Samstag, 2. August 2003
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hat von der Bundesregierung die rasche Errichtung des in Berlin geplanten Mahnmals für die in der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma eingefordert. Der damalige Kultur-Staatsminister Julian Nida-Rümelin (SPD) habe bereits vor einem Jahr die Umsetzung des Vorhabens zugesichert, erklärte die Organisation am Freitag in Heidelberg. Das von dem israelischen Künstler Dani Karavan entworfene Mahnmal - ein Wasserbecken - soll im Tiergarten zwischen Reichstag und Brandenburger Tor aufgestellt werden. Als Inschrift ist ein Zitat von Altbundespräsident Roman Herzog geplant. Am Vortag einer Gedenkveranstaltung im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz erinnerte der Dachverband an die Holocaust-Opfer der Roma und Sinti. Insgesamt sollen 500.000 Sinti und Roma Opfer des Holocaust sein, vor allem durch Einsatzgruppen von SS und Wehrmacht hinter der Ostfront und auf dem Balkan." EPD
Samstag, 2. August 2003
Ein US-Gericht hat einem früheren KZ-Aufseher die Staatsbürgerschaft entzogen. Der heute 79-jährige Jakiw Palij habe zur Ermordung von 6.000 Juden im KZ Trawniki beigetragen, urteilte das Gericht. Palij ist seit 1979 der 71. Altnazi, gegen den ein solches Urteil erging. (dpa)
Samstag, 2. August 2003
Wie oft sie sich geprügelt hat, weiß Chrissi
nicht mehr. Sie ist 18 Jahre alt, vier hat sie im Gefängnis verbracht. Mit
ihrer Mädchengang zieht sie durch Berlin. Kein Einzelfall, sagt die Polizei. Es
werden immer mehr.
Von Jana Simon
Chrissi fängt an zu weinen, als das Gefängnistor hinter ihr zuschlägt. Mit
der Hand streicht sie die Tränen fort. Wolle versucht, sich nicht zu rühren,
Roswitha betrachtet ihren Pullover. Schweigen. Woher sollen sie denn wissen,
was jetzt richtig ist? „Freuste dich nicht, dass du wieder draußen bist?“,
fragt Roswitha schließlich. „Doch“, antwortet Chrissi. Dann umarmen sie sich
auf dem Bürgersteig vor dem Frauenknast in Lichtenberg. Wolle sieht sie ein
bisschen verlegen an. Mädchen eben, komische Geschöpfe. Die anderen von der
Clique konnten nicht kommen. Es ist erst neun Uhr morgens, zu früh. Die Clique,
das sind fünf, sechs Mädchen zwischen 15 und 18 Jahren. Sie entscheiden, welche
Jungs sich in ihrer Nähe aufhalten dürfen. Wolle darf, der ist ein ganz Lieber,
sagt Chrissi. Sie bestimmen die Gespräche und die Lautstärke. Als Mädchengang
würden sie sich nicht bezeichnen. „Wir sind ’ne Gruppe“, sagt Roswitha.
Chrissi hängt sich ihre Reisetasche um, Wolle nimmt den Rekorder. Sie laufen
Richtung Auto. Es ist der Wagen von Britta Feustel. Sie ist 34,
Sozialarbeiterin bei Gangway, dem Streetworkerverein, und betreut die Gruppe
seit anderthalb Jahren. Chrissi und die anderen finden, sie sehe aus wie Nena.
Chrissi bemüht sich, sich nicht umzudrehen, das wäre ein schlechtes Omen. Es
heißt, dann komme man wieder. Also hält sie den Kopf streng geradeaus, sie
kämpft. Chrissi trägt ein blaues Hemd mit einem großen orangefarbenen Tiger
darauf, die Haare sind kurz geschnitten, nur der Pony steht etwas nach oben,
eine Jungenfrisur. Sie ist 18 und hat die vergangenen fünf Monate im Gefängnis
verbracht. Chrissi hatte drinnen eine Freundin, sie kommt erst im August frei.
