Montag, 26. Mai 2003
Von Michael Mielke
Vier junge Männer in einem Gemenge aus rechtsradikalen Phrasen und literweise Alkohol: Im Neuruppiner Mordprozess müssen die Richter herausfinden, wie genau und warum der 17-jährige Schüler sterben musste und warum die drei anderen zu Mördern wurden.
Neuruppin - Die Erklärung scheint schlüssig: Natürlich war es dieser Film; ausgestrahlt im Fernsehen, auszuleihen in jeder gut sortierten Videothek. Diese Szene aus "American History X", in der ein Skinhead namens Derek einen farbigen Autodieb zwingt, in die Kante eines Bürgersteigs zu beißen und ihm einen tödlichen Tritt in den Nacken gibt. Bei einer Vernehmung hatte der 17-jährige Marcel S. - der sich ab heute mit zwei Kumpanen wegen gemeinschaftlichen Mordes vor dem Landgericht Neuruppin verantworten muss - plötzlich von dieser Szene erzählt. Und dass er sie am 12. Juli 2002 im uckermärkischen Dorf Potzlow mit aller Konsequenz nachgespielt habe.
Das Opfer war sein Freund Marinus Schöberl. Der 16-Jährige musste, nachdem er stundenlang gemartert worden war, in einen Futtertrog beißen. Ob er am Tritt gegen seinen Hinterkopf starb oder nachdem ihn seine Peiniger in der ausgetrockneten Jauchegrube eines verlassenen Schweinestalls verscharrten, ist nicht bekannt.
Wie die drei zu Mördern werden konnten, weiß niemand zu sagen. Das 560-Seelen-Dorf Potzlow ist aber nicht die rechtsextreme Hochburg, zu der es von vielen stilisiert wurde. Einer der drei Täter, der 23-jährige Marco, war wenige Tage vor dem Mord im Dorf wegen seiner rechtsradikalen Sprüche verprügelt worden. Es gibt im Nachbarort ein Jugendzentrum, das für die umliegenden Dörfer zuständig ist. Marcos jüngerer Brüder Marcel sei "oft gekommen", so Ina Schubert, Vorsitzende der Kindervereinigung Strehlow e.V. Man habe sich "vernünftig mit ihm unterhalten" können. Die Familie der Brüder schien intakt. "Die Kinder waren immer sauber und ordentlich gekleidet, die Eltern haben sich gekümmert", sagt der damalige Bürgermeister Peter Feike. Aber mit Marco waren sie wohl überfordert.
In "American History X", trägt Derek ein tätowiertes Hakenkreuz auf der Brust. Der mit 23 Jahren etwa gleichaltrige Marco S. aus Potzlow hat sich im Gefängnis auf die Wade den Spruch "Rotfront verrecke" tätowieren lassen. Marco hat einen Sprachfehler, besitzt nur den Abschluss der siebten Klasse, ist mit dem IQ 56 debil. Es heißt, er sei schon im Kindergarten gehänselt worden. Und das zieht sich dann durch sein ganzes Leben. Immer war er der Schwächere, der Verspottete. Dieses Gefühl hatten auch Bier und Schnaps, die er schon seit dem zwölften Lebensjahr trank, nicht ersticken können.
Bei einem seiner Prozesse, erzählt Verteidiger Matthias Schöneburg, habe Marco vom Hass auf Scheinasylanten gesprochen. Was Scheinasylanten seien, fragte der Richter. Marco zuckte mit den Schultern. Erfolg hatte er zumindest bei seinem 17-jährigen Bruder Marcel. Der kleidete sich erst als Hip-Hopper und färbte sich das Haar. Als Marco im Juli 2002 nach drei Jahren aus dem Gefängnis kam, ließ sich Marcel den Schädel rasieren.
Auch hier gibt es Parallelen zu "American History X", wo der ebenfalls kahl geschorene 16-jährige Danny seinen Bruder Derek nach einem Gefängnisaufenthalt empfängt. Doch hier driften dann Fiktion und Realität auseinander. Der Film-Derek hat sich im Knast von der rechten Szene abgewandt. Er ist intelligent, war bewusst Skinhead und ist es dann ganz bewusst nicht mehr. Aber Marco aus Potzlow will nicht raus aus dieser tätowierten Haut, die den Blick der anderen auf ihn lenkt und einen anderen Kerl aus ihm zu machen scheint, als diesen stotternden, schwerfälligen, belächelten.
