Dienstag, 25. März 2003

Kirchen zeichnen Antirassismusprojekte aus

BONN. Im Beisein von Bundespräsident Johannes Rau sind am Montagabend in Bonn Projekte gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ausgezeichnet worden. Unter dem Motto "Lade deine Nachbarn ein" würdigte die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland drei Projekte aus Magdeburg, Neustrelitz und Berlin. Rau forderte die Politik auf, endlich das dringend notwendige Zuwanderungsgesetz zu verabschieden.

 

 

 

Dienstag, 25. März 2003

Anklage gegen Horst Mahler

Vorwurf Volksverhetzung

Wegen Volksverhetzung im Internet hat die Berliner Staatsanwaltschaft Anklage gegen den früheren NPD-Anwalt Horst Mahler erhoben. Das teilte die Justizpressestelle am Montag mit. Dem 67-jährigen Mahler und zwei 59 und 38 Jahre alten Mitangeklagten wird vorgeworfen, im Internet unter mehreren Adressen einen selbst verfassten Text veröffentlicht zu haben, der nach Ansicht der Staatsanwaltschaft darauf hinausläuft, das die in Deutschland lebenden Ausländer rechtlos gestellt werden sollen.

Der frühere Linksextremist Mahler steht bereits in Mainz wegen Billigung der Anschläge vom 11. September 2001 in den USA vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft hat eine Strafe von acht Monaten ohne Bewährung gefordert. Das Urteil soll am 27 März verkündet werden.

Mahler hatte die NPD im Verbotverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vertreten. Nach dem Scheitern des NPD-Verbots war es aus der Partei ausgetreten.

 

 

Dienstag, 25. März 2003

Kraxeln statt prügeln

Klub baut Hochseilgarten für sozial gefährdete Jugendliche

Stefan Strauss

PRENZLAUER BERG. Im Sportjugendklub Lychener Straße 75 werden die Konflikte künftig auf dem Dachboden ausgetragen. Dort entstehen zurzeit auf 140 Quadratmeter Fläche ein Hochseilgarten und eine Kletterwand. Letztere soll acht Meter hoch und mit Schrägen und Hindernissen versehen werden. Zum Hochseilgarten gehören eine Hängebrücke und ein Lianengang mit Seilen. Beim Klettern, Kraxeln und Balancieren sollen sozial gefährdete Jugendliche aus dem Kiez lernen, Auseinandersetzungen friedlich zu lösen.

Etwa 25 Jugendliche besuchen den Club am nördlichen Ende der Lychener Straße jeden Tag - und viele von ihnen stammen aus schwierigen familiären Verhältnissen. Nach Angaben von Jugendclub-Leiter Ralf Schmidt werden einige regelmäßig geschlagen, die Eltern anderer sind Alkoholiker. Die Kinder wiederum reagieren darauf mit Gewalt gegen andere. "Nicht wenige sind selbst schon kriminell geworden", sagt Schmidt. Im Hochseilgarten und an der Kletterwand sollen diese Problemkinder lernen, dass Konflikte gelöst werden können - und zwar ohne Gewalt. "Wer mit Hilfe seines vermeintlichen Kontrahenten ein Hindernis überwindet, wird ihn später auch nicht schlagen", sagt Schmidt.

In dem Club und der dazugehörigen Turnhalle können die Jugendlichen derzeit Tischtennis, Badminton, Fußball und Volleyball spielen, Kraftsport machen, Schlagzeug spielen lernen, im Tonstudio arbeiten und Internetkurse besuchen. Der Sportjugendclub wird von einem freien Träger finanziert.

Der Wunsch nach einer Kletterwand existiert bereits seit zwei Jahren. Doch erst seit kurzem ist klar, wer das Bauprojekt im früheren Wohnhaus für Lehrer finanziert: 150 000 Euro zahlt der Senat aus dem Fonds "Soziale Stadt", auch aus dem Quartiersmanagement Helmholtzplatz kommt Geld. Bis zum Jahresende soll der Dachboden ausgebaut sein. Seile, Gurte und Spezialschuhe stehen schon in Kartons verpackt auf dem Boden.

Für Schulklassen und Jugendgruppen wird es dann spezielle Kurse geben, die auf die Probleme der jeweiligen Gruppe abgestimmt sind. Gibt es in einer Klasse etwa zwei besonders auffällige Schüler, werden vor allem Übungen vorbereitet, bei denen diese Jugendlichen auf die Hilfe ihrer Mitschüler angewiesen sind. "Im Hochseilgarten oder an der Kletterwand müssen die Jungen und Mädchen dann Teamgeist beweisen, Krisen bewältigen und lernen, selbst einzuschätzen, was sie sich zutrauen können und was nicht", sagt Clubchef Ralf Schmidt.

