bis zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit eine derartige Tätigkeit in Kauf genommen werden.
Angesichts dessen wirkt die Absicht, das Versammlungsrecht durch einfaches Gesetz oder Verwaltungsvorschriften einzuschränken, weltfremd. Oder geht’s etwa gar nicht in erster Linie um Neonazis, die sich die NPD zu Nutze machen können?

 

 

Freitag, 6. Dezember 2002

 

Die NPD will »solidarisch mit Palästinensern« durch Berlin marschieren

 

Am kommenden Montag besucht der israelische Staatspräsident Moshe Katsav Berlin. Für Montag und den darauffolgenden Tag wird deshalb wahrscheinlich in Berlin-Mitte die höchste Sicherheitsstufe verhängt. Am frühen Montag morgen soll der Staatsgast auf dem militärischen Teil des Flughafens Berlin-Tegel eintreffen. Geplant sind Gespräche mit Bundespräsident Johannes Rau, Bundeskanzler Gerhard Schröder und Berlins Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit (alle SPD). Auch ein Besuch der nördlich von Berlin gelegenen KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen gehört zum Programm.

Der stadtbekannte NPD-Kader René Bethage hat aus Anlaß dieses Besuches eine Demonstration unter dem Motto »Solidarität mit Palästina« angemeldet. Starten soll die Provokation um 17 Uhr Unter den Linden mit dem voraussichtlichen Ziel Brandenburger Tor. Mittels der scheinheilig propagierten »Solidarität« mit Menschen, die in ihrem Sprachgebrauch ansonsten nur unter »Kanaken« verbucht werden, will die extreme Rechte das öffentliche Interesse für den Nahost-Konflikt für ihre antisemitische Agitation nutzen.

Genau dies wollen verschiedene linke Gruppen, jüdische Organisationen und Einzelpersonen verhindern. Das Bündnis ruft für 17 Uhr zu einer Kundgebung vor dem »Tränenpalast« am S-Bahnhof Friedrichstraße auf. Die ehemalige Grünen-Europaabgeordnete Ilka Schröder hat unter dem Motto »Solidarität mit Israel« schon für 16.30 Uhr eine Kundgebung an der Kreuzung Georgenstraße/Friedrichstraße angemeldet. Beide Aktionen haben das gemeinsame Ziel, den antisemitischen Aufmarsch zu verhindern.

 

 

 

Freitag, 6. Dezember 2002

 

Ein Problem der Mitte

 

Tagung über Rechtsextremismus: Phänomen ist nicht auf Jugendliche zu reduzieren

 

Rund 200 Teilnehmer waren am Dienstag in die Berliner Friedrich-Ebert-Stiftung gekommen, um sich mit der Frage »Ist der Rechtsextremismus noch eine aktuelle Gefahr?« – mit Schwerpunkt Schule – auseinanderzusetzen. Die Fachtagung wurde in Zusammenarbeit mit dem Projekt »Standpunkte: Berliner Pädagogen gegen Rechtsextremismus« und dem Berliner Landesinstitut für Schule und Medien (LISuM) organisiert. Wissenschaftler, Pädagogen, Gewerkschafter und Schüler hatten sich eingefunden. Sehr schnell wurde deutlich: Zu unterschiedlich ist der Wissensstand über den Rechtsextremismus, zu unterschiedlich waren die Erwartungen. Ein Teil wollte wissen, welche Gefahren von rechts überhaupt ausgehen, andere wollten gezielt etwas über Strategien gegen den Rechtsextremismus erfahren.

Die Diskussion begann mit den Experten Dr. Albert Scherr von der Pädagogischen Hochschule Freiburg, Dr. Christoph Butterwegge von der Universität Köln sowie mit Dierk Borstel vom Zentrum Demokratische Kultur (ZDK) aus Berlin. Schnell blieb man bei der Erörterungsfrage – »Wo liegen die heutigen Gefahren des Rechtsextremismus« – hängen. Butterwegge, der zahlreiche Werke zum Thema Rechtsextremismus publizierte, sieht die heutige Gefahr von rechts vor allem als ein Problem der Mitte der Gesellschaft. Butterwegge: »Das Hauptproblem ist, daß versucht wird, das Phänomen auf die Jugend zu reduzieren«. Es gäbe aber einen gesamtgesellschaftlichen rechtslastigen Diskurs, der nicht auf rechtsaußen geschoben werden könne. »Debatten über eine deutsche Leitkultur, der uns nützlichen Zuwanderung und die Diskussionen über das Aussterben der Deutschen schaffen einen rechtslastigen Nährboden«.