Im Auto nach Hohenschönhausen, ihrem Viertel, hört Chrissi Michelle, sie singt:
„Ich habe mich zu sehr verschlossen.“ Wolle schweigt, Roswitha sieht aus dem
Fenster. Es gibt nicht viel zu sagen. Als sie am Polizeirevier vorbeifahren,
sagt Chrissi in die Stille: „In diesem Scheißhaus kenne ich jedes Zimmer.“
Roswitha ruft: „Ich auch.“ Wolle lacht. Je näher die Wohnung ihrer Mutter
rückt, desto unruhiger wird Chrissi. Sie will diesmal alles richtig machen.
Sich an Regeln halten und so. „Meine Mutter hat erst, als ich im Knast war,
gemerkt, dass sie drei Töchter hat und nicht nur zwei“, sagt sie.
Im siebenten Stock eines hellblau gestrichenen Neubaublocks öffnet ein Mann die
Tür. Er hat blonde Haare, trägt sie hinten lang und vorn kurz, seine Unterarme
sind tätowiert. Chrissis Stiefvater. „Du bist schon da? Deine Mutter ist noch
bei Aldi“, sagt er. Chrissi schiebt sich an ihm vorbei in die Wohnung. Im
Fernsehen läuft eine Vormittagsserie, ein Dackel bellt, auf dem Sofa sitzen
kleine Teddybären. Chrissi hat hier kein Zimmer mehr, sie wird bei ihrer
jüngeren Schwester schlafen. „Das geht höchstens eine Woche gut“, sagt Britta
Feustel. Chrissi hört sie nicht, sie sucht nach Fotos von sich im Flur. Sie
will sie Roswitha zeigen. Immer lächeln ihr nur süß ihre Schwestern entgegen,
von ihr hängt nur ein einziges Bild an der Wand: Chrissi im Vorschulalter mit
einem Löwenbaby im Arm. Danach scheint die Familie bemüht gewesen, Chrissi zu
vergessen. Der Stiefvater wartet im Flur, er schweigt, sieht unruhig von einem
zum anderen. Es wirkt, als wolle er reden. „Ich geh’ erst mal wieder“, sagt
Chrissi, dreht sich um und lässt ihn im Korridor stehen.
Chrissi, Roswitha und Wolle laufen durch Hohenschönhausen, ihren Bezirk, der so
alt ist wie sie, mitten in der späten Pubertät. Die Bäume haben die unteren
Stockwerke erreicht, selbst die Farben der Fassaden sind irgendwie
unentschieden. Nicht rot oder blau. Pastellfarben. „Wir sind hier aufgewachsen,
wir leben und wir sterben hier“, sagt Chrissi. Roswitha
muss grinsen. Chrissi
hat einen Hang zum Theatralischen. In Wirklichkeit stehen immer mehr Wohnungen
leer, wer kann, zieht weg. Die Wohnungsbaugesellschaft wirbt in einer Broschüre
mit den Worten: „Keine Störung durch kulturelle Verschiedenheit“ um neue
Mieter.
Wenn die Welt zum Tunnel wird
Wolle findet, es gibt trotzdem zu viele Ausländer, bei ihm heißen sie
„Kanaken“. Er ist 17, ein schmaler Junge, mit dünnen Armen, kurzen blonden
Haaren und sanften Gesichtszügen. Nee, er sei kein Rechter, sagt er, aber wenn
es um „Kanaken“ geht, ziehen sich seine Mundwinkel nach unten. In diesen
Augenblicken kann man sich gut vorstellen: Wolle beim Zuhauen, ein paarmal
hatte er schon „Zusammenstöße“ mit Russen, Aussiedlern. Er sei dann wie von
Sinnen, sagen die anderen. Chrissi kennt dieses Gefühl, wenn nichts mehr
wichtig erscheint, sich die Welt zu einem Tunnel verengt, sie die Kontrolle
verliert. Wie oft sie sich geschlagen hat, weiß sie nicht mehr. Zu oft. Fast
alle Mädchen in der Clique haben sich schon mal geprügelt.
