Donnerstag, 7. August 2003

Retten und gerettet werden

Das Projekt "Aus Kindern wurden Briefe" des Centrum Judaicum will die Rettung jüdischer Kinder aus Nazideutschland erforschen. Mit den Schicksalsgeschichten wollen die Initiatoren in heutigen Klassenzimmern Diskussionen anzetteln

von SUSANNE LANG

Deutschland in den Jahren ab 1933, ein ganz gewöhnlicher Tag an einer beliebigen Schule, es ist "Rassenkundeunterricht". Plötzlich steht man als jüdischer Schüler oder Schülerin vor der ganzen Klasse, bloßgestellt als Anschauungsbeispiel für die "untere, niedere Rasse", die Mitschüler starren und lachen.

Wie muss sich das anfühlen? Wie erträgt man die Diskriminierung? Erträgt man sie überhaupt oder flieht man in ein anderes Land? Wie würde man es dort aushalten, als Kind ohne die Eltern? Diesen und ähnlichen Fragen will das Projekt "Aus Kindern wurden Briefe. Rettung jüdischer Kinder aus dem Nazideutschland - Recha Freier und Käte Rosenheim" in Kooperation mit Schulen nachgehen.

Gefördert wird das Projekt durch das Programm "entimon - Gemeinsam gegen Gewalt und Rechtsextremismus" des Bundesfamilienministeriums. Initiator ist die Stiftung "Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum", die im Herbst eine Ausstellung zum Thema zeigen wird.

"Uns geht es darum, das Thema Antisemitismus in einer für Kinder und Jugendliche ansprechenden Form in Schulen zu tragen", erklärt Gudrun Maierhof, eine der Initiatorinnen des Projektes und Kuratorin der Ausstellung. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung soll der Alltag und die Bedrohung von Kindern einer Minderheit in totalitären Systemen stehen. Maierhof möchte die Diskussion im Unterricht anregen. "Wichtig ist uns, eine Unterrichtseinheit oder eine Veranstaltung gemeinsam mit Schülern und Lehrern zu entwickeln." Ein Schwerpunkt soll auf der Begegnung der Jugendlichen mit ZeitzeugInnen liegen. Bisher haben sechs Schulen Interesse signalisiert. "Über weitere Schulen würden wir uns freuen", so Maierhof. Vor allem aus Brandenburg, da dort das Problem Rechtsradikalismus besonders virulent sei. Angesprochen sind alle Jahrgangsstufen an Realschulen und Gymnasien.

"Es wäre schön, wenn Klassen in die Vorbereitung der Ausstellung einbezogen werden könnten", betont Maierhof. Die Perspektive der Ausstellung richtet sich dabei weniger auf die Kinder, sondern auf die Helfer, die die Transporte organisierten.

"Dieser Bereich ist noch kaum erforscht", so Maierhof. Die Konzentration auf die Figuren Rosenheim und Freier soll das Spannungsfeld zwischen Illegalität und Legalität spiegeln, in dem sich die Rettungsaktionen bewegten: Käte Rosenheim, die im Rahmen der etablierten Organisation "Reichsvertretung der deutschen Juden" auf legale Weise für Kinderauswanderung arbeitete, und Recha Freier, die jüdische Jugendliche mit Tricks nach Palästina ausschleuste.


Informationen unter Tel. 30 30 89 35 oder per E-Mail: kontakt@respectabel.de

 

 

 

Donnerstag, 7. August 2003

NPD will büffeln

Partei plant "nationaldemokratisches Bildungszentrum"

Die NPD plant, in der Nähe ihrer Parteizentrale in der Seelenbinderstraße, Köpenick, ein "nationaldemokratisches Bildungszentrum in der Reichshauptstadt" einzurichten. Laut der Zeitschrift blick nach rechts ist der Umbau eines Gebäudes im Hinterhof vorgesehen.