Ursprünglich sollten Gegenstrategien im Mittelpunkt der Veranstaltung stehen; viele waren deshalb gekommen. Also: Welche Konzepte gibt es, insbesondere an den Schulen? Butterwegge setzt auf »Zivilcourage«. Es müsse aufgeklärt werden. Je mehr man wisse, desto besser. Gleichzeitig warnt er vor einer »Immunisierung« durch Bildung. »Auch Intellektuelle wie die neuen Rechten können rechtsextrem sein«. Quintessenz: Es gibt kein Patentrezept. Albert Scherr, Wissenschaftler aus Freiburg, sieht die Probleme darin begründet, daß es kaum Migranten in der Lehrerschaft gibt und keine Aufklärung im Lehramtsstudium über Rassismus stattfinden würde. »Das muß sich ändern«. Und um der auflammenden Gewalt etwas entgegenzusetzen, müsse es eine »stärkere Polizeidichte« geben. Diesem Ansatz Scherrs, Repressionen mit Repressionen zu bekämpfen, wiederspricht Butterwegge. Das sei keine Lösung.

Aber was kann – insbesondere an den Schulen – getan werden? Dierk Borstel vom ZDK, der an diesem Tag entschieden zu kurz kam, folgert: »Es muß in erster Linie Ansprechpartner geben, sowohl in den Kommunen vor Ort als auch an den Schulen«. Zu oft wüßten die Kids nicht, wohin mit dem Problem »Diskriminierung«. Das Thema Rassismus werde viel zu selten an den Schulen thematisiert. »Ein Lehrer sagte mir kürzlich«, so Borstel, »er habe Angst davor, das Problem anzusprechen«. Borstel hofft darauf, daß »viele Projekte jetzt erst anlaufen«. Auch Sanem Kleff vom Landesinstitut für Schule und Medien Berlin, ist zuversichtlich. Seit 1995 betreut sie das Modell »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage«, ein Projekt, das an diesem Nachmittag neben anderen Strategien wie mobilen Beratungsteams zur kommunalen Gewaltprävention oder auch aktivierender Elternarbeit vorgestellt wurde. Das »Schule ohne Rassismus«-Konzept wird von den Schülern selbst organisiert. Wenn sie es schaffen, 70 Prozent aller Schüler und Lehrer zu einer Unterschrift gegen Rassismus zu bewegen, wird am Schulgebäude eine Tafel mit der Aufschrift »Schule ohne Rassismus« angebracht, meist von Prominenten. Die sind dann »Pate« der Schule. »Mittlerweile gibt es 142 Schulen in Deutschland mit dieser Plakette«, sagt Kleff.

 

 

 

Freitag, 6. Dezember 2002

Bewährungsstrafe für Überfall auf Tunesier

LEIPZIG, 5. Dezember (dpa). Das Amtsgericht Leipzig hat am Donnerstag vier junge Männer für einen brutalen Überfall auf einen Tunesier zu Bewährungsstrafen von sechs Monaten bis zwei Jahren verurteilt. In dieser Zeit müssen die Verurteilten im Alter von 17 bis 19 Jahren bis zu 70 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten.

Die Angeklagten hatten gestanden, den Nordafrikaner im Januar auf dem Bahnhofsgelände im sächsischen Delitzsch niedergeschlagen und mehrfach mit Springerstiefeln auf seinen Kopf eingetreten zu haben. Das Opfer erlitt mehrere Platzwunden am Kopf. Als Motiv geht die Staatsanwaltschaft von Ausländerfeindlichkeit aus. Das Gericht sah keinen rechtsradikalen Hintergrund.

 

 

Freitag, 6. Dezember 2002

Polizei will Nazi-Aufmarsch von Katzav fern halten

BERLIN, 5. Dezember (dpa). Die Berliner Sicherheitsbehörden werden eine geplante NPD-Demonstration während des Staatsbesuchs von Israels Präsident Mosche Katzav nicht verbieten. "Ein vollständiges Verbot kommt aus versammlungsrechtlichen Gründen nicht in Betracht", sagte Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) am Donnerstag. Es werde aber alles daran gesetzt, die Demonstranten am kommenden Montag nicht in die Nähe des Staatsgastes zu lassen.