Es gibt die „Queens“ in Schöneberg, die Spandauer „Killer Babies“ und Mädchen,
die in Neukölln gemeinsam eine Videothek ausrauben. Bisher wurde viel über
jugendliche Serientäter wie Mehmet aus München oder Sawis aus Berlin
diskutiert. Mädchen als Täterinnen sind selten. Im vergangenen Jahr zählte die
Polizei in Berlin 559 weibliche Tatverdächtige im Bereich der
Jugendgruppengewalt, an sich nicht viele, aber es waren 41,9 Prozent mehr als
im Vorjahr. Lutz Hansen, Inspektionsleiter der Polizei, zuständig für den
Nordosten Berlins meint, dass man mit Mädchenbanden in Zukunft noch mehr zu tun
haben wird. Er sieht die Ursache im gewandelten Selbstverständnis von Mädchen.
„Sie haben mehr Selbstbewusstsein, und ihre Rolle in Medien, Videos und
Popmusik hat sich verändert.“
Chrissie, Roswitha und Wolle verschwinden in einem „Dönerbistro“ im Schatten
der Neubauten. Drinnen ist es dunkel, aus den Kunstlederbezügen der Barhocker
quillt Schaumstoff, goldfarbene Stangen umranden die Tische. Das Radio läuft,
immer wieder verstellt sich der Sender. Es bleibt ein dumpfes Rauschen. Chrissi
schwingt sich auf einen Hocker, Roswitha und Wolle bestellen Cola. Vor vier
Jahren haben sie sich das erste Mal getroffen in der Wohnung eines Bekannten.
Namen ziehen vorüber, Ereignisse, Jahreszahlen, ein unentwirrbares Chaos.
Anscheinend bedrohte irgendjemand den Bekannten irgendwann mit einem Messer. Es
gab eine Anzeige. Danach mussten sie sich woanders treffen. „Wir haben nur
Scheiße gebaut und gesoffen“, sagt Chrissi. Jeder, der es wagte, sie lange
anzusehen, kriegte eine verpasst. Und dann gab es da noch Severin, das Phantom,
sie war die Anführerin. Heute versuchen alle, sie zu vergessen. Chrissi und
Severin verstanden sich nicht besonders gut, Severin hatte Chrissi einmal eine
Freundin ausgespannt. Damals gewann Severin den internen Machtkampf, und
Chrissi musste gehen.
Sie nannten sich MKKC „Muschikrebskartenclique“: Muschi war ihr liebstes Wort,
Karten spielten sie oft, und eine von ihnen hatte sich einmal die Beine
rasiert, die Klinge hatte rote Pünktchen auf ihren Unterschenkeln hinterlassen.
Sie fanden, es sah aus wie Krebs. Heute ist ihnen ihr früherer Name etwas
peinlich, klingt so kindisch. Roswitha zieht angestrengt an ihrer Zigarette. Zu
jener Zeit trafen sie sich im Sommer auf einem Platz zwischen den Neubauten,
tranken Bier, und wenn sie Glück hatten Tequila, sie provozierten Menschen, die
an ihnen vorüberliefen, manchmal verprügelten sie sie auch. Einfach so. Wenn
kein anderer da war, schlugen sie sich untereinander. Ab und zu richteten sie
die Gewalt auch gegen sich selbst, ritzten ihre Haut auf. Severin beschmierte
dann Briefkästen mit ihrem Blut. Eines der Mädchen trägt noch heute die Narben
auf ihrem Unterarm, sie zieht Pullover darüber, damit sie niemand sieht. „Sie
lieben sich selbst nicht besonders“, sagt die Betreuerin von Gangway.
