12.07.2003

 

Wochenendbeilage

Interviews: Peter Rau/Nick Brauns

 

Antifaschismus in Aktion

 

Gespräch mit Heinz Keßler* und Heinrich Graf von Einsiedel* über die Gründung des Nationalkomitees »Freies Deutschland« vor 60 Jahren, über »kommunistische Indoktrinantion«, Fronteinsätze und Frontwechsel, »Handlanger Stalins« und eine Versuchung

 

* Armeegeneral a. D. Heinz Keßler (Jg. 1920) lief als Wehrmachtssoldat drei Wochen nach dem Überfall auf die UdSSR am 22. Juni 1941 zur Roten Armee über. Er wurde bei der Gründungskonferenz des Nationalkomitees »Freies Deutschland« als Mitglied in das 38köpfige Nationalkomitee gewählt und u. a. als Frontbevollmächtigter eingesetzt. 1945 nach Ostdeutschland zurückgekehrt, gehörte er zu den Mitbegründern der Freien Deutschen Jugend. Ab 1950 in den bewaffneten Organen der DDR tätig, zuletzt von 1985 bis 1989 als Minister für Nationale Verteidigung

* Heinrich Graf von Einsiedel (Jg. 1921), ein Urenkel von Reichskanzler Bismarck, geriet am 30. August 1942 als Jagdflieger bei Stalingrad in Gefangenschaft. Er wurde auf der Gründungsversammlung des NKFD zu einem der Vizepräsidenten des Komitees gewählt und war u. a. als Frontbevollmächtigter eingesetzt. Nach dem Krieg als Journalist in Ostberlin tätig, siedelte er 1948 nach Westdeutschland über, wo er ebenfalls publizistisch arbeitete. Von 1994 bis 1998 war er mit PDS-Mandat Abgeordneter des Bundestages

F: Das am 12./13. Juli 1943 in Krasnogorsk bei Moskau von deutschen Exilpolitikern, emigrierten Intellektuellen und kriegsgefangenen Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren der Wehrmacht gegründete Nationalkomitee »Freies Deutschland« liegt auch sechs Jahrzehnte später einigen noch immer schwer im Magen. Anderen gilt seine Vorgeschichte nach wie vor als rätselhaft, weil sie die Frage für wichtig halten, von wem dazu mit welchen Absichten gerade zu diesem Zeitpunkt die Initiative ausging. Wie hat Heinz Keßler die Vorbereitungen auf die Gründung erlebt?

Es hat in der BRD schon immer die wildesten Spekulationen über Gründe und Zeitpunkt gegeben. Nur das Naheliegendste, die Kriegsgefangenen als die eigentlichen Hauptkräfte, will man nicht sehen. Mit dem Überfall der faschistischen Wehrmacht auf die UdSSR im Juni 1941 gerieten – trotz aller Rückzugsgefechte in den ersten Monaten – auch deutsche Soldaten in Gefangenschaft. Von Anfang an stellten sich deutsche Emigranten zur Verfügung, um in den Lagern Aufklärungsarbeit zu leisten: über die Hintergründe dieses verbrecherischen Überfalls und die sich daraus ergebenden Konsequenzen und Schlußfolgerungen. Das führte zu regen Auseinandersetzungen. So bildeten sich Schritt für Schritt, in einer sehr oft widerspruchsvollen Entwicklung, erste kleine antifaschistische Gruppen, die gemeinsam mit den in den Lagern tätigen Emigranten und mit Unterstützung der politischen bzw. militärischen Organe der Sowjetunion aktiv wurden. Ein Beispiel aus eigenem Erleben: Nachdem ich im Sommer 1941, am 15. Juli, auf die Seite der Roten Armee übergetreten war, kam ich einige Monate später nach Kasachstan, ins Kriegsgefangenenlager Nr. 99 in Karaganda. Auch dort diskutierten wir über die Entwicklung in Deutschland, über die Geschichte der Sowjetunion und die wirklichen Gründe für diesen Raub- und Vernichtungskrieg. Bei diesen Diskussionen wurden auch schon erste konkrete Vorstellungen geäußert, wie man unter den gegebenen Bedingungen mithelfen kann, diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden, um weitere sinnlose Menschenopfer und materielle Schäden zu vermeiden.

