Freitag, 6. Dezember 2002
Die Sicherheitsbehörden werden eine während des Staatsbesuchs von Israels Präsident Mosche Katzav geplante Demonstration von Rechtsextremen in Berlin nicht verbieten. "Ein vollständiges Verbot kommt aus versammlungsrechtlichen Gründen nicht in Betracht", sagte Innensenator Ehrhart Körting (SPD) gestern. Es werde aber alles daran gesetzt, die Demonstranten am kommenden Montag nicht in die Nähe des Staatsgastes zu lassen. Katzav kommt von Sonntag bis Dienstag nach Deutschland. Die Demonstration ist unter dem Motto "Hände weg von Palästina. Keine Waffen für Israel" angemeldet worden.
Freitag, 6. Dezember 2002
POTSDAM. Brandenburgs Landesbeauftragte für Extremismus, Uta Leichsenring, gibt ihr Amt auf. Dies habe sie am Donnerstag bei einem Gespräch mit dem zuständigen Staatssekretär Frank Szymanski mitgeteilt, bestätigte das Bildungsministerium am Abend in Potsdam. Eine mögliche Entlassung sei in keiner Weise ein Thema des Gesprächs gewesen.
Nach Angaben des Ministeriums begründete Leichsenring ihren Rücktritt mit "unterschiedlichen Auffassungen über die Arbeitsstruktur und Rahmenbedingungen" für ihre Aufgabe. "Im Bewusstsein dieser Aufgabe mache ich das Angebot der Aufhebung des Arbeitsverhältnisses", sagte Leichsenring nach Ministeriumsangaben. In den vergangenen Wochen hatte Leichsenring bereits mit Ministerpräsident Matthias Platzeck und Bildungsminister Steffen Reiche (beide SPD) Gespräche geführt.
Uta Leichsenring, die keiner Partei angehört, hatte ihr Amt erst im Juli dieses Jahres offiziell angetreten, war jedoch nur zwei Wochen danach im Dienst. Seitdem ist sie krank geschrieben. Staatssekretär Szymanski sagte am Abend, er habe Hochachtung für die Entscheidung von Frau Leichsenring. Er bedaure es sehr, dass sie diese Entscheidung "jetzt so treffen musste".
Die 54-jährige Leichsenring war zwischen 1990 und 2002 zwölf Jahre lang Präsidentin des Polizeipräsidiums Eberswalde. Dort hatte sie sich mit engagiertem Eintreten gegen Rechtsextremismus bundesweit einen Namen gemacht. Mehrfach wurde sie dafür ausgezeichnet. Im Frühjahr dieses Jahres stand sie im Verdacht, in einen Korruptionsfall in ihrer Behörde verwickelt zu sein. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft lieferten dafür aber keine Beweise.
Nach der Polizeireform in Brandenburg, bei der die ursprünglich fünf Präsidien zu nur noch zwei Präsidiumsbereichen in Potsdam und Frankfurt (Oder) verschmolzen, war für Leichsenring kein Platz mehr im Polizeidienst. Das Verhältnis zwischen ihr und Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) gilt als gespannt. Nach langem Hin und Her wurde die Stelle der Extremismusbeauftragten, die beim Bildungsministerium angesiedelt ist, extra für sie geschaffen. Im Gespräch war auch ein Landratsposten in der Uckermark.
Angaben über eine mögliche Nachfolge machte das Ministerium nicht. Auch Details über die inhaltlichen Differenzen zwischen Leichsenring und der Landesregierung wurden nicht genannt.
Freitag, 6. Dezember 2002
Hülsemann: Freizeitclubs müssen für alle Jugendlichen offen
bleiben
Potsdam/Berlin
(ddp-lbg). Rechtsradikale Jugendliche dürfen nach Auffassung des Mobilen
Beratungsteams Brandenburg nicht prinzipiell aus Jugendklubs ausgeschlossen
werden. Aber bei Regel- oder Gesetzesverstößen müssten Konsequenzen gezogen
werden, sagte Leiter Wolfram Hülsemann der Nachrichtenagentur ddp in Berlin.
