Samstag, 17. Mai 2003
Verfassungsschutz-Spitzel vereitelte den Erfolg
der Aktion. Behörden hielten den Vorgang zwei Jahre lang geheim
Von Frank Jansen
Potsdam. Ein halbes Jahr nach der Verurteilung des Verfassungsschutz-Spitzels
Toni S. bahnt sich in Brandenburg eine noch größere V-Mann-Affäre an. Nach
gemeinsamen Recherchen des Tagesspiegels und der in Potsdam erscheinenden
„Märkischen Allgemeinen Zeitung“ erfuhr im Februar 2001 ein rechtsextremer
V-Mann des Verfassungsschutzes von einer geplanten Polizei-Razzia und verriet
sie an einen einschlägig bekannten Neonazi. Der Spitzel hat möglicherweise
enormen Schaden angerichtet: Die Polizei hoffte, bei der Razzia auch Hinweise
auf Mitglieder der Terrorgruppe „Nationale Bewegung“ zu finden, die in Potsdam
und Umgebung Brandanschläge und andere Delikte verübt hat. Als die „Nationale
Bewegung“ Anfang Januar 2001 an der Trauerhalle des Potsdamer Jüdischen
Friedhofs zündelte, zog Generalbundesanwalt Kay Nehm die Ermittlungen an sich –
bis heute ohne Erfolg.
Die Razzia sollte die rechte Szene massiv verunsichern. Doch dann bekamen
Polizei und Verfassungsschutz selbst ein Problem. Es war der 6. Februar 2001,
ein V-Mann des Verfassungsschutzes griff zum Telefonhörer. Am anderen Ende der
Leitung saß Sven S., eine bekannte Größe im Skinhead-Milieu. Sven S. erfuhr
interessante Neuigkeiten: Am 17. Februar werde die Potsdamer Polizei
zuschlagen. Mit einer größeren Durchsuchung. Was der V-Mann nicht wusste: Das
Landeskriminalamt hörte seinen Gesprächspartner ab. Prompt informierten die
Experten des LKA das Polizeipräsidium Potsdam, die geplante Razzia sei verraten
worden. Am 7. Februar rauchten im Präsidium die Köpfe: Soll die Durchsuchung
abgesagt werden? Kann man sie vorziehen? Sind ad hoc überhaupt genügend Beamte
und Fahrzeuge vorhanden? Die Entscheidung fiel am Nachmittag. Mit allen
verfügbaren Streifenwagen schwärmten 200 Beamte in Potsdam und der südlichen
Umgebung aus. Doch in den Wohnungen der 19 Zielpersonen, allesamt hartgesottene
Neonazis, fand sich, wie nach dem Verrat des V-Manns befürchtet, nur
szenetypischer Kleinkram – ein paar Hass-CDs, zwei Computer, Fahnen,
Baseballschläger.
Mehr als zwei Jahre lang haben Innenministerium und Sicherheitsbehörden die
V-Mann-Affäre vor der Öffentlichkeit verborgen. Andeutungen waren erst zu
hören, nachdem im November 2002 das Berliner Landgericht den vom Brandenburger
Verfassungsschutz geführten V-Mann Toni S. zu einer Bewährungsstrafe verurteilt
hatte.
In Brandenburger Sicherheitskreisen ist strittig, wer den Verrat der Razzia zu
verantworten hat. Verfassungsschutz, LKA und Polizeipräsidium Potsdam äußern
sich offiziell nicht. Bei Sicherheitsexperten gibt es zwei Fraktionen, die
unterschiedliche Versionen anbieten. Die Verteidiger des Verfassungsschutzes
sagen, der V-Mann habe den Hinweis auf die Razzia von der Polizei erhalten. In
einer Kneipe in Borkwalde soll ein Polizist so laut über die Durchsuchung
geredet haben, dass der zufällig anwesende V-Mann alles hörte. Der Spitzel soll
auch in dem Telefonat mit dem Neonazis Sven S. geäußert haben, er wisse von der
Polizei, was bevorstehe.