Im Winter zogen sie sich in einen Hausaufgang zurück, als das Frühjahr nahte,
hatte dort kein Gegenstand überlebt. 26000 Mark Schaden: Obwohl einige von
ihnen selbst in dem Haus wohnten. Roswitha erinnert sich, wie sie einmal in
eine Schule einbrachen und eine von ihnen, nur mit einem Tangaslip bekleidet,
im Alkoholrausch durchs Gebäude tanzte. Sie randalierten, pissten in die Ecke.
Danach wurden sie auf das Revier geladen, die Halbnackte sollte damals 25000
Mark Strafe zahlen. Eine unerhörte Summe, aber beweisen konnte die Polizei
nichts.
Roswitha sieht zu, wie sich eine Frau und zwei Männer im Bistro allmählich dem
Delirium entgegentrinken. Wolle schweigt. Chrissi singt die Lieder aus dem Radio
mit. Xavier Naidoo. „Geiler Song“, sagt sie. Vor einem Jahr wollte Roswitha mal
wieder Chrissi besuchen. Als sie zu ihr fuhr, rief die eifersüchtige Severin 56
Mal auf ihrem Handy an. Beim 57. Mal hob Roswitha ab, Severin schrie „Schlampe“
in den Hörer. „Da hab’ ich Druck gekriegt“, sagt Roswitha. Sie traf sich
trotzdem weiter mit Chrissi. Daraufhin ging Severin mit dem Messer auf Roswitha
und andere aus der Clique los. Roswitha hat sie schließlich angezeigt. Die
Gruppe verstieß Severin. Die Polizei sucht sie jetzt. Und Chrissi gehört wieder
dazu.
Roswitha und Chrissi hatten auch einmal eine kurze Romanze, wenn es nach
Chrissi ginge, könnte sie noch heute andauern. Sie blickt verliebt zu Roswitha
hinüber, aber Roswitha schaut weg. Sie meint, Chrissi sei eine Ausnahme
gewesen, sonst stehe sie auf Jungs. Und Chrissi ging fremd, was ihr Roswitha
nicht verzieh. „Mit zehn habe ich meinem Vater gesagt, dass ich lesbisch bin“,
sagt Chrissi. Der sah sie nur an und entschied, dass sie von nun an nicht mehr
seine Tochter sei. Kurz darauf verschwand er sowieso aus ihrem Leben. Chrissi
weiß nicht, wo er wohnt. Noch heute rätselt sie, ob er auch der Vater ihrer
Geschwister ist. „Ich finde, deine Schwester sieht voll aus wie dein
Stiefvater“, meint Roswitha. Chrissi nickt: „Auch meine Mutter schwankt da.“
Ein falscher Atemzug
Chrissi summt jedes Lied laut mit, die anderen Gäste schauen zu ihr
herüber. Sie genießt die kurze Aufmerksamkeit. In stillen Momenten fällt ihr
Kinn auf die Brust, sie scheint kleiner zu werden, als sinke sie in sich
zusammen. Chrissi ist bei ihrer Großmutter aufgewachsen, warum, weiß sie auch
nicht genau. „Weil es zu Hause nur Stress gab wahrscheinlich.“ Der Vater schlug
zu, sobald sie falsch atmete. Als Chrissi neun war, schluckte ihre Oma eine
Überdosis Tabletten. Damit fand Chrissis Kindheit ein Ende. Die Eltern kamen
mit dem trauernden Kind nicht zurecht. Chrissi magerte ab, schließlich gaben
sie sie in ein Heim. „Damals habe ich meine Eltern gehasst, aber es hat auch
weh getan, von zu Hause weg zu sein.“ Sie fing an zu trinken, zu klauen und zu
schlagen, haute immer wieder ab, schlief auf der Straße. In der Gruppe fand sie
manchmal Ruhe, aber nur, bis wieder einer kam, der sie falsch ansah. Sie lebte
davon, dass sie ihr Diebesgut an die „Fitten“ verkaufte, so nennen sie in der
Clique Vietnamesen. Elektronische Geräte brachten 100 Euro, Lebensmittel und
Alkohol gingen auch gut. Dieses Mal saß sie im Gefängnis, weil sie den
Supermarkt mit einer Reisetasche voller Kaffee verlassen wollte. „Nee, direkt
unschuldig bin ich wohl nicht“, sagt sie.