 

 

Dienstag, 25. März 2003

Volksverhetzung: Anklage gegen Horst Mahler

Die Staatsanwaltschaft Berlin hat gegen das ehemalige NPD-Mitglied Horst Mahler und weitere zwei Männer Anklage wegen Volksverhetzung erhoben. Gegenstand des Verfahrens sei ein längerer Text mit dem Titel "Ausrufung des Aufstandes der Anständigen", den die Angeschuldigten gemeinschaftlich verfasst und unter mehreren Internetadressen ab Oktober 2000 allgemein zugänglich gemacht haben sollen, sagte ein Justizsprecher gestern. Im Text werde ein "Hunderttageprogramm" mit zahlreichen Maßnahmen gefordert, die nach Auffassung der Staatsanwaltschaft darauf hinauslaufen, dass Ausländer rechtlos gestellt werden sollen.

 

 

Dienstag, 25. März 2003

Orthodoxer Jude angegriffen

Vier junge Männer schlugen 21-jährigen Rabbi-Studenten aus Detroit

Einer der zehn Absolventen der ersten Berliner Rabbiner-Ausbildung seit der Schoah ist am Sonntagabend nach eigenen Angaben von türkisch aussehenden Jugendlichen verprügelt worden. Nach einem Hochzeitsbesuch in der Jüdischen Gemeinde an der Fasanenstraße kamen dem 21-jährigen Rabbi-Studenten aus Detroit vier junge Männer auf der Joachimstaler Straße entgegen. Im Vorbeigehen schlug ihm einer aus der Gruppe mit der flachen Hand auf das rechte Auge. Mendel D. wurde schwindelig und hörte dabei die anderen lachen. Dann traf ihn ein "Doughnut" im Gesicht. "Die vier Männer gingen ruhig weiter", sagt Mendel D. Kein Passant habe versucht, dazwischenzugehen oder die Angreifer aufzuhalten. In einer Bar, gleich am Tatort, wollte niemand etwas gesehen haben. "In New York hätte man mir bestimmt geholfen", glaubt er.

Es ist bereits seine zweite Strafanzeige, die er in Berlin erstattet hat. Beim ersten Vorfall waren die Angriffe ausschließlich verbaler Natur. Unzählige Male sei er bereits Opfer von antisemitischen Beleidigungen geworden. Dennoch will er sich nicht entmutigen lassen und weitere vier Monate in Berlin bleiben. "Ich habe wundervolle Menschen kennen gelernt." Verstecken will er sich nicht und öffentlich seine "Kippa" tragen, die traditionelle jüdische Kopfbedeckung.

Mendel D. arbeitet in der jüdischen Organisation "Chabad Lubawitsch" an der Augsburger Straße in Charlottenburg. Die Einrichtung bietet heute weltweit mit 2200 Institutionen religiöse und soziale Dienste an. Der Name Chabad entstammt dem Hebräischen und bedeutet Weisheit und Vernunft.

 

 

Dienstag, 25. März 2003

Rechter Narr?

Neonazi-Anwalt wegen Volksverhetzung vor Gericht

Der Hamburger Neonazi-Anwalt Jürgen Rieger muss sich ab morgen erneut wegen Volksverhetzung vor dem Hamburger Landgericht verantworten. Der 56 Jahre alte Jurist hatte in einem Prozess gegen einen Neonazi die Massenvernichtung von Juden in NS-Konzentrationslagern bestritten. Das Landgericht Hamburg hatte ihn im November 2000 vom Vorwurf der Volksverhetzung freigesprochen, der Bundesgerichtshof (BGH) hatte die Entscheidung im vorigen April aber aufgehoben.

Rieger hatte 1996 in einem Prozess gegen einen Neonazi wegen Volksverhetzung beantragt, einen wegen seiner Publikation vorbestraften "Sachverständigen" mit einem Gutachten beweisen zu lassen, dass es die Massenvernichtung von Juden in Konzentrationslagern nicht gegeben habe. Das Landgericht hatte in nachfolgenden Verfahren gegen Rieger geurteilt, Verteidigern sei "ein gewisses Maß an Narrenfreiheit" zuzugestehen. Der BGH meinte dagegen, das Leugnen des Holocaust sei auch in diesem Fall strafbar und hob das Urteil auf.