Die Fürsprecher der Polizei bezeichnen diese Geschichte als Märchen. Sie
verweisen auf den für den Spitzel zuständigen V-Mann-Führer des
Verfassungsschutzes. Der Beamte hatte Anfang 2001 seinen V-Mann vor Maßnahmen
der Polizei gewarnt. Aber ohne konkrete Angaben, entgegnen die Verteidiger des
Verfassungsschutzes. Dies habe der V-Mann-Führer in einer dienstlichen
Erklärung beteuert.
Als Generalbundesanwalt Kay Nehm von den Recherchen des Tagesspiegels und der
„Märkischen Allgemeinen Zeitung“ erfuhr, schickte er vergangene Woche einen
Vertreter nach Potsdam. Anschließend leitete dort die Staatsanwaltschaft ein
Ermittlungsverfahren ein: wegen des Verdachts, vor der Razzia vom Februar 2001
seien Dienstgeheimnisse ausgeplaudert worden. Die Staatsanwaltschaft benötigt
jedoch für ihre Ermittlungen eine Ermächtigung des Innenministeriums. Dieses
sagt nur: „Zu laufenden Ermittlungen nehmen wir keine Stellung.“
Samstag, 17. Mai 2003
CHRONIK
10. Januar 2000: Ein Potsdamer Kommunalpolitiker erhält einen Drohbrief
einer „Bewegung für eine neue deutsche Nation“.
30. Januar 2000: Am Jahrestag der Ernennung Adolf Hitlers zum
Reichskanzler findet die Polizei an der Autobahn 115 nahe der Berliner
Landesgrenze eine Holztafel mit einem aufgesprühten Hakenkreuz.
23. Februar 2000: Auf dem jüdischen Friedhof in Potsdam wird zwischen
zwei Grabsteinen ein Holzkreuz mit der Aufschrift „Die Nationale Bewegung
gedenkt dem durch jüdische Kommunisten ermordeten SA-Helden Horst Wessel zum
70. Todestag 23. 02. 30“ abgelegt. Einen Tag später bezichtigt sich ein Anrufer
der „Nationalen Bewegung“ gegenüber „Radio 1“ der Tat.
22. März 2000: An einer Potsdamer Eisenbahnbrücke wird eine rote Fahne
mit Hakenkreuz und dem Datum „21.03.33“ angebracht. In einem Bekennerbrief
feiert die „Nationale Bewegung“ Adolf Hitler.
29. März 2000: Der schon im Januar belästigte Potsdamer
Kommunalpolitiker erhält ein weiteres Drohschreiben.
21. April 2000: An einem Werbegerüst in Potsdam hängt eine Fahne mit
Hakenkreuz. Am Sockel des Gerüsts liegt ein Bekennerbrief mit Bezug zu Hitlers
Geburtstag.
8. Mai 2000: Am Jahrestag der Kapitulation der Wehrmacht wird in
Stahnsdorf ein russisches Ehrenmal mit einem Hakenkreuz aus Spanholz beklebt.
Außerdem legt die „Nationale Bewegung“ ein Bezichtigungsschreiben ab.
13. Juni 2000: In Kleinmachnow wird ein türkischer Imbiss angezündet.
Menschen kommen nicht zu Schaden.
30. August bis 6. September 2000: Auf dem sowjetischen Ehrenfriedhof in
Mahlow werden Hakenkreuze und Worte wie „Mörder“ geschmiert. Die Polizei findet
ein Bekennerschreiben der „Nationalen Bewegung“.
20. September 2000: An der Potsdamer „Villa Grenzenlos“ werden
NS-Symbole und die Parole „Juden raus“ gesprüht. Über einer Infotafel hängt ein
Transparent mit der Aufschrift „Potsdam ohne keine Juden“. Auf einem
Fensterbrett liegt ein Bekennerbrief.
21. September 2000: In Stahnsdorf brennt ein türkischer Imbisswagen. In
der Nähe des Tatorts liegt eine Geldkassette mit einem Bekennerschreiben.
13. November 2000: In Potsdam geht beim Chefredakteur der „Märkischen
Allgemeinen Zeitung“ ein Brief mit Drohungen gegen die Jüdische Gemeinde im
Land Brandenburg ein. Einen Tag später erhält die Jüdische Gemeinde ein gleich
lautendes Schreiben.
