Dienstag, 27. Mai 2003

Neonazis störten Polizeiveranstaltung

Beim Tag der offenen Tür der Polizei hat es am Sonntag einen Zwischenfall mit Rechtsextremisten gegeben. Bei der Veranstaltung in Ruhleben, zu der 29 000 Besucher kamen, entrollten die Rechten ein Plakat mit der Aufschrift "Gegen die Diktatur Eurer Demokratie". Sie protestierten damit gegen eine Ausstellung über Rechtsextremismus im Rahmen der Veranstaltung. Nach einigen Minuten erhielten die Störer einen Platzverweis. (kop.)

 

 

 

Dienstag, 27. Mai 2003

Die Beschuldigten lassen ihre Anwälte sprechen

Drei junge Männer stehen vor Gericht - sie sollen Marinus Schöberl bestialisch getötet haben

Jens Blankennagel

NEURUPPIN. Drei schüchterne junge Männer sitzen auf der Anklagebank, die Rücken gebeugt blicken sie schweigend zu Boden. Ihre Gesichter verstecken sie im Schatten von Mützen und Kapuzen. Sie sehen nicht aus wie skrupellose Mörder. Dennoch: Zur Prozesseröffnung am Montag vor dem Landgericht Neuruppin wirft ihnen die Staatsanwaltschaft einen der schlimmsten Morde vor, die in den vergangenen Jahren in Brandenburg verübt wurden. Sie sollen in der Nacht zum 13. Juli 2002 im uckermärkischen Potzlow den 16-jährigen Marinus Schöberl auf bestialische Weise umgebracht haben. Weil ihnen sein Äußeres missfiel - er war wie ein Hiphopper gekleidet - sollen sie ihn als Juden beschimpft und in einem Stall stundenlang auf ihn eingeprügelt haben. Schließlich, so der Vorwurf, hätten sie den Schädel des Schülers an einem steinernen Futtertrog zertreten und anschließend seine Leiche verscharrt.

"Es war eine fürchterliche Tat", sagt auch Volkmar Schöneburg, der den zur Tatzeit 17-jährigen Marcel Sch. verteidigt. Die Anklage sieht in Marcel den Haupttäter. Ebenfalls angeklagt ist dessen 23-jähriger Bruder Marco Sch. Der gilt als bekennender Neonazi und sitzt gerade im Gefängnis, weil er einen Afrikaner zusammengeschlagen hat. Auch der damals 17-jährige Sebastian F. ist angeklagt. "In diesem Prozess geht es nicht darum, wer die Täter waren, das ist klar", sagt Matthias Schöneburg, der Verteidiger von Marco Sch. "Es geht darum, wie diese Tat rechtlich bewertet wird."

Matthias Schöneburg geht davon aus, dass sein Mandant zur Tatzeit vermindert schuldfähig war und dass die rechtsextremistische Einstellung der Angeklagten für die Tat nicht entscheidend war. Das aber sieht Staatsanwältin Eva Hofmeister anders: "Der älteste Angeklagte ist fest in der rechtsextremen Szene verwurzelt. Das Opfer sah er als Untermenschen an, den er misshandeln kann." Auch die anderen beiden hätten sich der rechten Szene zugehörig gefühlt und die in diesen Kreisen üblichen kurzen Haare getragen, dazu Bomberjacken und Springerstiefel. Die Anklage wirft ihnen vor, nicht nur gemordet, sondern Marinus zuvor stundenlang misshandelt zu haben. Gegen seinen Willen sollen sie ihm Schnaps eingeflößt haben, bis er sich übergeben musste. Sie hätten geprügelt. Sebastian F. habe gar auf den Kopf seines Opfers uriniert. Marinus sei als Opfer auserwählt worden, weil er stotterte, weil er blond gefärbte Haare und weite Hosen trug. Er sollte sagen, dass er ein Jude sei, obwohl er es nicht war. "Sie hatten Spaß an der Misshandlung des körperlich und vermeintlich auch geistig unterlegenen Opfers", sagt die Staatsanwältin.