 

 

Dienstag, 25. März 2003

Horst Mahler angeklagt

Verfahren wegen des Verdachts der Volksverhetzung

Die Berliner Staatsanwaltschaft hat den rechtsextremen Anwalt Horst Mahler und zwei weitere Gesinnungsfreunde wegen des Verdachts der Volksverhetzung angeklagt. Mahler soll zusammen mit Reinhold Oberlercher und Uwe Meenen einen Text mit dem Titel „Ausrufung des Aufstandes der Anständigen“ verfasst und ins Internet gestellt haben. In dem Pamphlet vom Oktober 2000 formulieren die drei ein „Hundert-Tage-Programm“ und propagieren rassistische „Notverordnungen“. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft bedeutet das Programm in seiner Konsequenz, dass in der Bundesrepublik lebende Ausländer „rechtlos gestellt werden“.

Der ehemalige RAF-Terrorist Mahler tritt seit einigen Jahren zusammen mit Oberlercher und Meenen als Sprecher der rechtsextremen Splittergruppe „Deutsches Kolleg“ auf. Auf deren Homepage ist von einer „nationalen Notstandsregierung“ die Rede. Als „Notverordnungen“ dieser Phantasie-Regierung nennen die drei Rechtsextremisten zum Beispiel die „Ausweisung aller arbeitslos gewordenen Ausländer“. In dem Pamphlet wird auch massiv gegen Juden gehetzt.

Mahler steht bereits in Mainz und Stralsund vor Gericht. In den beiden Verfahren geht es um Äußerungen des Anwalts zum Terrorangriff des 11. September. Mahler wird vorgeworfen, die Anschläge auf World Trade Center und Pentagon begrüsst zu haben. Im NPD-Verbotsverfahren vertrat Mahler die Partei als Prozessbevollmächtigter. Kurz nach der Einstellung des Verfahrens durch das Bundesverfassungsgericht in der letzten Woche verkündete Mahler, er habe sich von der NPD getrennt. Frank Jansen

 

 

 

Dienstag, 25. März 2003

Jugendliche gesucht, die sich einmischen wollen

 

Stralsund (OZ) Junge Leute, die in der Hansestadt etwas bewegen wollen, die mit dafür sorgen wollen, dass Wünsche der jungen Generation mehr Berücksichtigung finden, sind am morgigen Mittwoch um 17 Uhr in den Speicher Katharinenberg eingeladen.

   Bei dem Treffen soll an eine Jugendkonferenz vom 13. Dezember angeknüpft worden, die im Rahmen des Xenos-Projektes gegen Fremdenfeindlichkeit von der Kooperationsstelle Wissenschaft und Arbeitswelt MV organisiert worden war. Damals hatten viele Mädchen und Jungen über ihre Sorgen und Probleme in der Schule und im Wohngebiet gesprochen.

   „Nun wollen wir es gemeinsam in die Hand nehmen und Kontakt zu den Kommunalpolitikern unserer Stadt aufnehmen“, so Projektleiterin Martina Renken-Kirchhoff. Nähere Informationen gibt es bei ihr (Tel.: 45 68 89) oder bei Michael Steiger (Tel.: 03834/77 21 072).

 

 

Dienstag, 25. März 2003

"Hallo Nazi":

Premiere in Parchim

Wenn Fäuste und Weltbilder aufeinander prallen

Parchim (dpa) Am Landestheater Parchim ist am Sonnabend erstmals in Mecklenburg-Vorpommern das Stück "Hallo Nazi" aufgeführt worden. Die Zuschauer auf den vollbesetzten Rängen der Studiobühne bedachten die drei Schauspieler mit lang anhaltendem Applaus. In dem von Theaterleiter Thomas Ott-Albrecht inszenierten Stück prallen in einer Gewahrsamszelle ein junger Neonazi und ein Schwarzarbeiter aus Polen mit ihren Weltbildern und Fäusten aufeinander. Der konfliktreiche Stoff soll vor allem vor Schülern aufgeführt werden.

Das Stück war nach längeren Recherche in der Szene von der Autorengruppe Monoblock vorgelegt worden und hatte im September 2001 gleichzeitig in Dresden und Berlin seine Uraufführung erlebt. Es beschreibt das Zusammentreffen eines Rechtsradikalen und eines in Deutschland lebenden Polen. Dieser und zwei seiner Landsleute waren unmittelbar zuvor von einer Gruppe Neo-Nazis überfallen worden, zu der auch der inhaftierte Jugendliche gehörte. Der frustrierte Kleinstadt-Polizist - hin- und hergerissen zwischen eigenen Vorurteilen, Kleinstadtmief und Pflichtbewusstsein - gerät zwischen die Fronten.