NPD-Parteichef Udo Voigt rühre per Spendenaufruf die Werbetrommel, heißt es weiter. Das Schulungszentrum solle 180.000 Euro kosten. Das Planungs- und Genehmigungsverfahren sei bereits abgeschlossen. Köpenicks Baustadtrat Dieter Schmitz bestätigte der Zeitschrift, dass die Verwaltung bereits im März die Genehmigung erteilt hat: "Wir können nicht Baugenehmigungen nach politischen Sympathien erteilen."

Das Bildungszentrum soll einen Schulungsraum für bis zu 60 Personen, Zimmer sowie eine "nationale Zentralbibliothek" enthalten. "TAZ

 

 

Donnerstag, 7. August 2003

Ministerium: Nazi kein LKA-Spitzel Trotz Prüfberichts bleiben Zweifel

Potsdam. Das Brandenburger Innenministerium will mit einem internen Prüfbericht die Vorwürfe entkräften, das Landeskriminalamt habe 2001 den Neonazi Sven S. als V-Mann geführt, obwohl gegen ihn ermittelt wurde. Das teilweise als geheim eingestufte Papier sollte am Mittwoch Minister Jörg Schönbohm (CDU) übergeben werden. In dem Bericht sollen sich nach Informationen des Tagesspiegels auch Stellungnahmen „anderer Sicherheitsbehörden“ befinden. Möglicherweise handelt es sich auch um Angaben aus Sachsen-Anhalt. Das dortige Landeskriminalamt hatte in einem Vermerk vom Dezember 2001 festgestellt, Sven S. werde „als Informant für das LKA Brandenburg“ geführt. Im Umfeld des Potsdamer Innenministeriums war jedoch zu hören, S. sei definitiv nie ein V-Mann des Landeskriminalamtes gewesen. Sicherheitskreise widersprachen dem. Sven S. habe gegen Bezahlung dem LKA aus der rechten Szene berichtet, hieß es. Angedeutet wurde außerdem, auch der Verfassungsschutz habe profitiert: V-Mann-Führer des LKA und des Nachrichtendienstes hätten sich regelmäßig bei einem „Informationsabgleich“ abgestimmt. Unstrittig ist nach Informationen des Tagesspiegels zumindest, dass sich Sven S. mit dem LKA darüber unterhielt, ob der Vertrieb bestimmter Rechtsrock-CDs strafbar sein könnte. fan

 

 

 

Donnerstag, 7. August 2003

Suhrkamp zieht zurück


Ted Honderichs Traktat "Nach dem Terror" hat den Vorwurf des Antisemitismus und der Rechtfertigung terroristischer Gewalt auf sich gezogen. Dabei hatte Jürgen Habermas das Buch dem Suhrkamp-Verlag empfohlen. Nun will der Verlag das Buch nicht weiter verbreiten.


Antisemitisch. Einen schlimmeren Vorwurf kann man einem Buch wohl nicht machen. Zumal in Deutschland. Erst vor Jahresfrist erregte sich die Republik über einen Roman von Martin Walser. „Tod eines Kritikers“ löste einen Sturm der Entrüstung aus – noch bevor der umstrittene Text überhaupt erschienen war. Arbeitete der berühmte Autor mit judenfeindlichen Stereotypen? Keinesfalls!, riefen Walsers Verteidiger. Eine neue Entgleisung von einem, der gerne mit Moralkeulen um sich schlägt, empörten sich seine Kritiker.

Um Moral, vermeintliche ethische und politische Vorurteile, die es über Bord zu werfen gilt, geht es auch bei dem jetzt entbrannten Streit über das Buch eines kanadisch-britischen Philosophen. „Nach dem Terror“, nennt Ted Honderich seine Abhandlung über die Ursachen und Folgen der Anschläge vom 11. September 2001, die soeben in der Jubiläumsreihe der Edition Suhrkamp erschienen ist. Und noch bevor dieser „Traktat“ so richtig in den Läden zum Verkauf ausliegen und der Inhalt über Rezensionen zumindest einen kleinen Teil der Öffentlichkeit erreichen konnte, hat die Debatte über das Für und Wider der 241 Seiten begonnen.

