Donnerstag, 25. September 2003
Die Bezirke
Pankow und Lichtenberg wollen entschlossener gegen Rechtsextremismus und
Fremdenfeindlichkeit vorgehen. Gestern legten Pankows Bürgermeister Burkhard
Kleinert und seine Lichtenberger Amtskollegin Christina Emmrich (beide PDS)
entsprechende Aktionspläne vor. Demnach sollen vor allem Trainer in
Sportvereinen, Mitarbeiter von Jugendfreizeiteinrichtungen und Angestellte in
den Bezirksverwaltungen für das Thema Rechtsextremismus und Rassismus
sensibilisiert werden.
Die Bezirke hatten die
Aktionspläne vergangenes Jahr beim Zentrum Demokratische Kultur in Auftrag
gegeben. Die Wissenschaftler recherchierten ein halbes Jahr, die Studien
kosteten 30 000 Euro. "In bestimmten Gegenden unseres Bezirks gibt es eine
rechtslastige Alltagskultur", sagte Kleinert. Unterschwelligen Rassismus
hat auch Christina Emmrich in ihrem Bezirk ausgemacht. (gäd.,tug.)
Donnerstag, 25. September 2003
KÖPENICK. Die rechtsextreme NPD baut auf ihrem Grundstück in der Seelenbinderstraße eine Remise zu einem "nationaldemokratischen Bildungszentrum" um. Eine Baugenehmigung wurde erteilt. Bezirkstadtrat Joachim Stahr (CDU) erklärte, über so eine Genehmigung könne nicht nach politischen Gesichtspunkten entschieden werden. Bürgermeister Klaus Ulbricht (SPD) kündigte an, sich im Kampf gegen das Gedankengut der NPD argumentative Hilfe beim Zentrum für demokratische Kultur und bei der Landeszentrale für politische Bildung zu holen. (sk.)
Donnerstag, 25. September 2003
Martin Klesmann
MENKIN. Der Neonazi
Martin Wiese, der in München rechtsterroristische Anschläge gegen jüdische
Einrichtungen vorbereitet haben soll, war in diesem Jahr bereits mehrmals im
uckermärkischen Ort Menkin zu Besuch. Nach einem Bericht des
RBB-Nachrichtenmagazins Klartext besuchte Wiese am 3. Mai 2003 die
Geburtstagsfeier von Andreas J. in Menkin, einem 200-Seelen-Ort unmittelbar an
der Landesgrenze zu Vorpommern. Auf jener Geburtstagsfeier soll Wiese laut RBB
den Partygästen bereits angedeutet haben, dass er die Errichtung eines
jüdischen Gemeindezentrums in München mit allen Mitteln verhindern wolle.
Zu der Feier in einem
Garagenkomplex hatte Andreas J. auch Marcel K. und Steven Z., beide 24 Jahre
alt und polizeibekannte Skinheads, eingeladen. Die beiden gelernten Tischler,
die als Waffennarren bekannt sind, sollen dann am Tag nach der Feier über den
nahen Grenzübergang Linken nach Polen gefahren sein und dort in einem
ehemaligen Bunkergebiet nach alten Granaten und Minen gesucht haben. Die beiden
jungen Männer waren geübt darin, noch verwertbaren Sprengstoff aus alter
Weltkriegsmunition zu entnehmen. Steven Z. hatte allerdings bereits 1998 seine
linke Hand beim Experimentieren mit einer Granate eingebüßt. Martin Wiese soll
das in Polen besorgte TNT dann in seinem Rucksack nach München transportiert
haben.
Eltern beklagen
Kontaktsperre
Seit nunmehr 14 Tagen
befinden sich Marcel K. und Steven Z. in Bayern in strenger Einzelhaft. Die
Bundesanwaltschaft wirft ihnen vor, Unterstützer oder gar Mitglieder einer
terroristischen Vereinigung zu sein. Auch Andreas J. war zunächst festgenommen
worden, ist aber inzwischen gegen Auflagen aus der Haft entlassen worden. Gegen
den 37-jährigen Andreas J., der im vorpommerschen Pasewalk jahrelang Nachbar
von Martin Wiese war, ermittelt die Bundesanwaltschaft aber weiter wegen
Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. In Sicherheitskreisen gilt es
als sicher, dass Andreas J. bei seinen Vernehmungen in Karlsruhe interessante
Aussagen über den ebenfalls inhaftierten Neonazi-Anführer Martin Wiese gemacht
hat.