Er wird darin an jenem 12. Juli bestärkt durch den 17-jährigen Sebastian, den Marcel bei einem berufsfördernden Lehrgang kennen lernte. Auch er kahl geschoren. Auch er Sonderschüler. Zu dritt ziehen sie durchs Dorf, trinken Unmengen Bier, fühlen sich stark und treffen schließlich auf Marinus. Der kleidet sich immer noch als Hip-Hopper. Das hatte bisher weder Marcel noch Marco gestört. Und das missfällt ihnen anfangs auch an diesem Tage nicht. Marinus läuft mit, trinkt mit, fühlt sich ebenfalls stark.
Doch die Stimmung schlägt unvermittelt um, als Sebastian sagt, Marinus sehe in seinen Schlabberhosen und mit seinem blond gefärbten Haar "wie ein Jude" aus. Es lässt sich viel hinein deuten in diesen Beginn eines entsetzlichen Szenarios, das der Neuruppiner Oberstaatsanwalt Gerd Schnittcher als "so grausam, dass man die Einzelheiten auch nicht ansatzweise schildern kann" umschreibt. Vielleicht war Marinus im Dunst des Alkohols ja tatsächlich ganz plötzlich der verhasste Hip-Hopper. Vielleicht war der lernbehinderte Junge, der wie Marco einen Sprachfehler hat, einfach nur der Schwächste in dieser Runde. In "American History X" gibt es am Ende einen Monolog des 16-jährigen Danny: "Hass ist Ballast. Das Leben ist einfach zu kurz dafür, dass man immer wütend ist." Der 17-jährige Marcel zeigte Dorfbewohnern vier Monate nach dem Mord, wo er und seine Kumpane die Leiche verbargen. Er soll das getan haben, um eine Handvoll Euro zu bekommen. Das passt trefflich zu dem Bild vom skrupellosen und dumpfen Neonazi. Vielleicht konnte er mit diesem Schweigen aber auch einfach nicht mehr leben.
Sonntag, 25. Mai 2003
Potsdam - Die Affäre um V-Leute des Brandenburger Verfassungsschutzes nimmt kein Ende. Nach Informationen des Nachrichtenmagazins Focus sollen leitende Beamte der Sicherheitsbehörden versucht haben zu vertuschen, dass ein Neonazi frühzeitig vor einer Polizei-Razzia gewarnt worden sei. Dabei gebe es außer dem bisher bekannten Informanten auch noch einen zweiten, den die Strafverfolger der Potsdamer Staatsanwaltschaft dem Blatt zufolge bei der Polizei vermuten. Das gehe aus den Protokollen mehrerer abgehörter Telefonate hervor.
Ein Sprecher des Innenministeriums wies die Behauptungen zurück und sprach von einem "untauglichen Versuch einer Skandalisierung von Polizei und Verfassungsschutz". Die Parlamentarische Kontrollkommission habe festgestellt, dass es keine V-Mann-Skandal gegeben habe und nichts vertuscht worden sei. Christoph Schulze, Vorsitzender der Kontrollkommission und SPD-Landtagsabgeordneter, wollte die Vorwürfe nicht kommentieren und sagte lediglich, die Kommission werden die Informationen zu dem Fall weiter verfolgen.
Dem Bericht zufolge belasten interne Vermerke auch Verfassungsschutz-Chef Heiner Wegesin. Der soll sich nach der verratenen Razzia in einer geheimen Sitzung dafür stark gemacht haben, den diskreditierten V-Mann zu behalten. Erst 18 Monate nach der fehlgeleiteten Durchsuchung sei dieser "abgeschaltet" worden. Auch der Chef des Landeskriminalamtes, Axel Lüders, sei vollständig über den Fall informiert gewesen.
Dem Landesverfassungsschutz droht zudem wegen einer früheren V-Mann-Affäre neuer Ärger. So will die Cottbuser Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen einen Verfassungsschutzbeamten der "Lausitzer Rundschau" zufolge nur einstellen, wenn dieser eine Geldauflage zahle. Der Beamte hatte den V-Mann Toni S. geführt, den das Berliner Landgericht im November 2002 wegen der Beteiligung an Produktion und Vertrieb rechtsextremer CDs mit Mordaufrufen zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilte. Der Staatsdiener soll den V-Mann bei illegalen Tätigkeiten zu stark unterstützt haben.
Montag, 26. Mai 2003
Vor einem Jahr wurde in Potzlow ein 16-Jähriger
brutal von Rechten ermordet. Heute beginnt in Neuruppin der Prozess gegen die
drei Täter.
Von Claus-Dieter Steyer
Neuruppin. Das Kreuz vor dem Eingang zum ehemaligen Schweinestall
von Potzlow in der Uckermark ist mit Unkraut überwuchert. Brennnessel wächst, wilde
Blumen, etwas Löwenzahn und dazwischen liegen Kranzschleifen, die vor ein paar
Monaten noch bunt glänzten. Die Kuscheltiere sind vom vielen Regen aufgeweicht.