Für die Rolle des Polen erhielt Lutz Leyh den besonderen Applaus des Premierenpublikums. Mit der Gestaltung des Bühnenbilds, das auch den Zuschauerraum in die Zelle mit einbezieht, gelang es Christine Jacob, die Besucher unmittelbar am Geschehen zu beteiligen.

Das Stück sei ein Beitrag zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus, die gerade auch nach dem gescheiterten NPD-Verbot weiterhin enorm wichtig sei, so Regisseur Ott-Albrecht. Das Theaterensemble, das "Hallo Nazi" bis Spielzeitende 15 Mal in Parchim und später zudem bei Gastspielen in anderen Bundesländern aufführen will, wolle sich der Diskussion mit dem meist jugendlichen Publikum stellen.

Die nächsten Vorstellungen: am 27. 3. und am 1. 4. um 10 Uhr sowie am 4. 4. um 19.30 Uhr. Karten unter: 03871 226601.

 

 

13/2003

 

NPD-Verbot

Wir sind ja so antifaschistisch

Erst waren fast alle Politiker gegen ein Verbot der NPD, dann plötzlich dafür. Chronik eines Irrwegs

Von Toralf Staud

Berlin

Hinterher ist man immer klüger. Das Tragische am NPD-Verbotsverfahren ist, dass in diesem Fall die meisten Beteiligten schon vorher klüger waren. Er „neige eher zur Skepsis“, sagte Bundesinnenminister Otto Schily im August 2000, als die Debatte um ein Verbot der rechtsextremistischen Partei gerade begonnen hatte. „Das Bundesverfassungsgericht hat sehr hohe Hürden für das Verbot einer Partei errichtet.“

Anfangs hat kaum jemand den Gang nach Karlsruhe wirklich gewollt. Fast alle Fachleute aus Polizei und Justiz rieten ab. Jeder wusste, dass die Illegalisierung einer Partei demokratisch bedenklich und ihr Nutzen im Kampf gegen Rechtsextremismus zweifelhaft ist. Der bayerische Innenminister Günther Beckstein trat die Diskussion am 1. August 2000 los, und damals habe er sich, sagt Beckstein im Rückblick, gefühlt, als stehe er „allein auf der Zugspitze in einem Orkan“. Doch nur wenig später beantragten Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag beim Bundesverfassungsgericht einmütig das Verbot der NPD. Dazwischen hatten die Politiker einander unter Druck gesetzt, jeder wollte am tatkräftigsten erscheinen, wollte die vermeintlichen Erwartungen der Öffentlichkeit bedienen. Am Ende gab es kein Zurück mehr. Der Streit um das NPD-Verbot ist ein Lehrstück für die Eigendynamik symbolischer Politik.

Die Debatte hatte einen langen Vorlauf gehabt. Anfang 2000 provozierte die NPD den Streit mit zahlreichen Demonstrationen: Skinheads marschierten durchs Brandenburger Tor, Neonazis schwenkten ihre Fahnen Unter den Linden in Berlin. Weil die NPD das Parteienprivileg genießt, konnten die Aufmärsche nicht verboten werden. Da schlug die Berliner ÖTV-Vorsitzende Susanne Stumpenhusen vor, die Partei selbst für ungesetzlich zu erklären. Das war im März 2000. Die öffentliche Reaktion: Schweigen.

Kurz vor Ostern wurde ein Brandanschlag auf die Synagoge in Erfurt verübt. Nun war die Reihe an dem Thüringer Innenminister Christian Köckert, ein Verbot der NPD zu verlangen. Das Bundesinnenministerium wies den Vorstoß zurück. Sprecher Rainer Lingenthal warnte vor „Schnellschüssen und unbedachten Forderungen“. Am 1. Mai demonstrierte die NPD wieder in zahlreichen Städten, jetzt war es der sächsische DGB-Vorsitzende Hanjo Lucassen, der die Verbotsidee aufgriff. „Ach, ich halte das eigentlich im Grunde genommen alles für Forderungen, die wohlfeil sind“, erwiderte Bundesjustizministerin Hertha Däubler-Gmelin im Südwestrundfunk. Ein Parteiverbot führe nicht weiter im Kampf gegen den Rechtsextremismus.