Katzav kommt auf Einladung von Bundespräsident Johannes Rau von Sonntag bis Dienstag nach Deutschland. Nach einem Besuch in Wuppertal wird er am Sonntagnachmittag in Berlin erwartet. Er soll unter anderem Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und Außenminister Joschka Fischer (Grüne) treffen. Katzav will auch das frühere Konzentrationslager Sachsenhausen besuchen.

 

 

Freitag, 6. Dezember 2002

Angelika Nguyen

Der Fall Ingo H.

IM KINO"Führer Ex" von Winfried Bonengel zeichnet mit fiktionalen Elementen die Lebensgeschichte des Nazi-Aussteigers Ingo Hasselbach nach

Kennengelernt haben sie sich 1991, als Ingo Hasselbach noch überzeugter Neonazi war. Winfried Bonengel wollte einen Dokumentarfilm über ihn und seine Gesinnungsgenossen drehen. Hochgewachsen, blond und intelligent war Ingo Hasselbach, damals das perfekte Aushängeschild der Rechtsextremisten. Seine Eloquenz zog viele junge Menschen an, für die er der Beweis der Attraktivität der Szene und der Richtigkeit ihrer Werte war. Die Presse nannte Hasselbach gern den "Führer von Berlin". Winfried Bonengel stellte seinen Film über die Neonazis mit dem Titel Wir sind wieder da fertig und führte Ingo Hasselbach damit buchstäblich vor, wo er sich befand. Hasselbach sagte später, dass er über sich selbst erschrak. Der Neonazi traf den Filmemacher öfter. Es seien die Gespräche mit einem denkenden Menschen außerhalb der Naziszene gewesen, die bei Hasselbach einen Prozess in Gang setzten, der zum Ausstieg im Februar 1993 führte. Winfried Bonengel war nicht nur Gesprächspartner, er bot Hasselbach auch Asyl und neue Kontakte in einer Zeit, da er vor dem sozialen Nichts stand. Gemeinsam schrieben sie das Buch Die Abrechnung, Ingo Hasselbachs Lebensbericht. Schon damals planten sie einen Spielfilm über dieses Thema. Der Titel Führer Ex wurde von der amerikanischen Ausgabe der Abrechnung übernommen: erst das markige, historisch besetzte "Führer" und dann der Abstieg in nur einer Silbe: "Ex".

Der Film von Regisseur Bonengel und Mitautor Hasselbach erzählt die Geschichte zweier Jungen, die auf ihrem Weg durch DDR-Gefängnisse in die illegale Naziszene geraten. Er basiert auf der Biographie Ingo Hasselbachs, ist aber keineswegs deren faktentreue Verfilmung. Es wird versucht, ungefähr jene Perspektive zu vermitteln, die ein junger Rebell aus etabliertem, aber emotional verkorkstem Elternhaus auf die DDR hatte. Die Straßen, die Räume wirken klaustrophobisch, trostlos - ein bisschen wie die Bestätigung von Klischees, die über die DDR existieren mit ihren kahlen Wohnungen und sächselnden Beamten. Dank der beiden jungen Hauptdarsteller Christian Blümel und Aaron Hildebrand, die mit frischer Authentizität spielen, baut sich dennoch eine dichte Atmosphäre auf.

Diese für den Film erfundene Freundschaft von Heiko (sozusagen dem "alter ego" von Ingo H.) und Tommy erweist sich als Glücksgriff für den Film. Sie bietet die Möglichkeit, die weiche (Heiko) und die harte Seite (Tommy) des Konflikts mit der Gesellschaft zu zeigen, um sie dann später überraschend zu verkehren. Es ist dieses enge, fast zärtliche Verhältnis der beiden Jungen, die miteinander erst durch Kneipen und über die Dächer, dann durch das Loch im Grenzzaun und durch die Gefängnisse ziehen, das den Film vorantreibt. Ihre dramatischen Erlebnisse im Gefängnis sind Zentrum und Zäsur des Films. Der Weg von dort führt Heiko geradewegs in die Führungsgremien der Neonaziszene des wiedervereinten Deutschlands. Tommy, dem kurz zuvor noch die Republikflucht gelungen war, akzeptiert es zunächst etwas erstaunt, unentschlossen in seiner Ablehnung. Bis es schließlich auf Leben und Tod geht ... Für Heikos Ausstieg fand Bonengel ein großartiges emotionales Schlussbild: Heiko inmitten der Passanten einer belebten Straße. Das Jungsgesicht in der Menge, einsam, erschüttert, auf die Kamera zugehend, bis es zum Standbild gefriert.