Die Angeklagten wollen sich vor Gericht nicht äußern, ihre Anwälte verlesen Erklärungen. Unisono wird darin behauptet, dass die jungen Männer in der Mordnacht betrunken gewesen seien, dass sie eigentlich nichts gegen Marinus und kein politisches Motiv für die Tat gehabt hätten. Sie könnten überhaupt nicht erklären, warum sie ihn umgebracht haben. Marcel wiederholt, dass er den so genannten Bordsteinkick allein ausgeführt habe. Es sei ein Black-out gewesen. Die beiden anderen seien von seinem Handeln überrascht gewesen. Das Opfer habe nach dem Sprung schrecklich ausgesehen. "Ich habe Marinus dann zweimal einen Stein auf den Kopf geworfen." Warum, sagt er nicht. Marinus sei ein guter Kumpel gewesen, mit dem er an jenem Nachmittag noch einen Trabi stehlen wollte. "Wir haben viele Dinger zusammen gedreht", heißt es. Marcel behauptet, er habe sich anfangs nicht an den Misshandlungen und Beschimpfungen beteiligt. Er habe ja nicht einmal wirklich gewusst, was Juden sind. Betrunken wie er war, habe er sich mitreißen lassen. "Was mich an diesem Tag dazu angetrieben hat, weiß ich nicht."

In der Erklärung von Sebastian F. heißt es: "Ich weiß nicht, warum ich mitgemacht habe. Ich hatte nichts gegen Marinus. Ich kannte ihn nicht mal." Er habe ihn an diesem Tag zum ersten Mal gesehen. Marco Sch. lässt verlesen, dass ihm im Gefängnis klar geworden sei, dass es eine "ganz schlimme Straftat" war.

 

 

Dienstag, 27. Mai 2003

Ausländerfeindlicher Angriff

Oranienburg - Ein 44-jähriger Ukrainer und seine beiden 20 und 14 Jahre alten Söhne sind in der Nacht zu Montag in Oranienburg (Oberhavel) Opfer eines ausländerfeindlichen Überfalls geworden. Nach Polizeiangaben wurde dem Vater aus einer Gruppe von fünf Jugendlichen heraus zunächst ins Gesicht geschlagen. Außerdem skandierten die Angreifer ausländerfeindliche Beleidigungen. Die Ukrainer flüchteten und informierten die Polizei. Eine sofortige Fahndung nach den Tätern blieb erfolglos.

 

 

Dienstag, 27. Mai 2003

Rau erinnert an Anschlag in Solingen

Berlin/Solingen - Zehn Jahre nach dem Brandanschlag von Solingen hat Bundespräsident Johannes Rau den Kampf gegen die Ausländerfeindlichkeit in Deutschland gewürdigt. Inzwischen seien in vielen Städten dauerhafte Initiativen gegen Ausländerfeindlichkeit entstanden. Die politische Diskussion über die Zuwanderung sei sachlicher und emotionsfreier geworden, sagte Rau. "Deutschland ist kein ausländerfeindliches Land."

Am 29. Mai 1993 hatten vier Deutsche aus Ausländerhass in Solingen das Haus einer türkischen Familie angezündet. Fünf Kinder und Frauen starben in den Flammen. Die Tat war der Gipfel einer Welle rechtsextremer Gewalt.

 

 

Dienstag, 27. Mai 2003

Initiative

Einen ungewöhnlichen Termin hatte Huub Stevens gestern im Medienraum von Hertha BSC. Der Trainer unterstützt die Initiative "Kontra geben - Gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus im Sport". Die Auseinandersetzung mit Rassismus und Extremismus soll zukünftig auch Bestandteil der Trainer- und Übungsleiterausbildung in Sportvereinen sein. Dazu unterzeichneten Stevens, der Präsident der Bundeszentrale für Politische Bildung, Thomas Krüger, und der Vorsitzende der Deutschen Sportjugend, Ingo Weiss, eine entsprechende Vereinbarung.

 

 

Dienstag, 27. Mai 2003

Rechtsextreme gestehen Mord an Marinus

Neuruppin - Zehn Monate nach dem Mord an dem 16-jährigen Marinus aus Potzlow in Brandenburg haben die drei mutmaßlichen Täter vor Gericht Geständnisse abgelegt. Die 18 bis 24 Jahre alten Männer haben zugegeben, den Schüler stundenlang gequält und dann getötet zu haben, um die Folterungen zu vertuschen. "Ich weiß, dass dies eine ganz schlimme Straftat ist", schrieb der 24-Jährige in einer Erklärung, die sein Anwalt zu Prozessbeginn vor dem Landgericht Neuruppin vorlas. Wenn er könne, würde er die Sache ungeschehen machen. Laut Staatsanwaltschaft hätten die drei aus rechtsextremistisch motivierter Menschenverachtung gehandelt.