28. Dezember 2000: In Trebbin wird ein türkischer Imbiss angezündet. In
einer Stahlblechkassette im Brandschutt finden sich Reste eines Bekennerbriefs.
8. Januar 2001: Brandanschlag auf die Trauerhalle des Jüdischen
Friedhofs in Potsdam. Die Tür der Halle wird teilweise zerstört, das Gebäude
durch Ruß beschädigt. In der Nähe liegt eine Plastiktüte mit einem
Bekennerschreiben.
15. Januar 2001: Das Potsdamer Wohnheim für jüdische Zuwanderer erhält
ein Päckchen mit verdorbenem Fleisch und einem Bekennerschreiben voller
Hassparolen.
30. Januar 2001: Bei der brandenburgischen Ausländerbeauftragten geht
ein Drohschreiben ein, in dem die „Nationale Bewegung“ einen Anschlag auf eine
Veranstaltung im Potsdamer Hans-Otto-Theater ankündigt. Am Abend des 30. Januar
liest dort der deutsch-türkische Schauspieler Serdar Somuncu aus Hitlers „Mein
Kampf“. Die Polizei sichert die Veranstaltung, der Anschlag bleibt aus. Frank
Jansen
Samstag, 17. Mai 2003
Jugendrichterin Sigrun von Hasseln über die
Verrohung Minderjähriger und darüber, was der Staat dagegen tun kann
Zwei 15-Jährige ermorden einen Lehrer, ein 17-Jähriger tötet eine
Rentnerin, um ihr zehn Euro zu rauben, und Rechtsradikale schlagen auf ein
Opfer ein, bis der Baseballschläger zerbricht. Täuscht der – auch von den
Medien vermittelte – Eindruck, oder gehen junge Straftäter immer brutaler vor?
Leider täuscht der Eindruck nicht. Wir haben es immer häufiger mit
Jugendlichen zu tun, die keinerlei psychische Auffälligkeiten zeigen und
unvermittelt schwere Straftaten begehen – zum Beispiel auch Menschen töten.
Und das war früher nicht so?
Nein. Natürlich hat es schon immer Mord und Totschlag gegeben. Aber in
der Regel hatten Mörder oder Totschläger ein Motiv. Das rechtfertigte die Taten
nicht, konnte sie aber in gewisser Weise erklären. Gerade bei jungen Menschen
ging es häufig um Beziehungskisten. Jetzt aber töten sie ohne ersichtlichen
Grund. Hemmschwellen scheint es nicht mehr zu geben. Das ist ein Phänomen, auf
das die Gesellschaft reagieren muss.
Wie reagiert die Justiz?
Ich bin angesichts dieser Verrohung für eine Verschärfung des
Jugendstrafrechts. Stellen Sie sich einmal vor, Robert Steinhäuser, der
Attentäter von Erfurt, hätte überlebt und zehn Jahre Jugendstrafe bekommen. Ich
bin auch für ein noch differenzierteres Herangehen bei jungen Menschen, die
eben in ihrer Entwicklung noch nicht fertig sind. Außerdem sollte der
Opferschutz verbessert werden.
Und was ist mit der Ursachenforschung?
Wir holen in unseren Verfahren zusätzliche kriminalsoziologische
Gutachten über die betreffenden Täter ein, um zu prüfen, ob auch
gesellschaftsbedingte oder sonstige Faktoren im Sinne der Kriminologie als
Ursachen herangezogen werden müssen.
Das läuft dann unter „schwere Kindheit“?
Eben nicht. Es soll geprüft werden, welche Faktoren zur Verrohung
junger Menschen beitragen. Das müssen wir verfolgen. Sonst fallen wir in die
Barbarei zurück oder ziehen eine Generation heran, die nur noch durch einen
Polizeistaat gebändigt werden kann. Das wäre das Ende der Demokratie, die davon
lebt, dass Menschen freiwillig gewisse Regeln im Umgang miteinander einhalten. Und
genau dies muss man jungen Menschen heutzutage offenbar neu vermitteln.
Haben Sie deshalb die Initiative der Jugendrechtshäuser ins Leben
gerufen?