Chrissi legt ihren Turnschuh auf den Tisch. „Eh, hab’ ick genäht.“ Quer über
den schwarzen Schuh zieht sich eine weiße Naht. Wolle kichert. Chrissi fängt
an, Knastgeschichten zu erzählen, sie beginnen immer mit den Worten: „Bei uns“.
Insgesamt vier Jahre ihres kurzen Lebens hat sie im Gefängnis verbracht. „Es
gibt ’ne Menge, was man da drinnen beachten muss“, sagt sie ernst. Niemals
dürfe man, zum Beispiel, Fenster und Spiegel putzen, nirgendwo seinen Namen
hinterlassen, nie den Schlüssel der Beamten berühren. Alles böse Omen.
Roswitha lächelt zustimmend, raucht und bläst den Rauch in kurzen Stößen aus.
Sie ist 17, trägt gern Lonsdale-Pullover und hat ihre Haare rötlich gefärbt.
Ihre Eltern sagen ihr, wann sie zu Hause sein soll. Sie ist die Einzige, die
fast nie geschwänzt und gerade den Realschulabschluss geschafft hat. Sie will
Krankenschwester werden, weil sie in Berlin keine Stelle gefunden hat, muss sie
nach Bayern ziehen. „Wenn du im Ausland warst, haste danach mehr Chancen“, sagt
sie.
Die Notgemeinschaft
Chrissi und Wolle betrachten Roswitha bedauernd, aber es liegt auch
Bewunderung in ihren Blicken. Eine von ihnen schafft den Absprung. Chrissi ist
nach der siebten Klasse abgegangen, Wolle hat den Hauptschulabschluss. Mitten
im Satz springt Chrissi auf, sie will Zigaretten holen. Roswitha soll sie
begleiten. Sie gehen kaum allein irgendwohin hin, auch nicht auf die Toilette.
Immer sind sie zu zweit oder zu dritt. Es ist, als hätten sie allein nicht
genug Gewicht, brauchten ständig Verstärkung.
Wolle bleibt im „Dönerbistro“ zurück. Er schwärmt für Wolfgang Petri, weil der
so heißt wie er. Er kann alle Lieder auswendig. Seine Familie versucht, zu
seinem Geburtstag ein Treffen mit dem Sänger zu arrangieren. Wolfgang Petri,
die heile Welt im Hörformat. In Wolles Welt haben sie ihm gerade ein T-Shirt
für 60 Euro geklaut. Wolle hat den Täter aber gestellt. „Der hat eins vor die
Schnauze gekriegt.“ Er nimmt einen Schluck Cola und stellt das Glas mit einem
Knall wieder auf den Tisch. Seinem Vater würde er auch gern „ein paar auf die
Fresse geben“. Als Wolle sieben war, warf seine Mutter den Vater hinaus. Sie
hatte ihn dabei erwischt, wie er Wolles kleinen Bruder missbrauchte. Und Wolle
sagt, er habe immer alles mit angesehen. Er redet so schnell, dass er zwischen
den Sätzen nach Luft ringen muss. „Mein Vater ist das größte Arschloch der
Welt“, sagt Wolle. In diesem Augenblick kehren Chrissi und Roswitha zurück,
Wolle verstummt. Sie haben die Mutter von Chrissi in einer Kneipe in der Nähe
getroffen. Chrissi hat wieder geweint. Sie will jetzt nach Hause.