F: Es gab ja bereits im Herbst 1941 eine erste entsprechende Initiative von kriegsgefangenen Soldaten, den Appell der 158. Waren Sie daran beteiligt?

Nein, das ging von einem anderen Lager aus, dem Lager 58 in Temnikow, wo ein »Appell an das deutsche Volk« verabschiedet und die Frage beantwortet wurde, wie der Hitlerkrieg zu beenden ist.

F: Die damit verbundenen Diskussionen führten sicher bei etlichen Gefangenen zum Nach- und Umdenken – nur: Gefangene muß man nicht mehr überzeugen, die Waffen zu strecken.

Das ist richtig. Deshalb wurden Ende 1942, als es die Kriegslage erlaubte, aus den Lagern auch einzelne Wehrmachtsangehörige delegiert, um mit Hilfe von Flugblättern oder Lautsprechern und auch bei Einsätzen hinter der Front als Deutsche auf die deutschen Truppen einzuwirken und sie zu bewegen, den Kampf einzustellen und sich gefangenzugeben. So war auch ich, noch vor dem Aus für die Paulus-Armee bei Stalingrad, im Januar 1943 bei Welikije Luki zusammen mit Franz Gold, einem Überläufer wie ich, und Leutnant Friedrich Augustin aus dem Offizierslager Oranki an einem solchen Einsatz beteiligt, um den dort eingekesselten Deutschen die Kapitulation nahezulegen.

F: Im Gegensatz zu den meisten Kriegsgefangenen waren Sie ja als Soldat mit dem festen Vorsatz an die Front gekommen, bei der erstbesten Gelegenheit überzulaufen. Nun traf der Jungkommunist Keßler meist auf Menschen, die einst auf der anderen Seite der Barrikade standen. Hat das die spätere Zusammenarbeit, insbesondere mit den Offizieren, darunter auch manchen »von und zu«, beeinflußt?

Das war sicher nicht immer einfach, es gab ja Vorbehalte von beiden Seiten. Doch aus dem Wissen, welch ungeheuer schweren Folgen es hätte, wenn das faschistische Deutschland und seine imperialistische Führung die Welteroberungspläne realisieren würde, entwickelte sich beiderseits das nötige Bewußtsein, um Vorurteile abzubauen. Die gemeinsame antifaschistische Grundhaltung erleichterte das Aufeinanderzugehen natürlich. Doch die Klammer, die Menschen unterschiedlichen Alters, sozialer Herkunft und weltanschaulicher Auffassungen zusammenführte, war eben, wie in den Dokumenten des Nationalkomitees fixiert, der Sturz Hitlers, waren die schnellstmögliche Beendigung des Krieges und ein antifaschistisch-demokratischer Neuanfang. Das war gewissermaßen der kleinste gemeinsame Nenner und eben doch ein großes, gewichtiges Ziel. Nur am Rande: Viele der damaligen Mitstreiter sind mir später gute Freunde geworden. Wie, um nur ein Beispiel zu nennen, Generalmajor Arno von Lenski, Divisionskommandeur in Stalingrad. Auch er hat Schritt für Schritt, über den im September 1943 entstandenen Bund Deutscher Offiziere, sich die Ideen des Komitees zu eigen gemacht. Er brachte mir und meinesgleichen für das, was wir schon vor der Gründung des NKFD im Sinne der antifaschistischen Bewegung geleistet haben, großen Respekt entgegen. Und ich hatte inzwischen ein solche Reife erreicht, daß mir klar war, daß ein solcher Mensch längere Zeit braucht, um den wahren Charakter der faschistischen Führung zu erkennen und sich gegen sie zu stellen. Doch er hat diesen komplizierten Klärungsprozeß durchgemacht und seinen festen Platz in der antifaschistischen Bewegung gefunden und sich nach der Niederlage Hitlerdeutschlands in den Dienst des antifaschistisch-demokratischen Aufbaus in der späteren DDR gestellt.