Die Menschen in Potzlow machen offenbar einen großen Bogen um dieses Kreuz, das
an eines der brutalsten Verbrechen der jüngeren Vergangenheit in Brandenburg
erinnern soll. Der 16-jährige Schüler Marinus Schöberl kam hier auf „viehische
Art“ ums Leben, wie es der Leitende Oberstaatsanwalt Gert Schnittcher
formulierte.
Seine mutmaßlichen Mörder müssen sich ab dem heutigen Montag vor dem
Landgericht in Neuruppin verantworten. Angeklagt sind drei Männer im Alter von
17, 18 und 23 Jahren aus Potzlow und Templin. Die Staatsanwaltschaft wirft
ihnen Nötigung, gefährliche Körperverletzung, versuchten Mord und Mord vor. Sie
sollen am 12. Juli vergangenen Jahres den 16-Jährigen in einem stillgelegten
Stallgebäude „zur Verdeckung einer vorangegangenen Körperverletzung und aus
niedrigen Beweggründen getötet haben“, heißt es in der Anklageschrift der
Staatsanwaltschaft.
Marinus Schöberl war ein ruhiger, schüchterner Junge, einer, der die
Sonderschule besuchte und eine Sprachstörung hatte. Eines von sieben Kindern.
Am jenem 12. Juli machte er sich wie so oft von seinem Heimatdorf Gerswalde auf
den Weg zum nicht weit entfernten Potzlow. Der 16-jährige Marinus Schöberl
blieb oft über Nacht in dem Dorf und schlief dann meistens in dem leeren
Schweinestall. Die verhängnisvollen Geschehnisse begannen an einem Sommerabend
in einer Potzlower Wohnung. Zwei Brüder, 23 und 17 Jahre alt, und ein
18-Jähriger tranken zusammen mit drei Erwachsenen sehr viel Alkohol. Marinus
war dabei. Aber dann begannen die Jüngeren ihn zu ärgern und betrachteten ihn
plötzlich als einen Feind. Seine blond gefärbten Haare und die weiten Hipp-Hopp-Hosen
dienten dem laut der Staatsanwaltschaft rechtsextremistisch eingestellten
Täter-Trio als Vorwand für eine ganze Kette von Provokationen.
In deren Mittelpunkt stand die Aufforderung an den körperlich unterlegenen
Jungen, sich als „Jude“ zu bekennen. Nach Schlägen und Tritten gab Marinus dann
das verlangte „Bekenntnis“ ab. In einer weiteren Wohnung in Potzlow wurden die
Torturen gegen Marinus Schöberl noch mal verschärft.
Vorbild für die Tat soll der Hollywood-Streifen „American History X“ gewesen
sein, in dem ein Neonazi zwei Schwarze brutal ermordet. Die Tötungsart weist
jedenfalls Parallelen auf. Einer der angeklagten Jugendlichen gab an, diesen
Film vorher gesehen zu haben. Im Film zwang der Skinhead sein Opfer, in den
Bordstein zu beißen, um dann gegen den Kopf zu treten.
Im Potzlower Schweinestall, in den die drei Angeklagten Marinus verschleppt
hatten, muss es ähnlich abgelaufen sein. Am Boden liegend, musste der
17-Jährige mehrere Tritte gegen den Kopf ertragen. Sie waren tödlich. Das Opfer
wurde in einer Jauchegrube vergraben und erst im November gefunden, nachdem
einer der Angeklagten mit der Tat geprahlt hatte.
Am Landgericht in Neuruppin sind zehn Verhandlungstage vorgesehen. Das Urteil
soll am 18. Juni gesprochen werden. Möglicherweise wird die Öffentlichkeit
ausgeschlossen, weil einer der Angeklagten zum Tatzeitpunkt unter 18 Jahre alt
war.
Montag, 26. Mai 2003
Brandenburgs V-Mann-Affäre weitet sich aus. Potsdams Staatsanwaltschaft liegen laut Focus Aussagen vor, die eine Vertuschung der Affäre durch Behördenleiter belegen könnten. Der vor einer Razzia gewarnte Neonazi, sei durch einen zweiten V-Mann informiert worden. (dpa)
Montag, 26. Mai 2003
HANNOVER dpa In Hannover und Rostock sind am Samstag über 1.000 Menschen gegen NPD-Aufmärsche auf die Straße gegangen. In Hannover kam es zu Zusammenstößen zwischen den 900 Gegendemonstranten und der Polizei. Rund 2.500 Beamte aus mehreren Bundesländern hatten versucht, die Protestzüge voneinander zu trennen. Dabei wurden sechs Demonstranten leicht verletzt und mehr als 300 Störer vorläufig in Gewahrsam genommen. Zu dem NPD-Aufmarsch waren nur etwa 120 statt der angemeldeten 500 Teilnehmer gekommen. In Rostock war die Polizeit mit 300 Beamten im Einsatz. Dort verlief der Prostest von den rund 100 linken Demonstranten friedlich. Allerdings seien mehrere Platzverweise ausgesprochen worden. Zu der Gegendemonstration hatten das Bündnis "Bunt statt Braun" und das Friedensforum Rostock aufgerufen. Die rechte Kundgebung in Rostock mit knapp 100 Teilnehmern war bereits der dritte Aufmarsch rechtsextremistischer Gruppierungen in Rostock innerhalb von vier Wochen.