Die Aufregungsgesellschaft hat einen neuen Fall.

Ausgelöst hat ihn Micha Brumlik. In einem Offenen Brief an den Suhrkamp Verlag, der unter dem Titel „Philosophischer Judenhass“ in der „Frankfurter Rundschau“ am Dienstag veröffentlicht wurde, fährt der Leiter des Fritz-Bauer-Instituts für Holocaustforschung schweres Geschütz auf: Honderich verbreite „antisemitischen Antizionismus“ und rechtfertige die Ermordung jüdischer Zivilisten in Israel. Deshalb müsse der Verlag das Werk unverzüglich vom Markt nehmen.

Am Mittwoch nun erklärte der Suhrkamp Verlag (siehe nebenstehende Meldung), genau das tun zu wollen: „Wir bedauern, dass dem Verlag die Haltung des Autors zum palästinensichen Terrorismus nicht rechtzeitig deutlich wurde.“

Brumlik war sie schneller aufgefallen. Ihm stachen vor allem Honderichs Ausführungen über den Nahen Osten und den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ins Auge. Unter der grundsätzlichen Fragestellung, was ein gutes Leben von einem schlechten unterscheidet, geht der Philosoph in der Tat auch auf staatliche Gewalt und Gegengewalt in Form von Terrorismus ein. Mit Sätzen, die Brumlik veranlassten, seiner Empörung öffentlich Ausdruck zu verleihen: „Ich für meinen Teil habe keinen ernsthaften Zweifel (…), dass die Palästinenser mit ihrem Terrorismus gegen die Israelis ein moralisches Recht ausgeübt haben“, schreibt Honderich auf Seite 236 der (sprachlich schludrigen) deutschen Ausgabe. Und: „Diejenigen Palästinenser, die zu unvermeidlichen Tötungen als Mittel gegriffen haben, waren im Recht, zu versuchen, ihr Volk zu befreien; und diejenigen, die sich selbst für die Sache ihres Volkes getötet haben, haben sich in der Tat selbst gerechtfertigt.“ Wird hier Selbstmordattentätern soziale und politische Notwehr zugute gehalten oder soll nur um der Sache willen provoziert werden?

Ebenfalls am Mittwoch meldete sich Jürgen Habermas in der „FR“ mit seiner „Erklärung einer Buchempfehlung“ zu Wort. Nicht von ungefähr. Er hatte dem Verlag das Honderich-Buch Ende vergangenen Jahres empfohlen. Nun räumt der Philosoph ein, der Offene Brief habe ihn „aufgescheucht“. Zwar spricht Habermas seinem Freund Brumlik das rechte Augenmaß ab, weil der Honderichs Buch mit Jürgen Möllemanns anti-israelischen Flugblatt und Walsers „Tod eines Kritikers“ auf eine Stufe stelle. Nur wer manche Sätze „ohne hermeneutische Nachsicht aus dem Zusammenhang der Argumente löst“, könne sie „gegen die Intention des Autors immer für antisemitische Zwecke verwenden“.

Habermas gibt aber auch zu, Empfindlichkeiten unterschätzt zu haben. Und er macht klar, dass er die Schlussfolgerungen seines kanadisch-britischen Kollegen für falsch hält: „Honderich unterscheidet seine politische Bewertung des palästinensischen Terrors nicht von dessen moralischer Rechtfertigung.“

Genau das macht das Buch angreifbar. Habermas und Suhrkamp hätten aber um die Gefahr wissen müssen, die von diesem „hemdsärmeligen Pamphlet“ (Habermas) ausgeht. Denn als Honderichs „After the Terror“ vor einigen Monaten in den USA und Großbritannien erschien, löste es ebenfalls eine heftige Debatte um angeblichen akademischen Antisemitismus aus. In der Zeitung „Jerusalem Post“ nannte Edward Alexander Honderich einen „sozialistischen Millionär“ und einen Apologeten palästinensischer Selbstmordattentäter. Und die Hilforganisation Oxfam lehnte Honderichs Tantiemen-Spende von 5000 Pfund mit der Begründung ab, sie wolle nicht von diesem Buch profitieren.