F: Den Wehrmachtsangehörigen in der Bewegung »Freies Deutschland« wurde nach dem Krieg nicht nur vorgehalten, aus der Gefangenschaft heraus gar keinen richtigen Widerstand geleistet haben zu können. Zugleich wurde ihnen – und wird zum Teil bis heute – Verrat an ihren Kameraden vorgeworfen sowie kommunistisch indoktriniert beziehungsweise »Handlanger Stalins« gewesen zu sein ...

Ohne die Hilfe der KPdSU und der sowjetischen Streitkräfte wäre die Tätigkeit des Nationalkomitees bis hin zu den Antifa-Schulen, zum Sender und zur Zeitung »Freies Deutschland« – um auch einmal diesen Bereich zu erwähnen – undenkbar gewesen. Wir haben, natürlich an der Seite der Sowjetunion und ihrer Armeen, aber doch auch als Teil der weltweiten Antihitlerkoalition, einen kleinen Beitrag dazu geleistet, Europa vom Faschismus zu befreien. In diesem Sinne waren dann wohl auch Roosevelt oder Churchill Handlanger Stalins. Und was heißt »kommunistisch indoktriniert«? Längst nicht jeder Angehörige der Bewegung Freies Deutschland ist nach dem Krieg als Kommunist heimgekommen. Das gab es natürlich auch. Doch die Wehrmachtsgeistlichen im NKFD sind auch nach dem Krieg bei ihrer Religion geblieben; einige Generäle und viele Offiziere fanden bei uns nach dem Krieg in anderen Parteien eine ideologische Heimat, Daß denjenigen, die in den Westen gegangen sind, es schwergemacht wurde, in die bürgerliche Gesellschaft integriert zu werden, hatte wohl eher damit zu tun, daß dort die Befreiung als Katastrophe empfunden und die »verlorenen Siege« der Wehrmacht betrauert wurden.

F: War es angesichts dessen richtig, in der DDR die führende Rolle der KPD in der Bewegung »Freies Deutschland« hervorzuheben? Wurde den Antikommunisten im Westen damit nicht ein Vorwand geliefert, das NKFD aus dem militärischen Widerstand auszugrenzen?

Ich denke nicht. Es entspricht doch der historischen Wahrheit, daß sowohl in Deutschland wie in anderen Ländern, nicht zuletzt in der Sowjetunion selbst, die Mitglieder und Sympathisanten der kommunistischen Parteien die aktivsten und konsequentesten Kämpfer gegen den Faschismus und auch die ersten waren, die ihren Widerstand mit dem Leben bezahlen mußten. Die Rolle der KPD bei der Entwicklung des NKFD richtig darzustellen, schmälert überhaupt nicht die Verdienste jener Menschen, die aus anderen weltanschaulichen Lagern, aus anderen sozialen Schichten kamen und aus anderen Motiven heraus in unserer gemeinsamen Bewegung gewirkt haben. Daran ändern auch die wiederholten Versuche nichts, die Kommunisten als Betonköpfe und Behinderer einer demokratischen Entwicklung darzustellen, wie das heute leider manche – Historiker und andere, die mal die rote Fahne vorangetragen haben – machen: plötzlich die Rolle der Kommunisten ganz unter den Teppich zu kehren.

F: Doch letztlich hat das Nationalkomitee sein wichtigstes, schon im Gründungsmanifest ausgewiesenes Ziel nicht erreicht: Hitler zu stürzen und den Krieg zu beenden, bevor die Kämpfe, wie geschehen, auf Deutschland übergreifen.