In der Geschichte der Neonazis geht es um Gewalt und entsprechend kommt im Film viel Gewalt vor, dies aber immer mit Rücksicht auf die FSK. Wo das FSK-Prädikat bei vielen Filmen eine finanzielle Bedeutung hat, ist es hier Teil des künstlerischen Konzepts. Die brutalen Details werden angedeutet, doch am Ende nie ganz gezeigt. Trotzdem ist der Film sehr körperlich. Das ist eine seiner Stärken; begründet doch das Physische des Films seine Authentizität, seine Glaubwürdigkeit. Das reicht von Berührungen der Freundschaft, dem solidarischen Brechen von Gliedmaßen, damit man nicht zur Arbeit muss, dem exzessiven Tanzen Beates bis zu den Gewaltszenen im Gefängnis und den Naziüberfällen.

Ingo Hasselbachs Beitrag zur Aufklärung des historischen Rätsels, dass es in der DDR, dem Land, wo der Faschismus "mit seinen Wurzeln" angeblich ausgerottet war, den Nährboden gab für Rechtsextremismus, ist nur schwer zu überschätzen. Die Gefahr, die hinter der von der DDR betriebenen wahllosen Kriminalisierung steckte, hat er genau beschrieben. Die Grenzen zwischen den verschiedenen jugendkulturellen Richtungen, die auch ideologische Orientierungen waren, wie Punks, Gruftis, Skins, Faschos oder einfach nur Mädchen, die Kleider aus Bettlaken trugen, waren für die Behörden fließend und wurden bei der Ahndung nie unterschieden. Wie folgenreich diese Repressalien für die junge Generation waren, zeigt eben das Beispiel Ingo Hasselbach. Bei ihm schürten sie zunächst vor allem Hassgefühle auf den Staat DDR. Dieses Antigefühl hatte viele Gesichter. Der intelligente Schüler brach mit der achten Klasse die Schule ab, wurde Punk, rief 1987 "Die Mauer muss weg" und saß dafür zehn Monate im Gefängnis, wo auch Altnazis wie der Mörder von Oradour oder der ehemalige Gauleiter von Dresden einsaßen.

Diesen psychosozialen Hergang einer allmählichen rechtsextremen Orientierung von Ingo Hasselbach thematisiert der Film; jedoch wird der Anlass für Heikos Inhaftierung "aufgestockt", es muss nun schon versuchte Republikflucht sein. Dabei wirft gerade die Geringfügigkeit des Delikts im wirklichen Leben von Hasselbach ein besonders bezeichnendes Licht auf den Zustand des verfallenden und nervösen Systems DDR.

Die Filmemacher, das ist deutlich, wollten der Gefahr begegnen, durch erzählerische Ausbreitung von Kultur und Gewalt der Naziszene einen potentiellen Kultfilm für Neonazis zu drehen. Auf authentische Nazisymbole, häufige Hitlergrüße oder einschlägige Musik scheint bewusst verzichtet worden zu sein; wie überhaupt der Aufenthalt der Handlung in der Naziszene dramaturgisch sehr kurz gehalten ist.

Nach propagierter Meinung seiner Autoren will Führer Ex sowieso weniger ein Kunstwerk sein, das Intellektuelle debattieren oder Cinéasten begeistert, sondern Publikumsrenner bei Jugendlichen um die 14 werden. 14 Jahre bezeichnet Hasselbach als Schlüsselalter für die Rekrutierung von Nachwuchs für rechtsextremistische Gruppen. Das Anliegen des Films wird unterstützt von einer Reihe von Begleitprojekten für die Schule. Neben Sondervorführungen gibt es die Möglichkeit, auf CD-Roms die sozialen Lebenswelten des Films - der Punks, der Flüchtlinge, Hausbesetzer und Nazis - einzeln zu erkunden.

Es ist der Mangel an vergleichbaren Werken in unserer geistigen Landschaft, der Mangel an intelligenter und engagierter Zeugenschaft darüber, was in der Naziszene Deutschlands geschieht, der Mangel an Politik für die konkreten Lebensbedingungen Jugendlicher in diesem Land, der den Film so brisant macht. Jugend als biographischer Ort höchster Gefährdung spürt Defizite der Gesellschaft immer noch am deutlichsten auf, und doch wird sie noch immer meist als bemitleidenswertes Übergangsstadium betrachtet.