Wenige Tage nach Wieses
Besuch in der Uckermark hatte die Polizei am 14. Mai 2003 die Wohnung von
Andreas J. in Menkin durchsucht. Er war wegen Waffenbesitzes angezeigt worden.
Bereits zuvor war dem kräftigen Mann der Waffenschein entzogen worden. Eine
Meldung an den Verfassungsschutz erfolgte aber nicht. Wiese war im Juni wieder
zu Gast in Menkin.
Die Eltern der inhaftierten
jungen Männer aus Menkin und Brüssow versuchen indes seit zwei Wochen
vergebens, einen direkten Kontakt zu ihren Kindern herzustellen. "Ich
wollte meinem Sohn den Namen eines Anwalts zukommen lassen", sagte Jürgen
K. am Mittwoch. "Aber das hat man uns verwehrt." Jetzt habe er einen
Brief geschrieben. Auch die Mutter von Steven Z. hat bisher lediglich die
Benachrichtigung erhalten, dass ihr Sohn im bayerischen Regensburg im Gefängnis
sitzt. "Um überhaupt etwas zu erfahren, habe ich mir schon die Finger
blutig gewählt", sagte sie. Ein Neonazi sei ihr Sohn nicht gewesen. Der
Stiefvater von Steven Z. hatte ihn vor Jahren aus dem Haus geworfen. Zuvor
hatte der junge Mann den gesamten Garten des Hauses mit alter
Weltkriegsmunition "geradezu vermint". Das berichten Nachbarn. Auch
der Vater von Marcel K. wusste nach eigenen Angaben, dass sein Sohn
Weltkriegswaffen suchte und sogar weiterverkaufte.
Donnerstag, 25. September 2003
Für Migranten und Flüchtlinge liest sich das Werbefaltblatt der Lichtenberger Wohnungsbaugenossenschaft "Humboldt-Universität e. G." wenig einladend. Denn potenziellen Mietern verspricht die Baugenossenschaft neben einem "sicheren Wohnen durch Security" und "Gästewohnungen zu attraktiven Mietpreisen" auch "keine Störungen durch kulturelle Verschiedenheit". Fragt man bei der Genossenschaft nach, was das bedeutet, erhält man zunächst ausweichende Antworten. "Wir schauen, ob jemand in unsere Gemeinschaft passt", erklärt dazu auf Anfrage eine Mitarbeiterin der Genossenschaft. Und Kultur habe eben auch etwas mit "Lebensstil" zu tun. Keinesfalls sei die Aussage ausgrenzend gemeint, ergänzt die Dame freundlich. Vielmehr werde bei potenziellen Neumietern danach geguckt, "wie jemand sein Leben gestaltet - ob einer viel feiert zum Beispiel".
Bezirksbürgermeisterin Christina Emmrich (PDS) dagegen hält die Aussage des Werbeflyers für "völlig kontraproduktiv" für Lichtenberg. "Eine derartige Werbung bestätigt jedes Klischee über den Bezirk", so Emmrich zur taz. Nach einem Gespräch mit dem Vorstand der Wohnungsbaugenossenschaft, sei ihr versichert worden, dass der Webeflyer nun aus dem Verkehr gezogen werde.
Emmrich geht es schon seit längerem darum, nicht nur offen rechtsextreme Aktivitäten in Lichtenberg zu verhindern, "sondern Haltungen und Stimmungen in der Bevölkerung zu verändern". Gestern stellte sie daher gemeinsam mit ihrem Pankower Amtskollegen Burkhard Kleinert (PDS) und Jugendstaatssekretär Thomas Härtel die "lokalen Aktionspläne für Demokratie und Toleranz" der beiden Bezirke vor.