Ich meine, daß die Bewegung Freies Deutschland bei all ihren bescheidenen Erfolgen doch viel dazu beigetragen hat, daß die Völker der Welt, vor allem in den von Hitlerdeutschland okkupierten Ländern, ein Stück Überzeugung behalten haben, daß es auch ein anderes Deutschland gibt. Das ist, glaube ich, eines der wichtigsten Verdienste dieser Bewegung, sowohl in der UdSSR als auch anderswo in der Welt. Ein zweites Moment war und ist der Beweis, daß es möglich ist, parteiübergreifend antifaschistische Aktionseinheit herzustellen und eine breite Front von Kriegsgegnern zusammenzuführen. Das scheint mir, mit Blick auf aktuelle Erscheinungen die wichtigste Lehre zu sein. Sei es das Aufkeimen von Neofaschismus und Rassismus hierzulande oder die Weltsicht der US-Administration, die unbequeme Länder nach Gutdünken als Schurkenstaaten abstempelt und diese dann mit Krieg überzieht wie in Jugoslawien oder Irak. Die Idee, die der Bewegung »Freies Deutschland« zugrunde lag, wird allerdings immer auf den Widerstand derer stoßen, die Krieg nicht aus ihrem Vokabular und ihrer Politik streichen wollen und mit wirklicher Demokratie nichts im Sinn haben. Daraus erklärt sich meiner Meinung nach auch die Tatsache, daß die offizielle Bundesrepublik einer antifaschistisch-demokratischen Bewegung wie der des Nationalkomitees so abwertend bis ablehnend gegenübersteht.

***

F: Herr Einsiedel, wie haben Sie die Gründung des Nationalkomitees wahrgenommen?

Das Komitee ist auf Anordnung von Stalin gegründet worden. Der Krieg war für Deutschland verloren. Das war in Stalingrad deutlich geworden. Jetzt ging es darum, diesen Krieg abzukürzen, die fürchterlichen Verbrechen und Opfer zu minimieren. Das Nationalkomitee war ein Angebot von Stalin an die Führung der Wehrmacht, die Konsequenzen aus dem Scheitern des Krieges gegen die Sowjetunion zu ziehen, Hitler zu stürzen und irgendwie zu einem Status quo ante Hitler zurück zu kehren.

F: Welchen Anteil hatten die Kriegsgefangenen an der Gründung?

Es gab Vorläufer des Nationalkomitees. Das waren Antifa-Gruppen in den verschiedenen Lagern. Wir Kriegsgefangene, die wir eine klarere Vorstellung von der wirklichen politischen, moralischen und militärischen Lage Deutschlands hatten, mußten dem deutschen Volk die Augen öffnen, daß dieser Krieg hoffnungslos verloren war. Das Ende wird der Verlust der Souveränität auf Jahrzehnte sein. Deutschland konnte seinen Ruf nur halbwegs wiederherstellen, wenn die Deutschen selber Hitler stürzten. Dem Nationalkomitee wurde immer vorgeworfen, wir hätten den Teufel Hitler mit dem Belzebub Stalin austreiben wollen. Im Gegenteil: Wir haben versucht, die Wehrmachtsführung und das deutsche Volk zu beschwören, den Teufel selbst zu stürzen und nicht darauf zu warten, daß irgendein Belzebub das für uns tut. Wenn die Wehrmacht Hitler gestürzt und das Morden in den KZ beendet hätte, dann wäre das gesamte nachhitlerische Deutschland moralisch unendlich viel besser dagestanden, und es hätte sich unendliche Opfer erspart.

F: Die meisten Kriegsgefangenen brauchten länger zu solchen Einsichten. Sie haben sich dagegen unmittelbar nach ihrer Gefangennahme am 4. September 1942 schon in einem Flugblatt an Ihre Kameraden im Jagdgeschwader »Udet« gewandt und sie dazu aufgerufen, den Krieg zu beenden, da Rußland nicht zu besiegen sei.