Montag, 26. Mai 2003
Potsdamer V-Mann-Affäre - Leitende Beamte belastet -
Innenministerium weist Vorwürfe zurück
Potsdam/München
(ddp-lbg). Das Brandenburger Innenministerium hat Medienberichte über eine Ausweitung
des so genannten V-Mann-Skandals zurückgewiesen. Nach Informationen des
Nachrichtenmagazins «Focus» liegen dem ermittelnden Potsdamer
Staatsanwaltschaft dienstliche Vermerke und Aussagen vor, die eine Vertuschung
der Affäre durch leitende Beamte Brandenburger Sicherheitsbehörden belegen
könnten. Der vor einer Polizei-Razzia frühzeitig gewarnte Neonazi Sven S., der
in der Szene Hasslieder vertrieb, sei nicht nur durch den Verfassungsspitzel
Christian K. verständigt worden. Ein Sprecher des Innenministeriums bezeichnete
die Vorwürfe als «untauglichen Versuch einer Skandalisierung der Arbeit von
Polizei und Verfassungsschutz».
Die Parlamentarische
Kontrollkommission des Landtages sei am Dienstag «umfassend und vollständig»
über die Vorgänge vom Januar und Februar 2001 informiert worden, sagte der
Ministeriumssprecher. Diese habe «nach eingehender Beratung festgestellt, dass
es keinen V-Mann-Skandal gegeben hat, dass nichts vertuscht wurde und kein
Schaden entstanden ist. Dieses einhellige Votum spricht für sich.»
Dagegen berichtet der
«Focus», dass aus den Protokollen mehrerer abgehörter Telefonate hervorgehe,
dass Sven S. offenbar durch einen weiteren Informanten über den Termin der
streng geheim gehaltenen Durchsuchungsaktion informiert worden sei. Der
Tippgeber des Neonazis wird in den Reihen der Polizei vermutet, schreibt
«Focus» unter Berufung auf Potsdamer Ermittlungskreise.
Interne Vermerke belasteten
zudem Verfassungsschutz-Chef Heiner Wegesin. Er habe sich nach der verratenen
Razzia in einer geheimen Sitzung vehement dafür eingesetzt, den unzuverlässigen
V-Mann weiter zu beschäftigen. Ein Teilnehmer der Geheimsitzung fasste «Focus»
zufolge seine fachlichen Bedenken an Wegesins Entscheidung in einem internen
Vermerk zusammen, der nun der wegen Geheimnisverrats ermittelnden Potsdamer
Oberstaatsanwältin vorliegt. Erst 18 Monate nach der fehlgeschlagenen
Durchsuchung in der rechtsradikalen Potsdamer Szene wurde Christian K.
abgeschaltet. Auch der Chef des brandenburgischen Landeskriminalamts, Axel Lüdders,
soll ersten Ermittlungen zufolge vom Ausmaß des Geheimnisverrats im Potsdamer
Innenministerium im Bilde gewesen sein. Trotz eindeutiger Protokolle aus
Telefonüberwachungen habe er den Verrat nicht zur Anzeige gebracht. (Quellen:
«Focus», Sprecher Innenministerium)
Montag, 26. Mai 2003
Die Erklärung scheint schlüssig: Natürlich
war es dieser Film; ausgestrahlt auf Pro 7, auszuleihen in jeder gut sortierten
Videothek. Diese Szene aus "American History X", in der ein Skinhead
namens Derek einen farbigen Autodieb zwingt, in die Kante eines Bürgersteigs zu
beißen, und ihm dann einen tödlichen Tritt in den Nacken gibt.
Bei einer Vernehmung hatte der 17-jährige
Marcel S. - der sich ab heute mit zwei Kumpanen wegen gemeinschaftlichen Mordes
vor dem Landgericht Neuruppin verantworten muss - plötzlich von dieser Szene
erzählt. Und dass er sie am 12. Juli vergangenen Jahres im uckermärkischen Dorf
Potzlow nachgespielt habe.
Das Opfer war sein Freund Marinus Schöberl.