Wird ein Jugendclub beispielsweise zu einem «Umschlagsplatz» für rechtsextreme
Propaganda oder Musik, sei eine «klare Ausgrenzung» der Betreffenden notwendig.
Dazu zähle ein zeitweiliges oder komplettes Clubverbot. Dies werde auch
praktiziert, betonte Hülsemann. Ein Jugendclubleiter könne jedoch keine Gesinnung
bestrafen und Jugendliche auf Verdacht ausschließen.
Im
uckermärkischen Potzlow war Mitte des Jahres ein Jugendlicher brutal
misshandelt und ermordet worden, angeblich weil er eine weite Hiphop-Hose trug und
blondierte Haare hatte. Einer der Täter verkehrte im Jugendclub der
benachbarten Gemeinde Strehlow.
Laut Hülsemann
geht es bei der Jugendarbeit auch darum, rechtsextrem orientierte Jugendliche
mit ihrem menschenfeindlichen und antisemitischen Verhalten zu konfrontieren
und sie zu einer Abkehr davon zu bewegen. Gelinge das nicht, grenzten sich die
Jugendlichen selbst aus und müssten gegebenenfalls die Freizeiteinrichtung
verlassen, betonte Hülsemann. Die «demokratisch verantwortete Jugendarbeit»
setze voraus, dass der Jugendclubleiter mit einem «hohen Maß an Empathie» die
Gefährdung Jugendlicher durch rechtsextreme Ideologien herausfinde und darauf
reagiere. Für diese Vorgehensweise wachse das Verständnis bei den zuständigen
Fachleuten in Brandenburg.
Hülsemann hob
hervor, die Jugendarbeit habe in den vergangenen Jahren mit dazu beigetragen,
dass sich fremdenfeindliche und intolerante Einstellungen bei Jugendlichen
nicht noch weiter verbreitet hätten. Dennoch seien immer noch mehr als 20
Prozent der Jugendlichen rechtsextrem orientiert. Diese Zahl schwanke
allerdings von Region zu Region. Aus der Jugendarbeit seien Gruppen
hervorgegangen, die sich aktiv mit rechten Parolen und deren Befürworten
auseinander setzten.
Das Mobile
Beratungsteam Brandenburg bietet nach eigenen Angaben «Hilfe zur Selbsthilfe»
für Menschen, die etwas gegen Rechtsextremismus tun wollen. Es hält Kontakt zu
Jugendgruppen, Vereinen und Verbänden, den Kirchen, den öffentlichen
Verwaltungen und der Politik.
Freitag, 6. Dezember 2002
Schwerin (vo) Der Neuklosteraner Gymnasiallehrer Guido S., der sich wegen Beihilfe zur schweren Brandstiftung gegen einen Asia-Imbiss in Untersuchungshaft befindet, ist bereits früher wegen rechtsextremer Aktivitäten aufgefallen. Wie unsere Zeitung aus Geheimdienstquellen erfuhr, wird der 36-Jährige seit längerem im Nachrichtendienstlichen Erkennungssystem (NADIS) des Verfassungsschutzes geführt. Den Informationen zufolge soll der Musiklehrer früher in Krefeld als Aktivist der DVU ins Visier des Verfassungsschutzes von Nordrhein-Westfalen geraten sein.
Eine Anwerbung oder Zusammenarbeit zwischen Guido S. und dem Düsseldorfer Geheimdienst hat es aber offensichtlich nicht gegeben. "Wir betonen, dass Herr S. zu keinem Zeitpunkt als Quelle oder Vertrauensperson für unseren Verfassungsschutz gearbeitet hat", bestätigte ein Sprecher des Innenministeriums in Düsseldorf auf Anfrage.
Das Schweriner Bildungsministerium wusste bei der Einstellung von Guido S. in den Schuldienst des Landes vor eineinhalb Jahren offenbar nichts von dessen politischer Vergangenheit. "Das polizeiliche Führungszeugnis war in Ordnung, weitere Gründe gegen eine Einstellung waren nicht ersichtlich", so eine Ministeriumssprecherin.