In England und den USA war „Nach dem Terror“ vornehmlich gut aufgenommen worden. Das israelisch-palästinensische Kapitel spielte bei den meisten Rezensenten keine Rolle. „In der Flut der Literatur über den Terrorismus“, schrieb etwa Noam Chomsky, sei Honderichs Essay „ein überzeugender und eindrucksvoller Beitrag zur Debatte über komplizierte, schmerzhafte und drängende Probleme“.

Honderich, der zu den renommierten Moralphilosophen der Gegenwart zählt, äußerte Verwunderung über Oxfams Ablehnung seiner Spende. In zwei weiteren Aufsätzen entwickelte er seine Überlegungen zum Terrorismus weiter. In seinem letzten Beitrag aber schrieb er, dass er sich nun eine Weile zu dem Thema nicht mehr äußern wolle. In Deutschland greift sein Verlag mit der Rückgabe der Rechte diesem Entschluss nun vor. (Von Christian Böhme und Moritz Schuller)

Aus Honderichs „Nach dem Terror“

Über Selbstmordattentäter:

„Ich für meinen Teil habe keinen ernsthaften Zweifel, um den prominenten Fall zu nehmen, dass die Palästinenser mit ihrem Terrorismus gegen die Israelis ein moralisches Recht ausgeübt haben. Sie hatten ein moralisches Recht, das dem moralischen Recht etwa der afrikanischen Menschen in Südafrika gegenüber ihren weißen Sklavenhaltern und dem Apartheidstaat in nichts nachsteht. Diejenigen Palästinenser, die zu unvermeidlichen Tötungen als Mittel gegriffen haben, waren im Recht, zu versuchen, ihr Volk zu befreien; und diejenigen, die sich selbst für die Sache ihres Volkes getötet haben, haben sich in der Tat selbst gerechtfertigt. Das scheint mit eine schreckliche Wahrheit zu sein, eine Wahrheit, die nicht nur das überstrahlt, was wir im Hinblick auf jeglichen Terrorismus im Gedächtnis behalten müssen, sondern auch den Gedanken an Abscheulichkeit und Monstrosität.

Ebenso sicher war und ist der Staatsterrorismus und Krieg Israels gegen die Palästinenser ein Unrecht, ein fortgesetztes moralisches Verbrechertum. Daran ändert auch das Gerede von der Demokratie nichts, die sich selbst gegen den Terrorismus verteidigt, wobei der Terrorismus nach eigenem Gutdünken definiert wird, nämlich im Grunde als etwas, das von Palästinensern getan wird, nicht aber von Israelis. Solche Reden im Fernsehen zu schwingen, nicht nur zugunsten des Tötens von Terroristen auf der anderen Seite, sondern auch zugunsten einer Ausweitung der Macht und der Besetzung von mehr Land, sollte an sich schon eine scheußliche Sache sein. So zu tun, als sei eine selbstgefällige Vorstellung von Terrorismus nichts anderes als eine sonnenklare und akzeptierte Definition, heißt, um des Tötens willen zu lügen.“

Zum 11. 9. 2001:

„Für die 3000 Tode gibt es Verantwortlichkeitslinien, die in die Vergangenheit reichen und ebenso real sind wie Befehlsketten. Sie schließen frühere und spätere Täter ein. Wir in unseren Demokratien sind dabei, und insbesondere diejenigen von uns, die es geschafft haben, in unsere Regierungen zu kommen. Wir sind dabei, zusammen mit jenen, die den Killern geholfen haben, und mit Osama bin Laden. Die Mörder, ihre Helfer und bin Laden sind nicht allein. Wir müssen uns von der lange gehegten Illusion verabschieden, dass wir, die ganz normalen Bürger, unschuldig sind.“

Aus: Ted Honderich, „Nach dem Terror. Ein Traktat“. Aus dem Englischen von Eva Gilmer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 2003, 243 Seiten, 9 Euro.