Sie hat sich zumindest aus einer solchen Überlegung entwickelt. Ich war
damals Richterin im niedersächsischen Oldenburg. Mit einigen Kollegen überlegte
ich, wie man jungen Menschen Recht vermitteln könnte. Sie setzen Recht ja oft
mit Verboten gleich. Aber Recht hat etwas Positives, es ermöglicht
Zusammenleben von Menschen.
Wie sieht das konkret aus?
Jugendrechtshäuser sind Anlaufstellen für junge Leute, aber auch für
Eltern und Lehrer, wenn es Fragen oder Probleme gibt. Hier gibt es kostenlose
Beratung durch Rechtsanwälte, zum Beispiel, wenn jemand aus einer kriminellen
Clique aussteigen möchte. Der Vorteil ist, dass keine Akte angelegt wird, wie
das ein Staatsanwalt tun müsste. Hier greift die anwaltliche Schweigepflicht,
der junge Mensch kann selbst entscheiden, ob er sich stellt oder mit Opfern in
Kontakt tritt. Das halten wir für sehr wichtig.
Wird das Jugendrechtshaus erst aktiv, wenn einer kriminell geworden ist?
Nein, wir setzen auf Prävention. Rechtsanwälte, Richter und
Staatsanwälte gehen in Schulen, Ausbildungsbetriebe oder Jugendklubs. Dort
klären sie rechtliche Probleme und versuchen, jungen Menschen die rechtlichen
Regeln nahe zu bringen.
Wie?
Indem sie beispielsweise Rollenspiele durchführen, in denen der
Schwächste in der Klasse mal einen Schläger spielt und einer, der sonst gerne
mal zulangt, das Opfer.
Spielen die Eltern immer noch die wichtigste Rolle bei der Erziehung?
Ganz eindeutig – ja. 90 Prozent der Schläger, die vor Gericht stehen, kommen
aus Familien, in denen auch geschlagen wurde.
Das Gespräch führte Sandra Dassler.
Samstag, 17. Mai 2003
Zeitungen: Erneut Verfassungsschutzaffäre in Brandenburg
Potsdam
(ddp-lbg). In Brandenburg gibt es erneut eine Verfassungsschutzaffäre. Ein
rechtsextremer Spitzel des Brandenburger Verfassungsschutzes habe im Februar
2001 eine Razzia der Polizei an einen Neonazi verraten, berichten der Berliner
«Tagesspiegel» und die Potsdamer «Märkische Allgemeine» am Samstag.
Das Gespräch sei
von Beamten des Landeskriminalamtes mitgeschnitten worden, hieß es in den
Blättern. Die Polizei habe daraufhin die Durchsuchungsaktion um zehn Tage
vorgezogen. Dennoch seien nur szenetypische Utensilien wie Fahnen und
Baseballschläger gefunden worden.
Die Polizei
hatte dagegen nach Recherchen der beiden Blätter gehofft, dort auch Hinweise
auf die Terrorgruppe «Nationale Bewegung» zu finden, die seit Januar 2000
zahlreiche Straftaten bis hin zu Brandanschlägen unter anderem auf die
Trauerhalle des Jüdischen Friedhofs in Potsdam begangen haben soll. Die
Ermittlungen von Generalbundesanwalt Kay Nehm seien bislang erfolglos
geblieben.
Als Nehm von den
Recherchen der beiden Blätter erfahren habe, habe er einen Vertreter nach
Potsdam entsandt. Die dortige Staatsanwaltschaft habe daraufhin ein
Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des Verrats von Dienstgeheimnissen im
Februar 2001 eingeleitet.