Dem Lehrer wird vorgeworfen, zwei 18-Jährige im November zu einem Brandanschlag auf einen vietnamesischen Imbiss in Wismar geholfen zu haben (wir berichteten). Bei der Durchsuchung der Wohnung wurden ein Hitler-Porträt, eine Hakenkreuzfahne und rechtsextreme Schriften gefunden
Freitag, 6. Dezember 2002
Wieder droht
Neonazi-Demo durch das Tor
Rechtsextremisten planen für Montag antiisraelischen Aufmarsch/PDS ruft zur
Zivil-Courage auf
Von
Rainer Funke
Einsatzberatungen, Gullydeckel-Procedere entlang geheimer Fahrtrouten, also die
Prüfung dessen, was sich darunter befindet, sowie die anschließende
Versiegelung, dazu Vorbereitungen für Absperrungen von Straßen – die Polizei
ist derzeit mit den üblichen Vorkehrungen für einen hochrangigen Staatsbesuch
befasst.
Denn am Montag besucht Israels Präsident Moshe Karsav die Stadt und die nähere
Region. Ab Sonntag herrscht deshalb die Sicherheitsstufe 1. Vor allem
weiträumig um das Hotel »Interconti« in der Budapester Straße, wo der Gast dem
Vernehmen nach übernachtet, dürfte es deshalb zu Staus und verschärften
Personenkontrollen kommen. Jüdische und US-amerikanische Einrichtungen würden
aber nicht verstärkt überwacht, so ein Polizeisprecher. Ihnen gelte ohnehin höchste
Aufmerksamkeit.
Wie ND in der gestrigen Ausgabe informierte, hat nach Auskunft des Sprechers
die NPD eine Demonstration angemeldet, auf der 200 Neonazis durch die City
marschieren wollen. Vorwiegend soll es sich um Parteimitglieder sowie
Angehörige von Berliner und Brandenburger »Kameradschaften« handeln, darunter
die zuletzt sehr aktive »Kameradschaft Tor«. Das Motto: »Hände weg von
Palästina. Keine Waffen für Israel«.
Der Marsch wird, wie zu erfahren war, zwischen 17 und 22 Uhr vom Bahnhof
Friedrichstraße, Unter den Linden über den Pariser Platz, die Straße des 17.
Juni, die Entlastungsstraße, die Hofjägerallee, die Budapester Straße zum
Bahnhof Zoo führen. Erstmals seit der Neueröffnung des Brandenburger Tores am
3. Oktober d.J. nach seiner Sanierung käme es womöglich zu einem
Neonazi-Aufmarsch durch Berlins markantestes Symbol. Zwischendurch will man
entlang der Route mehrere Kundgebungen abgehalten, etwa am so genannten
Antreteplatz, auf dem Pariser Platz, vor dem »Interconti« sowie am Zoo.
Am gestrigen Nachmittag gab es Gespräche zwischen der polizeilichen
Versammlungsbehörde und den Veranstaltern. Gegenstand war eine veränderte Route
sowie Auflagen für den Aufmarsch. Zwar werde es laut Innensenator Ehrhart
Körting (SPD) aufgrund des Versammlungsrechtes zu keinem vollständigen Verbot
des rechtsextremistischen Aufzuges kommen. Die Innenverwaltung werde aber alles
daran setzen, dass die Neonazis nicht in die Nähe des Staatsgastes geraten
können.
Marion Seelig, innenpolitische Sprecherin der PDS im Abgeordnetenhaus, geht
davon aus, dass ein Aufzug an den konkreten Orten nicht genehmigt wird. Mit dem
aktuellen politischen Zusammenhang und der hohen Sicherheitsstufe hätten die
Behörden eine entsprechende Handhabe. Ansonsten werde man sich der Neonazi-Demo
»in den Weg stellen«. Einzelheiten würden aber noch erörtert, so Seelig.