Bei mir war das kein plötzlicher Sinneswandel. Ich war nicht klüger, nicht moralisch besser oder einsichtiger als alle meine Kameraden. Aber väterliche Mentoren hatten mir schon in den ersten Kriegstagen gesagt, wir würden diesen Krieg mit Pauken und Trompeten verlieren, und die Katastrophe würde um so größer, je größer die Anfangserfolge sind. Nun werden Sie fragen, warum ich dann Jagdflieger war und für Hitler sehr effektiv gekämpft habe. Ich war ein 19-, 20jähriger Lauselümmel, der sich nicht verantwortlich für das Schicksal Deutschlands und Europas fühlte. Ich habe diesen Krieg mitgemacht, weil das für mich ein Abenteuer war, eine Verführung. Frontsoldatentum war Familientradition. Aber wenn vor der Gefangenschaft jemand zu mir gekommen wäre und gesagt hätte, wir putschen gegen Hitler, dann hätte ich nur gefragt, wann es los geht. Das wäre für mich keine Gewissensfrage gewesen.

F: Sie haben eben von Verführung gesprochen. Ihre 1950 in der BRD erschienenen Erinnerungen nannten Sie ja auch »Tagebuch einer Versuchung«. Damit meinten Sie aber nicht die faschistische Versuchung?

In der Kriegsgefangenschaft erschien mir der Marxismus als Ersatzreligion, mit der man fabelhaft die Vergangenheit analysieren konnte und die eine klar vorhersehbare und scheinbar unausweichliche Entwicklung der Dinge vorwegnahm. So glaubte ich an diese Zwangsläufigkeit der Geschichte, daß der Kapitalismus zum Sozialismus führen wird. Aber das habe ich eben nur eine Zeitlang geglaubt. Die Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD deutete in meinen Augen an, daß in der SBZ ein Staat völlig im Stalinschen Sinne entstand.

F: War es gleichzeitig eine Distanzierung vom Nationalkomitee, als Sie 1948 in den Westen gegangen sind?

Ich habe mich nie vom Nationalkomitee distanziert. Ich bin der Bannerträger des Nationalkomitees in Westdeutschland gewesen, und auch heute bekenne ich mich voll dazu.

F: Hinter der Elbe wurden Sie damals sicher nicht gerade mit offenen Armen empfangen.

Politisch war ich in der Bundesrepublik faktisch tot. Man gab mir die Mitschuld am Tode von bis zu einer Million Kriegsgefangenen, die in russischer Hand gestorben sind. Als ob wir für das Schicksal der Kriegsgefangenen verantwortlich gewesen wären! Es sind über zwei Millionen russischer Kriegsgefangener in deutscher Hand umgekommen. Aber fest steht: So lange das Nationalkomitee da war, ging es den Gefangenen sehr viel besser als vorher, weil die Sowjetunion ein Interesse daran hatte, daß diese Gefangenen ihre Stimme erhoben, um ihre Kameraden jenseits der Front dazu zu bringen, das Verbrechersystem Hitlers zu stürzen.

Zum Höhepunkt des kalten Krieges wurde dem Nationalkomitee von der Bundesrepublik alles angelastet, was inzwischen in der DDR schiefgelaufen ist. Aber das Manifest des NKFD enthielt keine Versprechungen, sondern lediglich eine gewisse Zielvorstellung. Das war ein absolut demokratisches Programm: Wiederherstellung der bürgerlichen und parlamentarischen Freiheitsrechte des Volkes.

F: Während die Verschwörer des 20. Juli zur Traditionspflege der Bundeswehr gehören, hat sich das Verteidigungsministerium kürzlich einmal mehr vom Nationalkomitee distanziert, da dieses mit der Sowjetunion ein »nicht-demokratisches Regime« unterstützt habe.