Der 16-Jährige musste, nachdem er zuvor stundenlang gequält worden war, in
einen Futtertrog beißen. Ob er sofort an den Folgen des Tritts gegen seinen
Hinterkopf verstarb oder erst später, als ihn seine Peiniger in der
ausgetrockneten Jauchegrube eines verlassenen Schweinestalls verscharrten, ist
nicht bekannt. Seitdem diese Tat ruchbar wurde, steht der Vorwurf im Raum, hier
hätten wieder mal überzeugte Rechtsradikale ihr Unwesen getrieben. Sei Marinus
doch Anhänger der Hip-Hop-Szene gewesen, und das hätten die Glatzen eben nicht
hinnehmen wollen.
Viele Details dieser auch von der Anklage
kolportierten Neonazi-Theorie scheinen zu stimmen. Andere jedoch lassen sich
nur schwer in dieses Klischee fügen. Denn das 560-Seelen-Dorf Potzlow ist eben
nicht die dumpfe rechtsextreme Hochburg, zu der es von vielen stilisiert wurde.
Im Gegenteil. Einer der drei Angeklagten, der 23-jährige Marco, war wenige Tage
vor dem Mord im Dorf wegen seiner rechtsradikalen Sprüche von Jugendlichen
verprügelt worden. Im Nachbarort gibt es ein Jugendzentrum, das für die
umliegenden Dörfer zuständig ist. Marcos jüngerer Brüder Marcel sei "oft
gekommen", sagt Ina Schubert, Vorsitzende der Kindervereinigung Strehlow
e.V. Man habe sich "vernünftig mit ihm unterhalten" können. Auch die
Familie der Brüder schien intakt. "Die Kinder waren immer sauber und ordentlich
gekleidet, die Eltern haben sich gekümmert", erinnert sich der damalige
ehrenamtliche Bürgermeister Peter Feike. Aber mit Marco waren sie wohl
überfordert.
In "American History X", trägt
Derek ein tätowiertes Hakenkreuz auf der Brust. Der mit 23 Jahren etwa
gleichaltrige Marco S. aus Potzlow hat sich auf die Wade den Spruch
"Rotfront verrecke" tätowieren lassen. Das geschah im Gefängnis.
Marco hat einen Sprachfehler, besitzt nur den Abschluss der siebten Klasse, ist
mit einem IQ von 56 nicht einmal an der oberen Grenze der Debilität. Es heißt,
er sei schon im Kindergarten von Altersgenossen gehänselt worden. Und das zieht
sich dann durch sein ganzes Leben. Immer war er der Schwächere, der
Verspottete. Dieses Gefühl hatten auch Bier und Schnaps, was er seit dem
zwölften Lebensjahr trank, nicht ertränken können. Und ebenso wenig die zwar
stolz präsentierte, von ihm aber nicht annähernd erfasste Nazi-Ideologie. Bei
einem seiner Prozesse, erzählt Verteidiger Matthias Schöneburg, habe Marco von
seinem Hass auf Scheinasylanten gesprochen. Was er unter Scheinasylanten
verstehe, insistierte der Richter. Marco zuckte mit den Schultern.
Verstanden hat er nicht viel, doch es war
genug, um seinen sechs Jahre jüngeren Bruder Marcel zu überzeugen. Der kleidete
sich als Hip-Hopper, färbte sich das Haar und hörte auch gern diese Musik. Aber
als Marco im Juli 2002 nach drei Jahren aus dem Gefängnis kam, ließ sich Marcel
den Schädel rasieren. Er soll sogar geübt haben, grimmig zu blicken. Auch hier
gibt es Parallelen zu "American History X", wo der ebenfalls kahl
geschorene 16-jährige Danny seinen Bruder Derek nach einem ebenfalls
dreijährigen Gefängnisaufenthalt empfängt.
Doch genau an diesem Punkt driften Fiktion
und Realität endgültig auseinander. Der Film-Derek hat sich im Knast von der
rechten Szene abgewandt. Er ist intelligent. War bewusst Skinhead und ist es
dann auch ganz bewusst nicht mehr. Aber Marco aus Potzlow will nicht raus aus
dieser tätowierten Haut, die den Blick der anderen auf ihn lenkt und einen ganz
anderen Kerl aus ihm zu machen scheint als diesen stotternden, schwerfälligen,
belächelten jungen Mann. Und er wird darin an jenem 12. Juli bestärkt durch den
17-jährigen Sebastian, den Marcel bei einem berufsfördernden Lehrgang kennen
lernte. Auch er kahl geschoren. Auch er ein Sonderschüler. Zu dritt ziehen sie
durchs Dorf, trinken Unmengen Bier, fühlen sich stark und treffen schließlich
auf Marinus. Dass der sich noch immer als Hip-Hopper kleidet, hatte bisher
weder Marcel noch Marco gestört. Und es missfällt ihnen anfangs auch an diesem
Tage nicht. Marinus läuft mit, trinkt mit, doch die Stimmung schlägt
unvermittelt um, als Sebastian feststellt, Marinus sehe in seinen
Schlabberhosen und mit seinem blond gefärbten Haar "wie ein Jude"
aus.