Die Gruppe ist dabei, sich aufzulösen, findet Roswitha. Seit Severin weg ist,
haben sie auch keine Anführerin mehr, sie entscheiden alles gemeinsam. Neue Allianzen
bilden sich, obwohl sie aneinander hängen. „Wir haben so viel Scheiße zusammen
durch“, sagt Roswitha. Manchmal reden sie nun auch schlecht übereinander, im
nächsten Moment nennen sie sich Schatz und Liebling, nehmen sich in den Arm und
halten sich fest umschlungen, als fürchteten sie, der andere würde gleich
verschwinden. Sie haben wenig gemeinsame Interessen, gut, sie schauen alle Big
Brother, Superstar oder Gute Zeiten Schlechte Zeiten, aber wirklich
Verbindendes gibt es kaum. „Sie sind eine Art Notgemeinschaft, die füreinander
sorgt“, sagt Britta Feustel.
Chrissi ist mit ihrer Mutter mitgegangen, Roswitha und Wolle machen sich auf
den Weg zum Park, einem kahlen Stück Rasen mit dünnen Bäumchen direkt an der
Wendeschleife der Straßenbahn. Ihr neuer Treffpunkt. Es ist niemand da. Die
beiden laufen weiter Richtung „Melissa“, einer Kneipe im Kessel der
Plattenbauten. Roswitha lässt sich auf eine schwarze Lederbank fallen. An der
Theke stehen ein paar Männer, einer versucht, auf einen Barhocker zu gelangen,
es gelingt ihm nicht. Roswitha beachtet sie nicht. Antje schaut vorbei, sie
küssen sich auf den Mund. Antje ist ein zierliches Mädchen mit langen rötlichen
Haaren, auf ihren Augenlidern liegt roséfarbener Lidschatten. Sie gehört zur
Clique und ist gerade aufgestanden, um zwölf Uhr mittags. Ihr Handy piepst,
eine SMS. „Sag doch endlich ja zu ihm, Mann“, sagt Roswitha. „Nee“, antwortet
Antje und hockt sich neben sie. Sie schweigen, viel ist nicht los. Und der Tag
liegt noch vor ihnen, unendliche Langeweile.
Antje hat die Schule abgebrochen, ein halbes Jahr war sie nicht da. Sie ist
jeden Morgen aufgestanden, hat das Haus verlassen und ist mit ihrer
Zwillingsschwester S-Bahn gefahren, einfach so durch die Stadt, oder sie haben
bei Freunden gesoffen. Die Schwester hat vor ein paar Tagen entbunden, mit 17.
Das Baby heißt Chaleen-Chantal. Antje erzählt jedem, der sich ihrem Tisch
nähert, dass der Freund ihrer Schwester mal wieder abgehauen ist. „Ist gestern
Zigaretten holen gegangen. Mal sehen, wann er wiederkommt.“ Roswitha schüttelt
den Kopf. War doch klar. Antjes Schwester und ihr Freund sind das Paar der
Clique, ihre Trennungen und Wiedervereinigungen verfolgen alle wie einen
Fortsetzungsroman. 44 Mal haben die beiden schon Schluss gemacht, Antje und die
anderen haben mitgezählt. Roswitha und Antje finden, der Schwester gehe es
besser ohne ihn. Antje schaut zur Bar: „Ein Fudschi wäre nicht schlecht.“ Cola Goldbrand. Roswitha nickt.
Später stößt
Chrissi zu ihnen. Antje und sie umarmen sich nur kurz, als seien alle Gefühle
schon verbraucht. Chrissi setzt sich neben Roswitha. Draußen läuft ein Junge
vorbei. „Wat glotzt der so, der kriegt gleich eine rein“, sagt Chrissi.
Plötzlich steht eine füllige Frau mit weißem T-Shirt vor ihr und breitet ihre
Arme aus: „Na endlich, mein Schatz“, sagt sie. Es ist Wolles Mutter, alle
nennen sie nur Mutti. Neben ihren eigenen neun Kindern hat sie auch einmal zwei
Wochen Chrissi gepflegt, als die auf der Straße lebte und eine Lungenentzündung
hatte. Mutti rückt mit an den Tisch. Wolle musste los, irgendwoher einen Grill
holen. Mutti war früher Boxerin, hat aber einem den Unterkiefer „weggehauen“,
dann wurde sie gesperrt.