 

 

Dienstag, 27. Mai 2003

Geständnisse im Prozess um den Mord von Potzlow

Die Angeklagten leugnen nicht die Tat, aber die Absicht zu töten

Von M. Lukaschewitsch

Neuruppin - Er sagt einfach irgendwann: "Ja, ich bin ein Jude." Zwei Stunden schon dauert sein Martyrium, dann ist der Widerstand von Marinus Schöberl, dem 16-jährigen, schmächtigen Sonderschüler aus Gerswalde in Nordbrandenburg, gebrochen; gezeichnet von zahlreichen Faustschlägen ins Gesicht, getreten mit Springerstiefeln, nass bis auf die Knochen, weil sie auf ihn uriniert haben, in der Wohnung in Potzlow in der Nacht vom 12. auf den 13. Juli vergangenen Jahres, in deren Verlauf der Junge sterben wird.

Die Brüder Marco Sch. (24) und Marcel Sch. (17) sowie Sebastian F. (18) sitzen seit gestern vor der Jugendstrafkammer des Neuruppiner Landgerichts und müssen sich wegen des Verbrechens verantworten.

"Gib endlich zu, dass du ein Jude bist", hatten Marco Sch. und Sebastian F. von dem Jungen mit den blond gefärbten Haaren und der weiten Hip-Hop-Hose immer wieder verlangt. Bis er es tat. "In ihren Augen war er nun ein Untermensch, nicht mehr wert zu leben", sagte Staatsanwältin Eva Hoffmeister zum Auftakt des Mordprozesses gegen die drei mutmaßlichen Neonazis.

Was sie vom Mord in dem Schweinestall der stillgelegten LPG in Potzlow berichtete, der der Tortur in der Wohnung folgte, ließ den Zuschauern im überfüllten Gerichtssaal den Atem stocken. Das Opfer musste in die Kante eines steinernen Schweintrogs beißen. Dann sprang Marcel Sch. mit beiden Füßen auf den Hinterkopf von Marinus. Durch die Wucht des Stoßes wurde das Gesicht des Teenagers zerschmettert, möglicherweise starb er dabei.

Um "sicher" zu gehen, nahm Marcel Sch. eine 30 mal 30 Zentimeter große Betonplatte und ließ sie auf den Kopf des Jungen krachen. Zweimal. Dann verscharrten die Täter den entstellten Körper in der Jauchegrube vor dem Schweinestall.

"Ein Blackout", ließ der 17-jährige Marcel Sch. durch seinen Anwalt Volkmar Schöneburg gestern erklären. "Unbegreiflich", sagte der Anwalt in einer Pause, "zumal Marcel und Marinus sich gut gekannt und sie keine Probleme miteinander hatten."

Die Brüder räumten die grausame Tat gestern in den Erklärungen ihrer Anwälte ohne Umschweife ein, betonten jedoch, nicht vorgehabt zu haben, den Jungen zu töten. "Wir wollten ihm im Stall noch ein bisschen Angst einjagen", sagten sie.

Das sieht die Staatsanwältin anders. Sie geht davon aus, dass die drei Männer irgendwann im Lauf des Abends, der mit dem Trinkgelage in der Wohnung einer Potzlower Familie begonnen hatte, übereingekommen waren, Marinus umzubringen. Das Motiv ? Laut Staatsanwältin "Spaß an körperlichen Misshandlungen." Das passt kaum zu dem Bild, das gestern Marcel Sch. im Gerichtssaal abgab: Aschfahl und zitternd, den Tränen nah, saß er auf der Anklagebank. Sein Bruder machte ein gefassteren, aber sehr angespannten Eindruck.

Der dritte Angeklagte, Sebastian F., ein einschlägig vorbestrafter Neonazi aus Templin, will nur aus "Angst vor den beiden Brüdern" dabei geblieben sein, als Marinus umgebracht wurde. "Ich dachte, ich wäre der nächste, wenn ich nicht helfe, ihn in der Jauchegrube zu verscharren", ließ er gestern in einer vorbreiteten Erklärung verlauten - eine Version, die sich nicht mit den Geständnissen der beiden Brüder deckt. Sie bezichtigten den bulligen Azubi ihrerseits, Marinus ebenfalls mehrfach geschlagen und gequält zu haben, ihn sogar vor dem tödlichen "Bordsteinkick" am Schweinetrog auf die Knie gezwungen zu haben. Doch Sebastian F. blieb gestern dabei: "Ich wollte Marinus nicht ernsthaft verletzen." Alle drei Angeklagten bekannten in ihren Erklärungen, dass sie das Geschehen in jener Sommernacht bereuen.