Es lässt sich viel hineindeuten in diesen
Beginn eines entsetzlichen Szenarios, das der Neuruppiner Oberstaatsanwalt Gerd
Schnittcher als "so grausam, dass man die Einzelheiten auch nicht
ansatzweise schildern kann", umschreibt. Vielleicht war Marinus im Dunst
des Alkohols ja tatsächlich ganz plötzlich der verhasste Hip-Hopper. Vielleicht
war der lernbehinderte schmächtige Junge, der wie Marco einen Sprachfehler hat,
aber auch einfach nur der Schwächste in dieser frustrierten, nach Geltung
lechzenden Runde.
In "American History X" gibt es am
Ende einen Monolog des 16-jährigen Danny: "Hass ist Ballast. Das Leben ist
einfach zu kurz dafür, dass man immer wütend ist." Der 17-jährige Marcel
zeigte Dorfbewohnern vier Monate nach dem Mord, wo er und seine Kumpane die
Leiche verbargen. Er soll das getan haben, um eine Hand voll Euro zu bekommen.
Das passt trefflich zu dem Bild vom skrupellosen dumpfen Neonazi. Vielleicht
konnte er mit diesem Schweigen aber auch einfach nicht mehr leben.
Montag, 26. Mai 2003
Rechtsextremisten und Islamisten nähern sich in
Berlin an
Verfassungsschützer machen für Zunahme judenfeindlicher Übergriffe vor
allem arabischstämmige Täter verantwortlich
Von Jochen Förster (Berlin)
Die Tendenz scheint klar. Ziemlich genau ein Jahr ist es
her, dass Jürgen Möllemann sich als Vize der Bundes-FDP die Freiheit herausnahm
zu behaupten, der Vize des Zentralrats der Juden, Michel Friedman, sei selbst
schuld am Antisemitismus in Deutschland. Etwa gleichzeitig wäre fast der durch
extrem antiisraelische Ausfälle aufgefallene syrischstämmige Ex-Grüne Jamal
Karsli beinahe in die FDP aufgenommen worden. Und eben zu dieser Zeit auch
legte Martin Walser seine kaum getarnte Abrechnung mit einem jüdischen
Literaturkritiker in Romanform vor. Ziemlich genau ein Jahr nach all dem ist
ein deutlicher Anstieg der registrierten antisemitischen Straftaten in
Deutschland zu verzeichnen.
Besonders in Berlin. Im dritten Jahr in Folge notierte der Verfassungsschutz
2002 eine dramatische Zunahme der Delikte mit judenfeindlichem Hintergrund: 255
wurden in Berlin gezählt, nach 106 im Jahr 2001 und 56 im Jahr 2000. Nach
Angaben des Berliner Innensenators Ehrhart Körting (SPD) setzt sich der Anstieg
in den ersten Monaten 2003 offenbar fort.
Daraus jedoch schlicht ein Wiedererstarken eines womöglich spezifisch deutschen
Antisemitismus und daraus resultierender Gewaltbereitschaft gegen Juden
abzuleiten, wäre verfrüht. Nach Angaben des Verfassungsschutzes betrifft der
Anstieg nämlich vor allem islamistische Straftäter. Die Anzahl gewaltbereiter
Antisemiten mit ausländischem Pass übertrifft demnach die radikaler Anhänger
von NPD, DVU oder "Republikanern" inzwischen bei weitem. Die Anzahl
ihrer Angriffe gegen jüdische Mitbürger auch - zuletzt richteten sie sich
vermehrt gegen orthodoxe Juden.
So wurde vor einigen Tagen ein 19-jähriger US-Amerikaner mit traditionellen
Schläfenlocken und Kopfbedeckung von vermutlich arabischen Jugendlichen auf
einer Neuköllner U-Bahn-Station als "Drecksjude" beleidigt, mit
Weintrauben beworfen und schließlich mit Fäusten gegen die Stirn geschlagen.
Das Opfer konnte die etwa 15- bis 16-jährigen Angreifer zurückstoßen und
flüchten. Zwei Tage zuvor war ein 56-jähriger Mann aus Mitte von einer Gruppe
nichtdeutschstämmiger Jugendlicher in einem Bus als "Drecksjude"
beschimpft, bespuckt und zwei Mal ins Gesicht getreten worden. Der Mann hatte
einen Davidstern an einer Halskette getragen. Zuletzt war im März dieses Jahres
ein amerikanischer Jude auf dem Berliner Ku'damm von Arabern attackiert worden.