Chrissi hat derweil das „Melissa“ hinter sich gelassen. Losgelöst von allem
Irdischen schwebt sie in Gedanken, träumt von Abitur und Studium. Aber
Elektrikerin sei auch okay. Im Knast habe sie außerdem ein bisschen Türkisch
gelernt. „Vielleicht werde ich mal Dolmetscherin.“ Roswitha verschüttet fast
ihre Cola. „Ja, sicher“, höhnt sie. Ihre Wünsche wechseln ständig, ein Leben
ohne Festpunkte. Aber von Freundschaft hat sie konkrete Vorstellungen. Chrissi
ist der Meinung, zu Freunden müsse man mit allen Problemen gehen können. Egal,
wann. Antje fügt hinzu, Treue sei am wichtigsten, auch in der Liebe. Mutti nickt.
Ein Mann ruft nach ihr. Mutti muss weg, das Wasser aus ihrer Spülmaschine läuft
gerade aus.
Antjes Handy klingelt, es gibt Stress mit ihrer Mutter. Eigentlich darf sie
machen, was sie will. Manchmal wünscht sie sich, ihre Mutter wäre ein bisschen
strenger. Nur ein bisschen. Antjes Mutter arbeitet als Kindergärtnerin, ihren
Vater kennt Antje nicht. Als sie zwei war, hat er sich verabschiedet. Sie will
keinen Kontakt zu ihm, noch nicht, sie hat gehört, er sei gewalttätig gewesen.
Dann holt sie ein Portemonnaie aus ihrer Tasche. Darin klemmt ein Foto von
ihrem Vater. „Sieht ja nicht schlecht aus“, meint Roswitha. Antje lächelt.
Sie beobachtet jetzt live, wie der Familienstress in der nächsten Generation
weitergeht. Ihre Zwillingsschwester kann nicht mehr so oft ins „Melissa“ kommen
wegen des Babys, sie hat es sich gewünscht, seit sie 15 ist. Ihr Freund fand
das in Ordnung. Manchmal, wenn es Streit gab, schlug Antjes Schwester ihren
Freund ohnmächtig, ab und zu soll er zurückgehauen haben. Anschließend hat er
sich dafür entschuldigt. Antje lässt die Schultern sinken, na ja, durchgeknallt
eben. Sie erzählt, dass der Freund neulich Blutplasma spenden wollte, um von
dem Geld Ringe für sich und ihre Schwester zu kaufen. Nicht mal das habe er
gepackt. „Der ist für mich kein Weichei mehr, sondern noch drunter“, sagt
Antje. Roswitha nippt an ihrem Fudschi. Chrissi wünscht, den Film „Was Mädchen
wollen“ zu sehen. „Das muss ich doch wissen“, sagt sie und grinst. Dann werden
sie alle ins Cinemaxx gleich neben dem Lindencenter im Zentrum
Hohenschönhausens gehen. Ihren Bezirk verlassen sie nur selten und niemals
lange. Schon in Marzahn sei es irgendwie komisch, sagt Antje. Nur in
Hohenschönhausen ist es richtig schön. Sie schweigen. Was gibt es noch zu
sagen? Wie geht es weiter mit ihnen?
Britta Feustel, die Betreuerin sagt, wenn zwei aus der Gruppe es schafften, in
ein anderes Umfeld zu gelangen, dann sei das schon sehr gut. Roswitha wird im
August nach Bayern ziehen. Wolle hat sich für zwölf Jahre Armee gemeldet. Er
hat im Fernsehen die Ausrüstung des SEK gesehen. Antje will im September noch
einmal die Schule anfangen. Und Chrissi? Chrissi meint, das mit dem Knast könne
wieder passieren. „Die Vollversorgung ist schon geil da.“ Aber erst mal findet
Antje, dass sie im „Melissa“ mal wieder eine Tequila-Party machen sollten. Der
Tequila für einen Euro. Der gehe weg wie nischt.