 

 

Dienstag, 27. Mai 2003

Das Entsetzen in Saal 2

In Neuruppin stehen drei junge Männer vor Gericht: Sie töteten einen Jungen so, wie es in einem Film gezeigt wird

Von Frank Jansen, Neuruppin

Es ist diese Stille im Saal 2, die jeden Satz der jungen Staatsanwältin umschließt und den Vortrag der Anklageschrift unerträglich macht. „Aus Angst vor weiteren Schlägen erklärte Marinus, er sei ein Jude, obwohl dies nicht zutraf“, sagt Eva Hoffmeister. Pause. Niemand regt sich im Publikum. „Spätestens in dem Moment, als Marinus gezwungen wurde, in die Kante des Schweinetroges zu beißen, kamen die Angeklagten stillschweigend überein, das Opfer umzubringen.“ Schweigen. Nichts raschelt in dem voll besetzten, lang gestreckten Raum. Hoffmeister starrt in die aufgeklappte Seite. Der Angeklagte Marcel S. sei dann mit seinen Springerstiefeln hochgesprungen „und mit beiden Beinen mit voller Wucht auf den fixierten Hinterkopf von Marinus“. Die Staatsanwältin blättert um. „Infolge des Sprungs kippte Marinus blutend und im Gesicht entstellt zur Seite und gab nur noch ein schwaches Röcheln von sich.“ Würde jetzt jemand weinen oder gar schreien, es wäre fast eine Erlösung. Doch bis auf die Staatsanwältin bleibt es still in Saal 2.

Kaum mehr als zehn Minuten braucht Hoffmeister, dann ist die Anklageschrift verlesen. Im Landgericht Neuruppin hat der Potzlow-Prozess begonnen. Drei junge Männer sind angeklagt. Die Brüder Marco und Marcel S. und ihr Kumpan Sebastian F. haben in der Nacht zum 13. Juli 2002 den 16-jährigen Marinus Schöberl über Stunden hinweg zu Tode gefoltert. Weil der schwächliche, zum Stottern neigende Junge, mit blond gefärbten Haaren und weiten Hiphopper-Hosen, im rechtsextremen Weltbild des Trios als Untermensch und leichtes Opfer galt. Jetzt sitzen die drei da und wirken selbst schwach.

Marco S., mit 24 Jahren der Älteste, hat ein Basecap tief ins Gesicht gezogen. Als Richterin Ria Becher seine persönlichen Daten abfragt, bestätigt Marco S. die Angaben mit „mmh“ und „richtig“. Sein Bruder Marcel, 18 Jahre alt, trägt auch ein Basecap, fast über den Augen. Sebastian F., ebenfalls 18, schaut mit großen Augen und heruntergezogenen Mundwinkeln in den Saal. Als könne er selbst nicht fassen, was jetzt passiert und was er getan hat. Die Richterin liest seine Daten vor, F. nickt nur. Dann senkt sich der Kopf, so tief, dass er rechtwinklig vom Nacken absteht. In dieser Haltung, die gefalteten Händen auf dem Tisch, hört F. die Anklageschrift. Marco S., der einen Monat nach dem Mord auch noch einen Afrikaner verprügelt hat, senkt den Kopf nur halb. Sein Bruder Marcel sitzt gerade, das trotzige Gesicht beinahe aufrecht.

Keiner der drei sieht noch aus wie ein Skinhead. Ordentliche Kurzhaarfrisuren, Sportswear ohne Auffälligkeiten. Im Juli 2002 liefen sie in szenetypischem Outfit herum, kahl rasiert, Bomberjacke, Stahlkappenschuhe. Sie waren eine Macht im uckermärkischen Potzlow. Die Stärke hat Marinus Schöberl offenbar imponiert. Jedenfalls fühlte er sich zu den drei Glatzköpfen hingezogen, vor allem zu seinem Kumpel Marcel. Der ihn dann am schlimmsten traktierte und ihm in dem Schweinestall den tödlichen „Bordsteinkick“ ins Genick versetzte. So wie es ein Neonazi im Film „Amercian History X“ an einem Schwarzen demonstriert. Marcel war es auch, der zweimal einen schweren Stein auf den Kopf von Marinus warf, um sicherzugehen, dass er tot ist. Und Marcel führte im November prahlend einen Kumpel zur Jauchegrube, in der sie Marinus verscharrt hatten. Sonst wäre das Mordopfer wohl nie entdeckt worden.