Es folgte eine Kette spektakulärer rechtsextremistischer Gewalttaten. In Dessau traten drei Jungnazis den Mosambikaner Alberto Adriano zu Tode. In Dortmund erschoss ein durchgedrehter Rechter drei Polizisten. Plötzlich meldeten die Medien fast täglich Angriffe auf Ausländer, Obdachlose und linke Jugendliche. Am 26. Juni schließlich wurden bei einem – bis heute ungeklärten – Bombenanschlag am Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn zehn jüdische Auswanderer aus der ehemaligen Sowjetunion verletzt. Politik und Öffentlichkeit waren aufgerüttelt. Die Republik lernte den Begriff „national befreite Zone“ kennen und suchte nach durchgreifenden Maßnahmen gegen die rechtsextremen Umtriebe. SPD und Grüne bekannten sich zur Weltoffenheit der Republik, verdammten Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – und warfen CDU/CSU vor, daran Mitschuld zu tragen. Die Landtagswahlkämpfe der Union in Hessen 1999 und Nordrhein-Westfalen 2000 („Kinder statt Inder“) hätten das gesellschaftliche Klima vergiftet. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erklärte: „Die Art und Weise, in der gelegentlich Politiker über Einwanderung, Asyl und Ausländer reden, ist hochgefährlich.“ (ZEIT Nr. 31/00)

Alle gemeinsam im sinkenden Boot

So konnte es nicht weitergehen. Am 1. August trat der bayerische Innenminister vor die Presse und forderte „eine Rechts- und Sicherheitspolitik, die alle Möglichkeiten der Prävention und der Repression ausschöpft“. In Bayern werde bereits nach dieser Prämisse gehandelt, sagte Günther Beckstein. Von der Bundesregierung verlangte er, in Karlsruhe ein Verbot der NPD zu beantragen. Anders als noch im Frühjahr war jetzt der Boden für eine hektische Debatte bereitet.

Unverzüglich unterstützte Niedersachsens Ministerpräsident Sigmar Gabriel die bayerische Initiative. Sein Innenministerium hatte schon im März die Chancen für ein Verbot geprüft – und für gut befunden. Auch Bundesumweltminister Jürgen Trittin und Saarlands Ministerpräsident Peter Müller äußerten sich zustimmend. Ansonsten aber hagelte es Ablehnung. Grünen-Chefin Renate Künast nannte die Idee „juristisch unsinnig“. Becksteins nordrhein-westfälischer Kollege Fritz Behrens sagte, er sehe für eine Verbotsklage keine Aussicht auf Erfolg. So gut wie alle Verfassungsschützer rieten von dem Schritt ab. Berlins Innensenator Eckart Werthebach erklärte: „Wenn ich heute die NPD verbiete, dann wird morgen eine neue Organisation entstehen.“ Für das Bundesinnenministerium gab Staatssekretärin Cornelie Sonntag-Wolgast zu Protokoll, ein Verbot sei „nicht ratsam“. Und Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye mahnte, die Verbotsdebatte dürfe „nicht von der eigentlichen Aufgabe ablenken, den gesellschaftlichen Widerstand gegen rechtsextremistische Gewalt zu organisieren“. Vergeblich. Die NPD-Frage dominierte in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus.

Die Bundesregierung war kalt erwischt worden. Gerhard Schröder erholte sich auf Mallorca, Otto Schily weilte in der Toskana. Günther Beckstein verschob seinen Urlaubsbeginn, als er sah, welche Kreise sein Vorstoß zog. Er stand nun als schärfster Kämpfer gegen den Rechtsextremismus da und trieb fortan die Skeptiker vor sich her.

Gemeinsam mit seinem Ressortkollegen aus Baden-Württemberg forderte Beckstein am 3. August eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Prüfung des Verbots. Das Haus Schily bezeichnete ein solches Gremium als „überflüssig“. Die Nachrichtenagenturen schrieben zwar noch, ein Verbot werde „immer unwahrscheinlicher“, weil der Bund und eine Mehrzahl der Länder dagegen seien. Doch die Kritiker fielen um wie Dominosteine. Am 3. August war Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe noch dagegen, am Tag darauf plötzlich dafür. Thüringens Innenminister Köckert, der im April ein NPD-Verbot gefordert hatte, lehnte es Anfang August ab und wurde dann doch wieder zum Unterstützer. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Von Mallorca aus musste der Bundeskanzler mit ansehen, wie die CSU ihm im Kampf gegen die Neonazis den Rang ablief. Die ablehnende Haltung der Bundesregierung gegenüber der Beckstein-Initiative wurde im Ausland als unsensibel empfunden. Der Kanzler führte ein lautstarkes Telefonat mit seinem Regierungssprecher Heye. Am Nachmittag des 4. August folgte die überraschende Pressemitteilung: Der Bund wolle, dass eine Arbeitsgruppe „schnellstmöglich zusammentreten und ihre Arbeit aufnehmen kann“.