Samstag, 2. August 2003
Staatsanwaltschaft plant Mammutprozess gegen 16 Neonazis
Dresden. Ende September könnte es zu einem Novum in der sächsischen
Rechtsgeschichte kommen. Die Staatsanwaltschaft Dresden plant einen
Mammutprozess gegen insgesamt 16 Angeklagte. Dabei handelt es sich um
mutmaßliche Mitglieder der verbotenen Neonazi-Gruppierung Skinheads Sächsische
Schweiz (SSS), die sich vor der Staatsschutzkammer des Landgerichts wegen
Bildung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verantworten
sollen, sagte Oberstaatsanwalt Jürgen Schär am Freitag den DNN.
Ursprünglich waren drei getrennte Verfahren gegen sieben, sechs und drei mutmaßliche SSS-Mitglieder geplant. Die ersten beiden Verfahren hatte die Kammer bereits verbunden, nach dem Willen der Staatsanwaltschaft soll auch das dritte Verfahren dazukommen. Bei den Angeklagten handelt es sich laut Schär um führende Mitglieder der SSS. Er hoffe auf ein zügiges Verfahren. "Wir können mit einem Ergebnis aufwarten: Die SSS war eine kriminelle Vereinigung. Das ist im ersten Verfahren gegen sieben SSS-Mitglieder festgestellt worden, daran kommen die Angeklagten nicht vorbei."
Im Mai war nach fast 50 Verhandlungstagen das erste SSS-Verfahren abgeschlossen worden, nachdem die Angeklagten ihre Schuld gestanden hatten (DNN berichteten). Schär erklärte, die Staatsanwaltschaft sei erneut bereit, Kompromisse beim Strafmaß einzugehen, wenn sich die Angeklagten geständig zeigen. "Uns geht es hauptsächlich um eine Verurteilung wegen Bildung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung."
Neben den 23 SSS-Mitgliedern, die sich vor dem Landgericht verantworten mussten oder müssen, habe die Staatsanwaltschaft gegen weitere 59 Personen aus dem SSS-Umfeld Verfahren eingeleitet. Hierbei handele es sich vorwiegend um Mitglieder aus den Aufbauorganisationen der Gruppierung. "Gegen Mitläufer, die keine Straftaten begangen haben, sondern nur mal eine Wanderung oder einen Treff organisieren mussten, wurde das Verfahren gegen Auflagen eingestellt." Wobei die Staatsanwaltschaft auf empfindliche Auflagen geachtet habe. So hätten die Jugendlichen und Erwachsenen aus dem rechten Umfeld Geldbeträge an antifaschistische oder multikulturelle Organisationen zahlen müssen. "Ein Großteil ist abgeschlossen. Die meisten haben bereits fleißig gezahlt, obwohl die Frist bis zum 15. August reicht."
Daneben müssten sich Ende August mehrere Jugendliche wegen schweren Landfriedensbruchs vor dem Jugendschöffengericht in Pirna verantworten. Ihnen wird vorgeworfen, maßgeblich an einem Überfall der SSS auf den Jugendclub in Gohrisch 1998 beteiligt gewesen zu sein, so Jürgen Schär.
Die konsequente Verfolgung rechtsextremistischer Gewalttaten zeigt in der Sächsischen Schweiz offenbar Wirkung. Wie Sebastian Reißig von der Aktion Zivilcourage in Pirna sagte, sei der Rechtsextremismus zumindest rein optisch im Rückzug. "Es sind weniger Glatzköpfe zu sehen." Die Szene sei eingeschüchtert, ein Grund zum Zurücklehnen sei das aber nicht. Das sieht Schär genauso: "Wir bleiben konsequent am Ball."
Thomas Hartwig