Wie PDS-Sprecher Axel Hildebrandt inzwischen bekannt gab, rufe die Berliner PDS
zur Zivil-Courage gegen den Nazi-Aufmarsch auf. Gegen-Kundgebungen sind am
Montag für 16.30 Uhr u.a. in der Dorotheen-/Ecke Friedrichstraße und in der
Friedrichstraße/Höhe Tränenpalast geplant. Weitere Protestaktionen wurden von
verschiedenen Antifa-Gruppen angekündigt. Der Polizei war aber gestern
Nachmittag zunächst nur eine Anmeldung bekannt.
Inzwischen mehren sich erneut Stimmen, wonach an ausgewählten historischen
Orten mit Symbolcharakter perfide neonazistische Selbstdarstellungen durch
entsprechende Gesetzesänderungen oder Klarstellungen im Gesetzeswerk
unterbunden werden sollen.
Wie beispielsweise GdP-Bundeschef Konrad Freiberg gegenüber einer Zeitung
sagte, würde es bei der Polizei »als unerträgliche Belastung« empfunden, »immer
wieder die von Gerichten genehmigten braunen Aufmärsche an Stätten zu schützen,
die gerade an die Überwindung des Naziterrors gemahnen sollen«. Dem
grundgesetzlich verbrieften Demonstrationsrecht wäre kein Abbruch getan, wenn
an bestimmten, geschichtlich belasteten Orten oder Mahnmalen keine
Demonstrationen rechtsextremistischer Gruppierungen stattfinden könnten, meinte
Freiberg.
Freitag, 6. Dezember 2002
Was ausloten?
Eingeschränktes Versammlungsrecht
Von
Claus Dümde
Schon im Vorfeld der Konferenz der Innenminister von Bund und Ländern hatte
Brandenburgs Ressortchef Schönbohm wieder mal eine Einschränkung des
Versammlungsrechts gefordert. Der CDU-Politiker dürfte damit durchaus auf
Sympathien treffen, denn er begründete den Vorstoß damit, so könnten vor allem
Aufmärsche von Neonazis an symbolträchtigen Tagen und Orten verhindert werden.
Man müsse das Grundgesetz gar nicht ändern, wenn die Grenzen des
Versammlungsrechts »genau ausgelotet« würden.
Das klingt gut. Nur: Genau darum haben sich seit Jahren nicht nur Ordnungsämter
und Rechts-Anwälte, sondern auch Gerichte aller Instanzen bemüht. Und die
letzte in Karlsruhe hat in jüngster Zeit Verbote von Neonazi-Aufmärschen und
-Kundgebungen zumeist wieder aufgehoben. Dabei beriefen sich die
Bundesverfassungsrichter nicht nur auf die durch die Artikel 5 und 8
Grundgesetz garantierte Meinungs- und Versammlungsfreiheit, sondern im Falle
der NPD auch auf das Parteienprivileg: Um der politischen Freiheit willen müsse
bis zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit eine derartige Tätigkeit in Kauf
genommen werden.
Angesichts dessen wirkt die Absicht, das Versammlungsrecht durch einfaches
Gesetz oder Verwaltungsvorschriften einzuschränken, weltfremd. Oder geht’s etwa
gar nicht in erster Linie um Neonazis, die sich die NPD zu Nutze machen können?
Freitag, 6. Dezember 2002
Die NPD will »solidarisch
mit Palästinensern« durch Berlin marschieren |
|
Am
kommenden Montag besucht der israelische Staatspräsident Moshe Katsav Berlin.