In allen drei Fällen konnten die Täter nicht gefasst werden. Innensenator
Körting bewertete die Angriffe als "Ausdruck einer Judenfeindschaft",
die neuartig sei für die arabische Bevölkerung Berlins.
Laut Behörden leben derzeit rund 3900 extremistische Islam-Anhänger in der
Hauptstadt. Die meisten von ihnen, nämlich 2900, gehören der türkischen
Organisation Milli Görüs an, die seit Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet
wird. Hamas hat demnach in Berlin rund 50 Mitglieder, die Hisbollah etwa 150.
Das rechtsextreme Personenpotenzial ist dagegen mit rund 2380 (gegenüber 2640
im Vorjahr) weiter rückläufig. Fremdenfeindliche Delikte ohne antisemitischen
Hintergrund nahmen ebenfalls zu; fast die Hälfte aller Gewalttaten aus diesem
Bereich wurden im Bezirk Hellersdorf-Marzahn verübt. Nachdem die NPD ihren
Landesverband Berlin-Brandenburg im vergangenen Monat auflöste, rechnen
Fachleute jetzt mit einer weiteren Radikalisierung der Berliner NPD. Sie
verfügt in der Hauptstadt über ungefähr 240 Mitglieder.
Besorgnis erregend ist dabei dem Berliner Innensenator zufolge vor allem die
derzeit zu beobachtende vorsichtige Annäherung von deutschen Rechtsextremen und
militanten Islamisten in der Hauptstadt. Aufsehen erregte vor allem die
Teilnahme von NPD-Chef Udo Voigt und NPD-Anwalt Horst Mahler an einer
Veranstaltung der Gruppe "Hizb ut-Tahrir" im vergangenen November; in
der Mensa der Berliner Technischen Universität riefen Sprecher damals zum
"Heiligen Krieg" gegen Israel auf.
Eine solche taktische Verständigung sei beispiellos; die gemeinsame Feindschaft
gegenüber Israel und den USA wirke offenbar verbindend, meint Körting. Senat
und Verfassungsschutz gehen derweil verstärkt gegen militante Gruppen beiderlei
Lager vor. Im vergangenen Jahr wurden der der Hamas nahe stehende Verein
Al-Aqsa sowie mehrere arabische Mudschaheddin-Gruppen verboten.
Eckhard Jesse, Politikprofessor und Extremismusforscher an der Universität
Chemnitz, hält kuriose Kooperationen zwischen Nazis und Islamisten derweil für
nichts Neues - "wir beobachten das Phänomen europaweit seit einiger
Zeit", sagt Experte Jesse. Insgesamt gehe Gewalt gegen Juden in den
europäischen Metropolen verstärkt von Arabern aus. Im europäischen Vergleich
sei der Antisemitismus in Deutschland "eher unterdurchschnittlich".
Aus Angst, als fremdenfeindlich kritisiert zu werden, scheuten sich deutsche
Offizielle allerdings häufig, aggressiven Islamismus beim Namen zu nennen und
ihn konsequent zu bekämpfen.
Montag, 26. Mai 2003
"In Europa setzt sich längst der
Nahost-Konflikt fort"
Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden, über den "Aufstand
der Unanständigen" und ihre Gewalttaten
Paul Spiegel reist durchs Land und warnt vor einem neuen Antisemitismus.
Dabei hat der seit gut drei Jahren amtierende Präsident des Zentralrats der
Juden immer wieder betont, dies könne nicht Aufgabe der Juden sein, sondern
müsse vom nicht-jüdischen Teil der Gesellschaft geleistet werden. Doch Paul
Spiegel leistet seinen Beitrag. Vor kurzem erhielt er für sein Engagement um
Aussöhnung den Staatspreis seines Heimatlandes Nordrhein-Westfalen. Mit dem
63-Jährigen sprach FR-Redakteur Pitt von Bebenburg.
Frankfurter Rundschau: Sie warnen seit Jahren, die
Gesellschaft habe sich an eine neue Stufe von Gewalt gewöhnt. Ist der
"Aufstand der Anständigen", den Bundeskanzler Gerhard Schröder
ausgerufen hatte, wirkungslos verpufft?