Samstag, 17. Mai 2003
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Weimar. (tlz) Vor den Präsidenten deutscher Verfassungsgerichte hat am Freitag Weimars OB dafür geworben, dass Verbot der NPD doch noch durchzusetzen und entschieden gegen Nazi-Aufmärsche vorzugehen. Es betonte, dass es gerade in Zukunft möglich sein müsse, "Aufmärsche der Rechtsradikalen in den Straßen dieses historisch so sensiblen Ortes nicht mehr zuzulassen". Diesen Wunsche lese er übrigens auch in vielen brieflichen Anfragen aus Israel oder den USA. Rechte Aufmärsche müssten von der Stadt seit drei Jahren regelmäßig ertragen werden, beklagte das Stadtoberhaupt. Wie der OB weiter betonte, schließe sich Weimars Bevölkerung unter dem Motto "Bunte Vielfalt gegen braune Einfalt" jedes Mal neu "gegen den braunen Spuk" zusammen. Germer lobte ausdrücklich die Rolle der Medien. Die Präsidenten der Verfassungsgerichte hielten in Weimar ihre Jahrestagung ab. "Schon Michail Gorbatschow und Helmut Kohl saßen in unserem Rathaus-Saal und haben vom Geiste Weimars Anregungen mitgenommen": Mit diesen Worten begrüßte Germer die Präsidenten. Landtagspräsidentin Christine Lieberknecht wertete bereits am Donnerstag die in den neuen Ländern eingeführte Verfassungsgerichtsbarkeit als eines der wesentlichen Ergebnisse der friedlichen Revolution. |
Samstag, 17. Mai 2003
GRADUIERTENKOLLEG
Ursachen von Ablehnung und Ausgrenzung
MARBURG. Die Marburger Philipps-Universität erhält zwei
neue Graduiertenkollegs zu den Themen "Gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit" sowie "Gehirn und Verhalten", die von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert werden. Die Doktoranden des Kollegs
zur Menschenfeindlichkeit untersuchen gemeinsam mit Wissenschaftlern der
Universitäten Gießen und Bielefeld Ausmaß, Erscheinungsformen, Ursachen und
Konsequenzen von Ablehnung und Ausgrenzung. Unter gruppenbezogener
Menschenfeindlichkeit wird die Ablehnung "fremder" Gruppen
verstanden, beispielsweise Zugewanderte und Menschen jüdischen Glaubens, aber
auch Homosexuelle, Behinderte oder Obdachlose. Dabei geht es insbesondere um
Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Heterophobie und
Etabliertenvorrechte. "Gehirn und Verhalten" verspricht den
Doktoranden eine interdisziplinäre neurowissenschaftliche Ausbildung auf hohem
Niveau. Dabei geht es in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus Gießen um die
Frage, wie unterschiedliche Sinnesreize vom Organismus aufgenommen werden und
das Verhalten steuern. gec
Samstag, 17. Mai 2003
Bei der Beschimpfung "Schwarze Sau"
lächelt Schiedsrichter Selam Hagos
Der Unparteiische aus Eritrea wird beim Pfeifen kaum mit Rassismus
konfrontiert, wohl aber sein kickender Bruder Jonathan
Von Joachim Göres (Uelzen)
Teutonia Uelzen gegen TuS Heeslingen, ein Spiel kurz vor
Ende der Saison in der Niedersachsenliga. Die Uelzener Fußballer brauchen
dringend drei Punkte, um den drohenden Abstieg aus der fünften Liga abzuwenden,
für Heeslingen geht es um nichts mehr. Ein Uelzener Stürmer kommt im Heeslinger
Strafraum zu Fall, die Fans fordern lautstark Elfmeter, doch der Pfiff bleibt
aus. "Schwarze Sau!", brüllt ein aufgebrachter Anhänger. Einige
Zuschauer grinsen, andere schauen sich verunsichert an. Die Uelzener Spieler reklamieren
nicht, einer rennt sogar auf den Fan zu und ruft ihn eindringlich zur Ordnung.
Schiedsrichter Selam Hagos lächelt - er stammt aus Eritrea und seine Hautfarbe
ist dunkel.
"Wenn ich irgendwo das erste Mal pfeife, dann ist anfangs schon eine
gewisse Skepsis zu spüren. Doch wenn die anderen merken, dass ich ein
unfallfreies Deutsch spreche, ist die Distanz schnell überwunden. Nach dem
Spiel werde ich oft gefragt, wann ich denn mal wiederkomme", erzählt Hagos
nicht ohne Stolz.
Er war fünf Jahre alt, als seine Eltern auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in
Eritrea nach Deutschland kamen. Selam Hagos wuchs im niedersächsischen Celle
auf, wo er auch zur Schule ging. "Da gab es schon mal Bemerkungen wie
Negerkuss, wenn mich jemand ärgern wollte. Das hat mich aber nicht
geärgert." Sich weder provozieren noch einschüchtern lassen, freundlich
auf Menschen zugehen, schnell Kontakte knüpfen - nach diesem Rezept lebt Hagos
bis heute.