Für Montag und den darauffolgenden Tag wird deshalb wahrscheinlich in
Berlin-Mitte die höchste Sicherheitsstufe verhängt. Am frühen Montag morgen
soll der Staatsgast auf dem militärischen Teil des Flughafens Berlin-Tegel
eintreffen. Geplant sind Gespräche mit Bundespräsident Johannes Rau,
Bundeskanzler Gerhard Schröder und Berlins Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit
(alle SPD). Auch ein Besuch der nördlich von Berlin gelegenen KZ-Gedenkstätte
Sachsenhausen gehört zum Programm. |
Freitag, 6. Dezember 2002
Ein
Problem der Mitte |
|
Tagung über
Rechtsextremismus: Phänomen ist nicht auf Jugendliche zu reduzieren |
|
Rund 200
Teilnehmer waren am Dienstag in die Berliner Friedrich-Ebert-Stiftung
gekommen, um sich mit der Frage »Ist der Rechtsextremismus noch eine aktuelle
Gefahr?« – mit Schwerpunkt Schule – auseinanderzusetzen. Die Fachtagung wurde
in Zusammenarbeit mit dem Projekt »Standpunkte: Berliner Pädagogen gegen
Rechtsextremismus« und dem Berliner Landesinstitut für Schule und Medien
(LISuM) organisiert. Wissenschaftler, Pädagogen, Gewerkschafter und Schüler
hatten sich eingefunden. Sehr schnell wurde deutlich: Zu unterschiedlich ist
der Wissensstand über den Rechtsextremismus, zu unterschiedlich waren die
Erwartungen. Ein Teil wollte wissen, welche Gefahren von rechts überhaupt
ausgehen, andere wollten gezielt etwas über Strategien gegen den
Rechtsextremismus erfahren. |
Freitag, 6. Dezember 2002
Bewährungsstrafe
für Überfall auf Tunesier
LEIPZIG, 5. Dezember (dpa).
Das Amtsgericht Leipzig hat am Donnerstag vier junge Männer für einen brutalen Überfall
auf einen Tunesier zu Bewährungsstrafen von sechs Monaten bis zwei Jahren
verurteilt. In dieser Zeit müssen die Verurteilten im Alter von 17 bis 19
Jahren bis zu 70 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten.
Die Angeklagten hatten
gestanden, den Nordafrikaner im Januar auf dem Bahnhofsgelände im sächsischen
Delitzsch niedergeschlagen und mehrfach mit Springerstiefeln auf seinen Kopf
eingetreten zu haben. Das Opfer erlitt mehrere Platzwunden am Kopf. Als Motiv
geht die Staatsanwaltschaft von Ausländerfeindlichkeit aus. Das Gericht sah
keinen rechtsradikalen Hintergrund.
Freitag, 6. Dezember 2002
Polizei
will Nazi-Aufmarsch von Katzav fern halten
BERLIN, 5. Dezember (dpa).
Die Berliner Sicherheitsbehörden werden eine geplante NPD-Demonstration während
des Staatsbesuchs von Israels Präsident Mosche Katzav nicht verbieten.
"Ein vollständiges Verbot kommt aus versammlungsrechtlichen Gründen nicht
in Betracht", sagte Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) am
Donnerstag. Es werde aber alles daran gesetzt, die Demonstranten am kommenden
Montag nicht in die Nähe des Staatsgastes zu lassen.
Katzav kommt auf Einladung
von Bundespräsident Johannes Rau von Sonntag bis Dienstag nach Deutschland.
Nach einem Besuch in Wuppertal wird er am Sonntagnachmittag in Berlin erwartet.
Er soll unter anderem Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse und Außenminister Joschka Fischer (Grüne) treffen. Katzav will
auch das frühere Konzentrationslager Sachsenhausen besuchen.
Freitag, 6. Dezember 2002
Angelika Nguyen
IM KINO"Führer Ex" von Winfried Bonengel zeichnet mit fiktionalen Elementen die Lebensgeschichte des Nazi-Aussteigers Ingo Hasselbach nach
Kennengelernt haben sie sich 1991, als Ingo Hasselbach noch
überzeugter Neonazi war. Winfried Bonengel wollte einen Dokumentarfilm über ihn
und seine Gesinnungsgenossen drehen. Hochgewachsen, blond und intelligent war
Ingo Hasselbach, damals das perfekte Aushängeschild der Rechtsextremisten.