Im Gerichtssaal geben die Angeklagten fast nichts von sich. Vielleicht sind sie auch nicht in der Lage, sich vor größerem Publikum zu äußern. Marco S. hat nach der 7. Klasse die Schule abgebrochen. Seine kriminelle Karriere ist beachtlich: Mehr als ein Dutzend Vorstrafen, drei Jahre Haft. Marco S. war erst neun Tage frei, als der Mord geschah.

Der sechs Jahre jüngere Marcel hat den großen Nazi-Bruder immer bewundert. So sehr, dass Marcel sich am Tag, bevor Marco aus dem Gefängnis kam, aus Verehrung eine Glatze scheren ließ. Vorher hatte Marcel zwischen den Jugendszenen gependelt: Mal Hiphopper, dann wieder Neonazi. Der dritte Angeklagte, Sebastian F., gab sich durchgängig „mega rechts“. Der ehemalige Sonderschüler nahm wie Marcel an einem Berufsförderlehrgang teil, mit großen Problemen. Als ihn der psychiatrische Sachverständige in der U-Haft aufsuchte, lehnte sich F. an ihn wie ein Kind.

Richterin Becher möchte, dass die Angeklagten ihre persönlichen Verhältnisse und die Abhängigkeiten untereinander ohne Hemmungen darlegen können. So wird das Publikum ausgeschlossen, gegen Mittag aber wieder zugelassen. Die Angeklagten schweigen dann wieder, die Anwälte der Brüder S. verlesen Teilgeständnisse, kombiniert mit ein paar Sätzen Reue. Marco S. gibt zu, er habe Marinus geschlagen. Den US-Film mit der Genicktritt-Szene habe er nie gesehen, und ihm sei übel geworden, nach Marcels Sprung auf Marinus’ Kopf. Marcel lässt seinen Verteidiger sagen, „da kam es bei mir zum Blackout. Ich bin wie im Film auf ihn gesprungen.“ Wie sein Bruder würde er alles geben, „wenn ich die Tat ungeschehen machen könnte“.

Der Anwalt von Sebastian F. überlässt es der Richterin, die „Einlassung“ seines Mandanten vorzulesen. Mit mechanischer Stimme sagt sie in die Stille hinein, „ich weiß nicht, warum ich das machte, ich hab’ einfach mitgemacht“. Sebastian F. behauptet, er habe Angst vor den Brüdern S. gehabt: „zu keinem Zeitpunkt wollte ich Marinus verletzen“.

Nach viereinhalb Stunden ist der erste Prozesstag vorbei. Aus Potzlow ist kaum jemand gekommen, auch nicht die Eltern von Marinus. Bis Mitte Juni soll die Verhandlung dauern, die seelische Belastung ist selbst für einen Profi wie Staatsanwältin Hoffmeister nur schwer zu ertragen. „Das ist ein Fall, der sprengt in seiner Grausigkeit wirklich alles, was man kennt“, sagt sie. Irgendwann habe sie angefangen nachts zu träumen, „dass ich einen Bordsteinkick bekomme, wie im Film“.

 

 

 

Dienstag, 27. Mai 2003

 

Seminar über rechte Jugendkulturen

 

"Bunt statt Braun" nimmt Anmeldungen entgegen


Ostvorpommern . Rechtsgerichteten Jugendkulturen widmet sich eine Tagung, die das Anklamer Bündnis "Bunt statt Braun" am Dienstag kommender Woche in Züssow veranstaltet. Gemeinsam mit dem Landes-Präventionsrat haben die Organisatoren Experten eingeladen, die in fünf Arbeitsgruppen Auskunft zu verschiedenen Aspekten rechter Jugendkulturen geben: Rechte Internet-Seiten werden dabei ebenso behandelt wie rechtsextreme Symbole, Codes und Zeichen; ein weiterer Workshop beschäftigt sich mit Nazi-Musik. Auch Konzepte der Gewaltprävention und ein Argumentationstraining gegen rassistische Sprüche stehen auf dem Programm.
Während die Landesregierung von einem Rückgang rechtsextremer Tendenzen in Mecklenburg-Vorpommern ausgeht, widerspricht "Bunt statt Braun" für die hiesige Region: Gerade in Vorpommern habe sich die Nazi-Szene stabilisiert.
Anmeldungen zu dem Seminar in Züssow nimmt "Bunt statt Braun" noch bis zum Wochenende entgegen: Postfach 13 04, 17383 Anklam, oder kontakt@respectabel.de.