Der 20. Juli wird heute als ein Alibi gegenüber den Verbrechen der Wehrmacht verwendet, weil es ein paar Offiziere gegeben hat, die sich schließlich sehr spät dazu aufgerafft haben, gegen Hitler zu kämpfen. Die dabei Umgekommenen sind im Kampf gegen Hitler gefallen. Das ehrt sie. Aber zu fallen war damals für einen deutschen Soldaten eine ziemlich normale, alltägliche Angelegenheit. Es starben täglich nach dem 20. Juli 16 000 deutsche Soldaten – für Hitler.

F: Dem »Freien Deutschland« wurde in der Bundesrepublik vorgeworfen, ein Werkzeug Stalins gewesen zu sein. Wie abhängig war das Nationalkomitee wirklich?

Wir waren abhängig von der Gesamtsituation. Es war natürlich klar, daß wir nichts getan haben, was irgendwie das Bündnis der Sowjetunion mit den Westmächten gefährdet hätte. Stalin hatte vor Gründung des Nationalkomitees ausdrücklich die Möglichkeit eines Sonderfriedens ausgeschlossen. Es war klar, daß dieser Krieg mit der Kapitulation Deutschlands enden muß. »Hitler-Deutschland« hat er gesagt. Das war vielleicht der einzige Unterschied gegenüber der Formulierung von Casablanca. Damals war Stalin mit den Westmächten verbündet. Roosevelt und Churchill wären demnach auch Werkzeuge Stalins gewesen. Das ist doch Quatsch.

12.07.2003

 

Inland

Gisela Frielinghaus

 

Bronx in der Uckermark

 

Vor einem Jahr wurde im brandenburgischen Potzlow ein 16jähriger ermordet

 

Der Fall hat alles, was Journalisten brauchen. Man kann nachdenkliche Reportagen genauso gut verfertigen wie grelle Bild-Titelseiten. Vor einem Jahr – am 12. Juli 2002– ist in dem brandenburgischen Dorf Potzlow ein grauenhaftes Verbrechen passiert. Begangen von drei Jugendlichen. In einer Gegend, die von der Politik abgeschrieben ist. Mindestens die Hälfte der Bewohner ist arbeitslos. Sie brachten einen Jungen um, mit dem sie regelmäßig zusammen gewesen waren. Nachdem sie ihn zuvor stundenlang gequält und gedemütigt hatten – in Hörweite von Nachbarn, die sich nicht einmischten – , tötete einer der Täter ihn nach eigenen Angaben durch einen sogenannten Bordsteinkick. Die Methode hatten sich die jungen Männer zuvor viele Male gemeinsam in dem Film »American History X« angeschaut.

Der Film selbst erzählt paradoxerweise die Geschichte der Läuterung eines Neonazis. Die drei Jugendlichen, gegen die wegen der Tat seit dem 26. Mai vor dem Neuruppiner Landgericht verhandelt wird, bewegen sich seit Jahren im Neonazimilieu. Ihr Opfer, den 16jährigen Marinus Schöberl, sollen sie in der Tatnacht gezwungen haben, sich als »Jude« zu bezeichnen. Ohne genau zu wissen, was das eigentlich ist, wie einer der Angeklagten später zu Protokoll gab. Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten deshalb und weil sie ihr Opfer offenkundig wegen seiner Art sich zu kleiden und wegen eines Sprachfehlers als minderwertig ansahen, Mord aus »niederer Gesinnung« wie auch zur Verdeckung der vorangegangenen schweren Körperverletzung vor. Und sie geht von einem rechtsextremistischen Tatmotiv aus.