Seine Eloquenz zog viele junge Menschen an, für die er der Beweis der
Attraktivität der Szene und der Richtigkeit ihrer Werte war. Die Presse nannte
Hasselbach gern den "Führer von Berlin". Winfried Bonengel stellte
seinen Film über die Neonazis mit dem Titel Wir sind wieder da fertig
und führte Ingo Hasselbach damit buchstäblich vor, wo er sich befand. Hasselbach
sagte später, dass er über sich selbst erschrak. Der Neonazi traf den
Filmemacher öfter. Es seien die Gespräche mit einem denkenden Menschen
außerhalb der Naziszene gewesen, die bei Hasselbach einen Prozess in Gang
setzten, der zum Ausstieg im Februar 1993 führte. Winfried Bonengel war nicht
nur Gesprächspartner, er bot Hasselbach auch Asyl und neue Kontakte in einer
Zeit, da er vor dem sozialen Nichts stand. Gemeinsam schrieben sie das Buch Die
Abrechnung, Ingo Hasselbachs Lebensbericht. Schon damals planten sie einen
Spielfilm über dieses Thema. Der Titel Führer Ex wurde von der
amerikanischen Ausgabe der Abrechnung übernommen: erst das markige,
historisch besetzte "Führer" und dann der Abstieg in nur einer Silbe:
"Ex".
Der Film von Regisseur Bonengel und Mitautor Hasselbach erzählt die Geschichte
zweier Jungen, die auf ihrem Weg durch DDR-Gefängnisse in die illegale
Naziszene geraten. Er basiert auf der Biographie Ingo Hasselbachs, ist aber
keineswegs deren faktentreue Verfilmung. Es wird versucht, ungefähr jene
Perspektive zu vermitteln, die ein junger Rebell aus etabliertem, aber
emotional verkorkstem Elternhaus auf die DDR hatte. Die Straßen, die Räume
wirken klaustrophobisch, trostlos - ein bisschen wie die Bestätigung von
Klischees, die über die DDR existieren mit ihren kahlen Wohnungen und
sächselnden Beamten. Dank der beiden jungen Hauptdarsteller Christian Blümel
und Aaron Hildebrand, die mit frischer Authentizität spielen, baut sich dennoch
eine dichte Atmosphäre auf.
Diese für den Film erfundene Freundschaft von Heiko (sozusagen dem "alter
ego" von Ingo H.) und Tommy erweist sich als Glücksgriff für den Film. Sie
bietet die Möglichkeit, die weiche (Heiko) und die harte Seite (Tommy) des
Konflikts mit der Gesellschaft zu zeigen, um sie dann später überraschend zu
verkehren. Es ist dieses enge, fast zärtliche Verhältnis der beiden Jungen, die
miteinander erst durch Kneipen und über die Dächer, dann durch das Loch im
Grenzzaun und durch die Gefängnisse ziehen, das den Film vorantreibt. Ihre dramatischen
Erlebnisse im Gefängnis sind Zentrum und Zäsur des Films. Der Weg von dort
führt Heiko geradewegs in die Führungsgremien der Neonaziszene des
wiedervereinten Deutschlands. Tommy, dem kurz zuvor noch die Republikflucht
gelungen war, akzeptiert es zunächst etwas erstaunt, unentschlossen in seiner
Ablehnung. Bis es schließlich auf Leben und Tod geht ... Für Heikos Ausstieg
fand Bonengel ein großartiges emotionales Schlussbild: Heiko inmitten der
Passanten einer belebten Straße. Das Jungsgesicht in der Menge, einsam,
erschüttert, auf die Kamera zugehend, bis es zum Standbild gefriert.
In der Geschichte der Neonazis geht es um Gewalt und entsprechend kommt im Film
viel Gewalt vor, dies aber immer mit Rücksicht auf die FSK. Wo das FSK-Prädikat
bei vielen Filmen eine finanzielle Bedeutung hat, ist es hier Teil des
künstlerischen Konzepts. Die brutalen Details werden angedeutet, doch am Ende
nie ganz gezeigt. Trotzdem ist der Film sehr körperlich. Das ist eine seiner
Stärken; begründet doch das Physische des Films seine Authentizität, seine
Glaubwürdigkeit. Das reicht von Berührungen der Freundschaft, dem solidarischen
Brechen von Gliedmaßen, damit man nicht zur Arbeit muss, dem exzessiven Tanzen
Beates bis zu den Gewaltszenen im Gefängnis und den Naziüberfällen.