 

 

 

Dienstag, 27. Mai 2003

Gelobt und trotzdem vor dem Aus

Otto Schily ehrt RAA/Doch Mittelkürzungen der Stadt machen dem Verein zu schaffen

Für vorbildliches Engagement erhielt die RAA am Freitag den Preis "Botschafter der Toleranz". Doch trotz Lobes von Innenminister Schily droht dem Verein das Aus, da die Stadt keine Mittel mehr bereitstellt.

Ob Interkulturelles Lernen, Aktionen gegen Rechtsextremismus oder Projekte an Schulen zur Demokratieentwicklung - die Angebotspalette der Regionalen Arbeitsstelle für Jugendhilfe, Schule und interkulturelle Arbeit Rostock (RAA) ist umfangreich. Die Erfolge, die der Verein mit dieser größtenteils ehrenamtlichen Arbeit erreicht hat, sind nun auch in Berlin bekannt geworden. Hier wurde die RAA am Freitag mit dem mit 5000 Euro dotierten Preis "Botschafter der Toleranz" geehrt. "Innenminister Otto Schily nannte unter anderem unser vorbildliches, zivilgesellschaftliches Engagement als einen der Gründe, uns mit einem der wichtigsten Preise in diesem Bereich überhaupt auszuzeichnen", so Projektkoordinatorin Jana Hoffmann.

Doch das Preisgeld kann nicht in die Aktionen des Vereins fließen. Vielmehr muss mit der Summe erst mal die Miete für die Räume an der Wendenstraße gezahlt werden. Denn während es auf Bundesebene Lob und Anerkennung gab, sperrt das Rostocker Jugendamt den Zuschuss von 38000 Euro, der seit Jahren gewährt wurde. "Wir haben im Dezember einen Antrag gestellt, aber dieser wurde abgelehnt, ohne dass es ein Gespräch gab. Wenn ich die Spielregeln nicht kenne, weiß ich auch nicht, wie ich mich verhalten soll", erklärt Jana Hoffmann. Da ihre Stelle mit dem Geld finanziert wurde, ist sie inzwischen arbeitslos, engagiert sich jetzt ehrenamtlich für die RAA. Geld fließt zurzeit noch von der renommierten Freudenberg-Stiftung. Auch sie äußerte in einem Schreiben an die Stadt Unverständnis über die gestoppte Unterstützung.

Bei der Stadt wird das Ausbleiben der Mittel unter anderem mit rückläufigen Fördermitteln begründet. "Die RAA hat den Preis zu Recht erhalten. Das heißt aber nicht automatisch, dass die Förderung fortgeführt wird", so Jugendamtsleiter Georg Horcher. "Die RAA hat für 2003 eine veränderte Projektkonzeption vorgelegt", erklärt Horcher. "Die RAA bezieht sich auch auf andere Schwerpunkte, und wir müssen darüber reden, in welchem Bereich die RAA künftig aktiv sein soll", so Horcher. Ein entsprechendes Gespräch ist nun für den 6. Juni angesetzt. "Und ich bin ganz sicher, dass wir eine Lösung finden werden. Ich bin aber auch der Meinung, dass ein Verein, der so sehr vom Ehrenamt getragen ist, gar nicht vor dem Aus stehen kann", so der Amtsleiter gegenüber NNN. Kai Gerullis

Kommentar

Richtiger Weg?

Als Botschafter für Toleranz wurde das Team RAA ausgezeichnet. Den zweiten Bundespreis innerhalb von wenigen Wochen holten die Ehrenamtlerinnen damit nach Rostock. Doch trotz des Lobes - zu Hause hat die Arbeitsstelle wenig Rückendeckung. Jetzt droht sogar die Austrocknung des Geldhahns, wenn die Förderung des Jugendamtes weiter ausbleibt. Die hoch gelobte Ausländerarbeit könnte damit am Ende sein. Passt das wirklich zusammen mit einer weltoffenen Stadt, als die sich Rostock gern präsentiert? Sicher nicht. Hoffentlich sind sich alle Verantwortlichen darüber bewusst. ger

 

 

Dienstag, 27. Mai 2003

Arbeitskreis holt die Jugend mit ins Boot

Kriminalprävention kennt keine Altersbeschränkung

Boizenburg In der Stadt gibt es seit fast fünf Jahren den Arbeitskreis Kriminalprävention. Unter seinem Dach initiieren Vereine und Institutionen Aktivitäten, die vor allem die Jugend ansprechen sollen.