Diese Fähigkeiten sind in seinem Beruf als selbstständiger Handelsvertreter für
den Finanzdienstleister AWD gefragt - und so gibt er sich auch auf dem
Fußballplatz. Nach dem Spiel werden Schiedsrichter vom Gastgeber zum Essen
eingeladen - viele verabschieden sich schnell danach und halten Distanz.
Selam Hagos nimmt sich dagegen Zeit und ist für jeden Scherz zu haben. Auf dem
Spielfeld lächelt er viel, muntert die Spieler auf, lässt aber kein Meckern
durchgehen. "Der pfeift korrekt", heißt es bei den Uelzener Fans nach
dem Spiel, die nach dem 1:1 gegen Heeslingen ihren Frust nicht beim Schiri
abladen, sondern die Schuld für den Punktverlust bei der eigenen Mannschaft
suchen.
Rassismus auf dem Fußballplatz? Damit hat der 27-jährige Hagos in seinen 14
Jahren als Schiedsrichter nach eigenen Worten bislang so gut wie keine
Erfahrungen gemacht. "Die Reaktionen der Zuschauer bekomme ich meist gar
nicht mit, dafür bin ich zu konzentriert auf dem Spielfeld. Einer hat nach
einer Entscheidung von mir mal gerufen: ,Mensch, geh' doch dahin, wo die
Bananen wachsen!' Da haben die anderen Zuschauer ihm klar gemacht, dass es so
nicht geht. Darüber habe ich mich gefreut."
Und die Spieler? "In der Bezirksliga habe ich mal einem Spieler die rote
Karte wegen einer Tätlichkeit gezeigt. Der ging vom Platz und beleidigte mich,
in dem er auf meine Hautfarbe anspielte. Das habe ich in meinem Bericht
notiert, und der Spieler wurde lange gesperrt. Er hat sich später bei mir
persönlich entschuldigt." Selam Hagos weiß: Normalerweise wird ihn kein
Akteur beleidigen, weil er dann vom Platz fliegt.
Diesen Schutz hat sein jüngerer Bruder Jonathan nicht, der in der Bezirksklasse
als Stürmer spielt. "Ausländer werden von ihren Gegenspielern oft gezielt
beleidigt. Da werden Dinge gesagt, die unter die Gürtellinie gehen und auch die
Eltern betreffen, weil man gerade junge Ausländer so am besten provoziert. Oft
kommen sie dann zu mir und beschweren sich. Ich kann aber nur jemanden des
Feldes verweisen, wenn ich eine Beleidigung höre." Hagos glaubt, dass
solche Dinge nach Spielschluss vergessen sind - wer seinen Gegenspieler mit
rassistischen Äußerungen provoziere, suche nur seinen Vorteil, mit der eigenen
Einstellung zu Ausländern habe dies nichts zu tun.
Nachdenklich macht ihn allerdings ein Spiel seines Bruders vor kurzem.
"Seit Jahren waren meine Eltern erstmals auf dem Sportplatz, um sich
Jonathan anzuschauen. Ich kenne die gegnerische Mannschaft gut, zu mir sind sie
alle nett. Jonathan wurde von ihnen permanent provoziert, und selbst meine
Eltern wurden von einigen Spielern und Zuschauern beleidigt. Das verstehe ich
nicht."
Seit drei Jahren pfeift Hagos, der heute zusammen mit seiner Freundin in
Hannover lebt, Spiele der Niedersachsenliga. Als Linienrichter ist er auch in
der Oberliga im Einsatz. Seine größte Kulisse waren einmal in Emden 1500
Zuschauer. Höhere Klassen mit größerem Publikum, das würde den gelernten
Versicherungskaufmann reizen. Und wenn von 5000 Zuschauern 100 nach einer
Entscheidung gegen ihren Verein "Schwarze Sau!" rufen? Er grinst:
"Ach, selbst wenn es so wäre, ich würde mich schon allein freuen, dass 5000
Zuschauer da sind. Wenn die das rufen, ist mir das, glaube ich, ziemlich
Schnuppe." Kurze Pause und dann etwas nachdenklicher: "Keine
Ahnung."