Ingo Hasselbachs Beitrag zur Aufklärung des historischen Rätsels, dass es in
der DDR, dem Land, wo der Faschismus "mit seinen Wurzeln" angeblich
ausgerottet war, den Nährboden gab für Rechtsextremismus, ist nur schwer zu
überschätzen. Die Gefahr, die hinter der von der DDR betriebenen wahllosen
Kriminalisierung steckte, hat er genau beschrieben. Die Grenzen zwischen den
verschiedenen jugendkulturellen Richtungen, die auch ideologische
Orientierungen waren, wie Punks, Gruftis, Skins, Faschos oder einfach nur
Mädchen, die Kleider aus Bettlaken trugen, waren für die Behörden fließend und
wurden bei der Ahndung nie unterschieden. Wie folgenreich diese Repressalien
für die junge Generation waren, zeigt eben das Beispiel Ingo Hasselbach. Bei
ihm schürten sie zunächst vor allem Hassgefühle auf den Staat DDR. Dieses
Antigefühl hatte viele Gesichter. Der intelligente Schüler brach mit der achten
Klasse die Schule ab, wurde Punk, rief 1987 "Die Mauer muss weg" und
saß dafür zehn Monate im Gefängnis, wo auch Altnazis wie der Mörder von Oradour
oder der ehemalige Gauleiter von Dresden einsaßen.
Diesen psychosozialen Hergang einer allmählichen rechtsextremen Orientierung
von Ingo Hasselbach thematisiert der Film; jedoch wird der Anlass für Heikos
Inhaftierung "aufgestockt", es muss nun schon versuchte
Republikflucht sein. Dabei wirft gerade die Geringfügigkeit des Delikts im
wirklichen Leben von Hasselbach ein besonders bezeichnendes Licht auf den
Zustand des verfallenden und nervösen Systems DDR.
Die Filmemacher, das ist deutlich, wollten der Gefahr begegnen, durch
erzählerische Ausbreitung von Kultur und Gewalt der Naziszene einen
potentiellen Kultfilm für Neonazis zu drehen. Auf authentische Nazisymbole,
häufige Hitlergrüße oder einschlägige Musik scheint bewusst verzichtet worden
zu sein; wie überhaupt der Aufenthalt der Handlung in der Naziszene
dramaturgisch sehr kurz gehalten ist.
Nach propagierter Meinung seiner Autoren will Führer Ex sowieso
weniger ein Kunstwerk sein, das Intellektuelle debattieren oder Cinéasten
begeistert, sondern Publikumsrenner bei Jugendlichen um die 14 werden. 14 Jahre
bezeichnet Hasselbach als Schlüsselalter für die Rekrutierung von Nachwuchs für
rechtsextremistische Gruppen. Das Anliegen des Films wird unterstützt von einer
Reihe von Begleitprojekten für die Schule. Neben Sondervorführungen gibt es die
Möglichkeit, auf CD-Roms die sozialen Lebenswelten des Films - der Punks, der
Flüchtlinge, Hausbesetzer und Nazis - einzeln zu erkunden.
Es ist der Mangel an vergleichbaren Werken in unserer geistigen Landschaft, der
Mangel an intelligenter und engagierter Zeugenschaft darüber, was in der
Naziszene Deutschlands geschieht, der Mangel an Politik für die konkreten
Lebensbedingungen Jugendlicher in diesem Land, der den Film so brisant macht.
Jugend als biographischer Ort höchster Gefährdung spürt Defizite der
Gesellschaft immer noch am deutlichsten auf, und doch wird sie noch immer meist
als bemitleidenswertes Übergangsstadium betrachtet.