Wer weiß es besser, wo den Jugendlichen der Schuh drückt, als die Jugendlichen selbst, haben sich die Mitglieder des städtischen Arbeitskreises Kriminalprävention gedacht und zu ihrer jüngsten Beratung auch Schüler des Gymnasiums eingeladen.

Wie sich herausstellte, war das eine gute Idee, die Vertreter vom Schülerrat Franziska Lichtenauer (Klasse 10) und Christian Kaiser (Klasse 12) zeigten sich von ihrer Premiere in dieser Runde beeindruckt. "Es war sehr interessant, über die vielen guten Aktionen, die in Boizenburg in Sachen Kriminalitätsvorbeugung laufen, einmal gebündelt zu hören", resümierte Christian Kaiser sein erstes Treffen mit diesem Arbeitskreis, den er nicht zum letzten Mal besucht hat.

Gewalt scheint immer so weit weg zu sein, da ist es schwer, die Masse gegen sie zu sensibilisieren. Anders ist es, wenn sie einem vor der eigenen Haustür direkt begegnet, sagten die Beiden und dachten an die neofaschistischen Schmierereien, mit denen das Gymnasium im vergangenen Jahr plötzlich in das Licht der Öffentlichkeit gerückt war. Seither hat sich hier viel getan. Das große Engament in dieser Einrichtung gegen Gewalt wird schon bald aus einem anderen Grund das Interesse der Öffentlichkeit auf sich ziehen. Das Gymnasium Boizenburg erhält als zweite Schule in M-V die Plakette "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage".

Darüber wird noch zu berichten sein, wie auch über die Beteiligung der Rudolf-Tarnow-Schule an dem kreisweiten Projekt "Faktor X", in dem Jugendliche eigene Beiträge zum Thema Rassismus recherchieren und dokumentieren.

Bürgermeister Harald Jäschke hat sich vorgenommen, künftig noch stärker mit der Jugend ins Gespräch zu kommen. Der Arbeitskreis-Chef will nach Möglichkeit in Schulen und Clubs vorbeischauen, um auch so zu erfahren, wo der Jugend der Schuh drückt. Dietmar Kreiß

Angemerkt

Es gibt ihn noch, den Arbeitskreis "Kriminalprävention", hieß es bei uns vor gut einem Jahr. Und er rotiert nach wie vor, können wir nach dem jüngsten Treffen seiner Mitglieder im Rathaus hinzufügen. Dabei hat sich bestätigt: Kriminalitätsvorbeugung ist ein Gebiet, auf dem sich viele engagieren, im Gros ehrenamtlich. Und es hat sich gezeigt, dass es neben dem breitgefächerten Freizeitangebot in unserer Stadt hier richtig gute Aktivitäten gibt, über die kaum einer spricht. Warum eigentlich nicht? dk

 

 

Dienstag, 27. Mai 2003

Drei mutmaßliche Rechtsextremisten gestehen Mord

Angeklagte bestreiten, aus politischen Motiven 16-Jährigen umgebracht zu haben / Leiche in Jauchegrube versenkt

Zu Beginn des Mordprozesses um den qualvollen Tod eines 16-jährigen Schülers in Brandenburg haben sich drei mutmaßliche Rechtsextremisten am Montag zu der Tat bekannt. Vor dem Landgericht Neuruppin bestritten sie jedoch den Vorwurf, aus politischen Motiven gehandelt zu haben.

NEURUPPIN, 26. Mai (ap/dpa). Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten im Alter zwischen 18 und 24 Jahren vor, den 16 Jahre alten Marinus S. im Juli vergangenen Jahres im Dorf Potzlow bei Prenzlau (Kreis Uckermark) nach einem gemeinsamen Trinkabend grausam gequält und anschließend erschlagen zu haben, um die Misshandlungen zu verschleiern. Die Angeklagten, zwei zur Tatzeit 23 und 17 Jahre alte Brüder und ein damals 17 Jahre alter Bekannter der beiden, seien mit kahl rasierten Schädeln, Bomberjacken und Springerstiefeln aufgetreten und in der rechten Szene verwurzelt gewesen. Ihr Opfer, zunächst ein Kumpel des jüngeren Bruders, hätten sie als "nicht lebenswert" angesehen und den 16-Jährigen wegen seiner HipHop-Hosen und der blondierten Frisur verachtet.