Anders, als ihr Name verspricht, erschöpfen sich die Pläne jedoch in erster Linie in einer Bestandsaufnahme. Auf jeweils knapp 100 Seiten haben Mitarbeiter des Mobilen Beratungsteams gegen Rechts (MBR) und des "Zentrums Demokratische Kultur" (ZDK) Treffpunkte und Läden der rechten Szene ebenso aufgelistet wie Diskriminierungserfahrungen von Migranten an Schulen oder in den Amtsstuben der Bezirksverwaltungen. "Deren interkulturelle Öffnung" müsse ein vorrangiges Ziel bei der Umsetzung der Aktionspläne sein, lautete dann auch ein Fazit der Rechercheure.
Finanziert wurde die Erstellung der Aktionspläne vom Land und vom Bezirk Pankow. Hier hatte die Bezirksverordnetenversammlung im vergangenen Jahr beschlossen, dass sich Pankow neben Lichtenberg bei der Landeskommission "Berlin gegen Gewalt" für die Erstellung des "lokalen Aktionsplans" bewerben sollte.
Nun wollen die Bezirke ab Mitte November überlegen, wie sie die bisher eher schlagwortartigen Handlungsempfehlungen konkret umsetzen können. Zum Beispiel, was getan werden muss, damit der Ortsteil Karow demnächst nicht mehr als "Angstzone" für Jugendliche gilt, die sich äußerlich erkennbar gegen Rechtsextremismus positionieren. Das Autorenteam des "Aktionsplans" hat zudem festgestellt, dass auch alle Verkehrsknotenpunkte im Großbezirk Pankow als "Orte erhöhter Gefahr" zu bezeichnen seien, unter anderem weil rechtsextrem orientierte Cliquen gezielt S-Bahnhöfe wie Heinersdorf, Buch oder Pankow als offene Treffpunkte wählen. Auch in Lichtenberg wurden die S-Bahnhöfe Lichtenberg und Wartenberg als "Angsträume" genannt.
Welche Auswirkungen die Angst vor rechten Angriffen auf ihren Alltag haben, haben alternative Jugendliche aus Hohenschönhausen in einer eigenen Videoproduktion festgehalten. Die Premiere von "leben im Beton" fand gestern Abend dem Thema entsprechend open air am dortigen Lindencenter statt - einem stadtbekannten Treffpunkt der Rechten. Schließlich gehe es darum, "sich vor Ort einzumischen gegen Rechtsextremismus und Rassismus", sagt Uwe Neirich von "Lichtblicke - Netzwerk für Demokratie und Toleranz". Für die Bezirksbürgermeisterin sind derartige Initiative ein Hoffnungszeichen.
HEIKE KLEFFNER
Donnerstag, 25. September 2003
betr.: "Körting will drüber reden" von Felix Lee, taz vom 19. 9. 03
Ihr berichtetet über eine Diskussionsveranstaltung im "Kulturverein Brücke 7 e. V.", auf der Innensenator Körting mit rechtsextremen Jugendlichen besprach, wie viel Rechts und Links die Demokratie vertragen könnte. Wir haben in der Vergangenheit gegen solche Veranstaltungen im Brücke 7 e. V. protestiert, da hier geschulten NPD-Funktionären ein Podium geboten wurde, ihre menschenverachtende Propaganda zu verbreiten.
In eurem Artikel werden von euch leider falsche Tatsachen behauptet. Ihr schreibt, dass die rechtsextremen Jugendlichen im Veranstaltungsraum nicht anders aussahen als ihre protestierenden Altersgenossen von der Treptower Antifa, die vor dem Brücke 7 e. V. standen. Nur im Detail ließen sich die Unterschiede erkennen. Doch leider hat es auch damit nicht geklappt: Die Kundgebung draußen wurde von Aktivisten der Kameradschaftsszene und der NPD gestellt, die unter dem Namen "Berliner Alternative Süd-Ost" (BA-SO) auftraten. Auch der "Mann von der Antifa", den ihr interviewtet, war nicht unser Pressesprecher Silvio Kurz.