Paul Spiegel: Der "Aufstand der Anständigen" hat so tatsächlich
nicht stattgefunden. Wir haben eher den Eindruck, dass es vielmehr an manchen
Orten einen "Aufstand der Unanständigen" gegeben hat. Wir haben in
letzter Zeit beobachtet, dass es Angriffe gegen Menschen gibt, die äußerlich
als Juden auszumachen sind, weil sie sich nach den orthodoxen Vorschriften
kleiden. Wir müssen leider zur Kenntnis nehmen, dass es fast wöchentlich
Angriffe gegen jüdische Friedhöfe und jüdische Einrichtungen gibt. Das sind
Dinge, von denen wir vor einigen Jahren geglaubt haben, dass sie der
Vergangenheit angehören. Die Verfassungsschutzämter stellen fest, dass die
Mitgliedschaft in rechtsradikalen Parteien und Organisationen nachgelassen hat,
dass aber die Gewaltbereitschaft mit rechtsextremem Hintergrund gewaltig
zugenommen hat. Allein in Berlin hat es im letzten Jahr über 250 Attentate mit
antisemitischem Hintergrund gegeben. Das ist eine beängstigende Zahl.
In der vorigen Woche haben Sie mit den Innenministern von Bund und Ländern
über die Sicherheit jüdischer Einrichtungen gesprochen. Wie sicher sind die?
Objektiv muss man feststellen, dass die jüdischen Einrichtungen bedroht sind.
Wenn man entsprechende Drohungen und Hinweise sieht, die sich ganz gezielt und
wörtlich gegen amerikanische, israelische und jüdische Einrichtungen richten,
dann kann man nicht unbesorgt seine Hände in den Schoß legen.
In Berlin häufen sich Angriffe gegen Menschen, die als Juden erkennbar sind.
Die Polizei stellt fest, dass die Täter in der Regel junge Araber oder
arabischstämmige Menschen sind. Bedeutet das, dass der Nahost-Konflikt in
Deutschland seine Fortsetzung findet?
Er findet in Europa längst seine Fortsetzung. Wenn wir die Anschläge gegen
jüdische und israelische Einrichtungen oder Personen zum Beispiel in Frankreich
sehen, ist das ein Beweis. Es gibt großen Anlass zur Sorge.
Ist damit die Vorstellung überholt, dass die antisemitische Gefahr in der
Bundesrepublik vor allem von rechtsextremen und fremdenfeindlichen Deutschen
ausgeht?
Nein. Wir wissen, dass die Einstellung von islamistischen Terrorgruppen und die
von rechtsradikalen Gruppen gegen Juden und gegen Israel sich hier an einer
Schnittstelle begegnen. Wir haben schon vor Jahren davor gewarnt, dieses
Zusammenspiel nicht ernst zu nehmen.
Sie haben in den vergangenen Wochen Aufsehen erregt mit Äußerungen zum
Irak-Krieg. Sie haben ihn verteidigt mit den Worten, die Konzentrationslager
seien auch nicht von Demonstranten befreit worden. Sehen Sie sich heute darin
bestätigt, dass Saddams Regime auf diese Weise mit dem von Hitler vergleichbar
war?
Vergleiche sind in der Geschichte immer schlecht, und ich habe auch keinen
Vergleich zu Hitler gezogen. Ich habe nur gesagt, dass man Krieg als
Alternative nie ausschließen kann - auch wenn man grundsätzlich gegen Krieg
ist, und das ist jeder von uns. Ich persönlich weiß ja, was Krieg ist. Ich habe
es leider selbst erlebt und erlitten. Trotzdem habe ich gesagt, dass man diese
Alternative nie ausschließen darf. Als Beispiel habe ich genannt, dass die
Konzentrationslager nicht von Demonstranten, sondern von Soldaten befreit
worden sind. Man muss sich doch die Frage stellen, wie Deutschland und Europa
aussehen würden, wenn die Alliierten nicht Krieg gegen Hitler-Deutschland
geführt hätten.
Haben Sie denn den Eindruck, dass die Nahost-Region beruhigt oder befriedet
wurde durch den Sturz des Saddam-Regimes?
Das kann man heute noch nicht sagen. Aber klar ist: Mit dem Krieg wurde das
Volk der Iraker von einem schrecklichen Tyrannen befreit. Da muss man nicht an
die schrecklichen Funde von Tausenden von Leichen erinnern, die neulich im
Fernsehen gezeigt wurden. Wir erleben, dass Tausende von Irakern demonstrieren
gegen die Amerikaner, dass sie frei sind, um ihren Willen zu äußern. Ob man
gutheißt oder nicht, dass sie gegen ihre Befreier demonstrieren, das ist eine
andere Sache - aber sie können es. Wir erleben, dass die Schiiten ihre Religion
ausüben können. In welchem anderen nahöstlichen Land sind die Menschen so frei,
dass sie es tun können? Nur in Israel und in Irak können Menschen heute
demonstrieren, können ihren Willen kundtun, können ihre Religion so leben, wie
sie es für richtig halten, und nicht so, wie es ihnen ihre Regierung
oktroyiert.