Im Lauf des Trinkabends hatten die Beschuldigten laut Anklagebehörde Marinus S. mehrmals aufgefordert, sich zum Judentum zu bekennen. Später hätten sie ihm mit Gewalt Schnaps eingeflößt, ihn auf das Gelände einer ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) verschleppt und dort getötet. Der Anwalt der Eltern von Marinus S. sagte, das Opfer sei weder Jude noch politisch aktiv gewesen. "Die Angeklagten wollten sich ein Feindbild schaffen", sagte er.

Die drei mutmaßlichen Täter bestritten in getrennten Erklärungen ihrer Verteidiger, aus rechtsextremistischen Motiven gehandelt zu haben. Sie wüssten nicht, warum sie Marinus S. umgebracht hätten. Sie bedauerten die Tat und fänden für ihr Verhalten keine Erklärung, sagten sie übereinstimmend. Ein Verteidiger meinte: "Mich stört die einfache Rückführung auf die rechte Gesinnung. Die Ursachen liegen viel tiefer."

Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft hat der jüngere der Brüder und ehemalige Kumpel von Marinus S. das Opfer auf dem LPG-Gelände mit einem Stein erschlagen. Danach wurde die Leiche in einer Jauchegrube versenkt. Zuvor hatte der zur Tatzeit 17-Jährige laut Anklage Marinus S. nach dem Vorbild des Hollywood-Spielfilms "American History X" gezwungen, in die Steinkante eines Schweinetrogs zu beißen. Danach sei er mit seinen Springerstiefeln auf den Kopf des Opfers gesprungen. In dem extrem realistisch gehaltenen Film aus dem Jahr 1998 spielt Edward Norton einen weißen Rassisten mit tätowiertem Hakenkreuz, der kaltblütig Schwarze ermordet.

Die Anklage in Neuruppin beruht im Wesentlichen auf der Aussage des jüngeren Bruders. Der zur Tatzeit 17-jährige hatte Monate nach dem Verschwinden von S. mit der Tat geprahlt und Mitschüler zum Tatort geführt. Die skelettierte Leiche von S. war im November 2002 in der Jauchegrube gefunden worden.

Die Brüder und der dritte Beschuldigte verfolgten die Anklage mit gesenkten Köpfen und ohne äußerliche Regung. Während der Aussagen zur Person war die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Der Verteidiger des 24-Jährigen sagte, sein Mandant habe einen Intelligenzquotienten von unter 60. Vermutlich seien beide Brüder vermindert schuldfähig, unter anderem auf Grund des Alkoholeinflusses.

Da zwei der Angeklagten zur Tatzeit erst 17 Jahre alt waren, fallen sie unter das Jugendstrafrecht. Sie können wegen Mordes zu höchstens zehn Jahren Gefängnis verurteilt werden. Dem 24-Jährigen, der wegen eines Überfalls auf einen Afrikaner bereits eine dreijährige Freiheitsstrafe verbüßt, droht lebenslange Haft.

Der Prozess wird am morgigen Mittwoch fortgesetzt.

 

 

 

Dienstag, 27. Mai 2003

 

STUDIE
Oft locken Freunde in die rechte Szene

DÜSSELDORF, 26. Mai (kna). Mehr als die Hälfte junger Rechtsextremisten kommt über Mitschüler und Freunde in die rechtsradikale Szene. Das ist das Ergebnis einer Studie des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, die Landesinnenminister Fritz Behrens (SPD) am Montag in Düsseldorf vorstellte. Auch rechtsextremistische Musik oder Verwandte würden junge Menschen häufig in die Szene hineinziehen.

Schwierige soziale Verhältnisse, die als typisch für die Herkunft von Extremisten gelten, seien nicht die Regel, so Behrens. Es seien sowohl durch Scheidung, Alkohol oder Gewalterfahrung belastete familiäre Umfelder festgestellt worden, als auch intakte Familienverhältnisse. Nach der Studie, die auf einer Befragung von 56 Skinheads und Neonazis sowie 20 potenziellen Aussteigern basiert, waren 73 Prozent der Skinheads nicht älter als 21 Jahre. 70 Prozent verfügten über einen Schulabschluss. 65 Prozent waren berufstätig.