Im Prinzip war das NPD-Verbotsverfahren damit schon nicht mehr aufzuhalten. Zwar sollten die Fachleute erst einmal bloß die Argumente und Erfolgsaussichten prüfen. Zwei Unter-AGs wurden gebildet: Die eine sammelte Belege für die Verfassungswidrigkeit der NPD, die andere prüfte die Erfolgsaussichten einer Klage. Diese zweite Untergruppe warnte bis zuletzt vor dem Risiko eines Gangs nach Karlsruhe und bezweifelte die Verhältnismäßigkeit eines Parteiverbots. Aber darum ging es längst nicht mehr. Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin erklärte: „Wenn das Verbot möglich ist, machen wir es.“ Im aufgeregten Sommer 2000 wäre es wohl bereits als „Persilschein“ für die NPD aufgefasst worden, hätte eine Regierungskommission erklärt, die Verfassungswidrigkeit der Partei lasse sich nicht zweifelsfrei belegen. Am 11. August traf sich die Arbeitsgruppe erstmals.

In der folgenden Woche ging Gerhard Schröder – gerade aus Mallorca zurückgekehrt – in die Offensive und gab Bild am Sonntag ein energisches Interview. Das NPD-Verbot sei „ein Stück politischer Hygiene“, sagte er und schlug vor, Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag sollten das Verfahren gemeinsam auf den Weg bringen. So demonstriere man Einigkeit. Genauso wichtig dürfte dem Kanzler gewesen sein, bei einem eventuellen Schiffbruch alle Parteien im sinkenden Boot zu haben.

Koch und Stoiber brüllten sich an

Obwohl Otto Schily noch immer Vorbehalte gegen den Verbotsantrag hatte, setzte er ihn in den folgenden Wochen gemeinsam mit Beckstein und dem niedersächsischen Innenminister Heiner Bartling durch. Die FDP war als einzige Partei geschlossen dagegen, CSU und PDS votierten ebenso geschlossen dafür. CDU, SPD und Grüne waren gespalten, wobei unter den Christdemokraten die Skepsis zu-, unter den Sozialdemokraten abnahm. In der Union argumentierte Roland Koch prinzipiell gegen das Verbot. Er und Edmund Stoiber brüllten sich bei einem „Kamingespräch“ der Ministerpräsidenten Ende Oktober im Schweriner Schloss regelrecht an.

Der September verlief ruhig. Die Politik diskutierte wieder andere Themen: etwa, ob Spendensünder Helmut Kohl beim Staatsakt zum zehnten Jahrestag der Wiedervereinigung reden dürfe. In der Nacht zum 3. Oktober aber wurde in Düsseldorf ein Brandanschlag auf eine Synagoge verübt – von zwei arabischen Jugendlichen, wie sich Monate später herausstellen sollte. Doch zunächst wurde die Tat Neonazis zugeschrieben. Das Entsetzen war groß. Gerhard Schröder eilte in die Synagoge, blickte betroffen auf die verrußte Eingangstür, sprach eine Stunde lang mit Paul Spiegel, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden. Spiegel hatte direkt nach dem Anschlag öffentlich infrage gestellt, ob Juden weiterhin in Deutschland leben könnten. Schröder war klar: Es musste etwas geschehen. Gegenüber Paul Spiegel gelobte er, das NPD-Verbot durchzuziehen. Hinterher rief er die Deutschen zum „Aufstand der Anständigen“ auf.

Nur zwei Tage später – die Bund-Länder-Arbeitsgruppe hatte ihre Prüfungen noch nicht beendet – verkündete Otto Schily: Die Entscheidung für das Verbotsverfahren sei gefallen. Mit „Detailfragen“ wie der Unterwanderung der NPD durch V-Leute beschäftigten er und seine Länderkollegen sich nicht. Am 31. Januar 2001 reichte die Bundesregierung ihren Antrag in Karlsruhe ein. Ein Misserfolg, sagte Schily, sei „sehr unwahrscheinlich“.