Nachdem die nun vor Gericht Stehenden mehrere Bekannte zum Tatort, einem stillgelegten Stall bei Potzlow, geführt und ihnen die Überreste ihres Opfers in der ehemaligen Jauchegrube gezeigt hatten, kam das unfaßbare Geschehen ans Licht. Ein Jugendlicher informierte Mitte November die Polizei – trotz der Drohungen der mutmaßlichen Täter, ihm werde dann das gleiche passieren wie Marinus. In den ersten polizeilichen Vernehmungen gestanden die drei Angeklagten, die Brüder Marco (24) und Marcel S. (18) und Sebastian F. (18) alles, inklusive der Details dessen, was sie Marinus angetan hatten. Offenbar hatten sie den Drang, sich durch ein Geständnis zumindest teilweise von dem Druck zu befreien, der nach der Tat auf ihnen lastete. Die Mutter von Marco und Marcel sagte im Prozeß aus, die einzige Veränderung, die sie nach der Tatnacht an ihren Söhnen bemerkt habe, sei eine weitere Zunahme ihres schon vorher exzessiven Alkohol- und Drogenkonsums gewesen.Doch gerade die Protokolle der polizeilichen Vernehmungen nutzen die Anwälte der Verteidiger, um das Prozeßende hinauszuzögern oder gar das zu erwartende Strafmaß wesentlich zu mindern. Den Umstand, daß die Eltern bei der Vernehmung von Marcel S. und Sebastian F., die damals noch nicht volljährig waren, nicht ausdrücklich zur Teilnahme an den Gesprächen eingeladen wurden, sehen sie einen Verstoß gegen Paragraph 67 des Jugendgerichtsgesetzes. Die Verteidiger kritisierten, Geständnisse unter diesen »dubiosen Gesichtspunkten« regten zu Zweifeln an. Es müsse auch deshalb besonders gründlich gearbeitet werden, weil es keine unbeteiligten Zeugen für das Verbrechen gebe. Das Urteil, das ursprünglich bereits am 18. Juni gesprochen werden sollte, wird aufgrund der Verzögerung, die durch die ausführliche Vernehmung von Eltern und Ermittlungsbeamten eingetreten ist, mittlerweile erst für Mitte August erwartet.

Die Polizisten widersprachen in ihren Aussagen teilweise denen der Eltern. Sie erklärten, sie hätten die Jugendlichen auf ihr Recht aufmerksam gemacht, die Eltern dabeizuhaben. Dies hätten sie jedoch abgelehnt. Dennoch erhalten die Anwälte ihren im Juni gestellten Antrag auf ein Beweisverwertungsverbot aufrecht.

Die Vernehmung von Jugendlichen, die mit den Beschuldigten zusammenlebten und lernten, offenbarten in vielen Fällen ein erschütterndes Maß an Gleichgültigkeit. Sie wollten vor allem in Ruhe gelassen werden. Das sagten zwei von ihnen dem RBB Brandenburg in aller Deutlichkeit, nachdem ihnen zuvor im Gerichtssaal kein vollständiger Satz zu entlocken war. Auch Rassismus wird von Jugendlichen als Kavaliersdelikt gesehen. Ein junger Mann bestätigte, daß eine dunkelhäutige Auszubildende von Marcel S. als »Negersau« bezeichnet worden ist und gab an, er habe solche Ausdrücke auch gebraucht. Das sei doch normal.

Der Potsdamer Rechtsmediziner Dietmar Schröpfer sagte bei der Vorstellung des Obduktionsberichtes an, der Sprung ins Genick des Opfers habe so schwere Hirnverletzungen bewirkt, daß der Tod in wenigen Minuten eingetreten sein müsse. Der in seinen Einzelheiten schreckliche Bericht wurde von den Angeklagten ohne erkennbare Regung angehört.

Aus Potzlow waren beim Prozeßauftakt nur drei Bürger anwesend, unter ihnen die später als Zeugin vernommene Petra Freiberg und der Bürgermeister Peter Feike. Im Dorf versucht man offenbar, überwiegend zu vergessen. Lethargie durch jahrelanges Fehlen eines Lebensinhalts, der für viele früher in ihrer Arbeit bestand, könnte eine Erklärung sein. Die Tristesse wird im Alkohol ertränkt, die Kinder kommen noch früher als anderswo mit dieser Droge in Berührung. Rechte Rattenfänger haben hier ein leichtes Spiel. Und jemand, an dem man seinen Haß abreagieren kann, findet sich auch in einer Region, in der es kaum Ausländer gibt.