So schwer wäre die Unterscheidung zwischen AntifaschistInnen und Neonazis auch nicht gewesen - immerhin war auf dem Transparent der Neonazis deutlich "Kameradschaft Tor" zu lesen, und in einer euch zugestellten Pressemitteilung erklärte die Treptower Antifa Gruppe (T.A.G.): "Durch Körtings Täuschungsmanöver wurde versucht, öffentliche Kritik an dieser zweifelhaften Gesprächsrunde zu verhindern. Während sich Körting in den Räumlichkeiten des Brücke 7 e. V. der Sorgen und Nöte der rechten Jugendlichen annahm, bedrohten und fotografierten draußen Mitglieder der Kameradschaft Tor auf einer Kundgebung der NPD nicht rechte Passanten." Wir hoffen, zukünftig nicht mehr mit Neonazis verwechselt zu werden.
SILVIO KURZ für die Treptower Antifa Gruppe (T.A.G.)
Der Verweis auf die rechtsextremen Erscheinungsformen, mit dem Herr Lee versucht, einen Einblick in die immer differenzierter werdende Kleidungs- und Symbolwelt der Rechtsextremen zu geben, deutet eine Sensibilität für das Thema Rechtsextremismus an. Nun habe ich selber an der Diskussionsveranstaltung teilgenommen. Auch ich habe die Personen auf der gegenüberliegenden Straßenseite wahrgenommen. Doch nur weil auf dem Transparent eine Person mit einem Brandsatz in der Hand gemalt ist, heißt auch das in der gegenwärtigen Zeit nicht mehr, dass es sich um "linke" oder gar "Antifas" handelt. Das Gegenteil ist richtig.
Man hätte es anhand der Transparentaufschrift lesen und erahnen können: "Gegen die Diktatur eurer Demokratie!" Ich bin einfach herübergegangen und habe mit den Protestierern gesprochen. Sie gaben zur Auskunft, nationale Bildungsarbeit machen zu wollen … wohl kaum ein Anliegen der "Antifa"! Auch den angedeuteten Sprechchor, dass Faschismus keine Meinung, sondern ein Verbrechen sei, konnte ich nicht vernehmen, sondern stellte nur ein "Arbeitsplätze, statt Kriegseinsätze!" fest - eher eine NPD-Losung als ein Antifa-Slogan. INGO GRASTORF, Berlin
Donnerstag, 25. September 2003
Die Bezirke Lichtenberg und Pankow setzen Zeichen gegen Gewalt in Berlin. Gestern stellten sie die ersten lokalen "Aktionspläne für Toleranz und Demokratie - gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus" vor. Sie waren von der Landeskommission gegen Gewalt ausgeschrieben und vom Zentrum Demokratische Kultur nach Befragungen und Analysen erarbeitet worden.
Jugend-Staatssekretär Thomas Härtel: "Damit können Initiativen, Bündnisse, Sport- und andere Vereine, Organisationen, Schulen, Jugendklubs, Polizei und Verwaltung sinnvoll vernetzt werden." Auf dem Programm stehen Workshops über jüdische und antifaschistische Lokalgeschichte, Info-Veranstaltungen über die rechte Musikszene, Aufbau multikultureller Bands und Sportteams. "Rassistische Parolen auf Sportplätzen machen uns zu schaffen", sagt Pankows Bürgermeister Burkhard Kleinert (PDS). Weiter sollen Schüler zu Gewalt-Konfliktlotsen ausgebildet, Wohnungsunternehmen und Mieter gegen rassistische Tendenzen sensibilisiert werden.
Lichtenbergs Bürgermeisterin Christina Emmrich (PDS) macht sich für "mehr interkulturelle Öffnung der Verwaltung" stark. "Das Verhalten mancher Kollegen gegenüber Migranten und Aussiedlern erschreckt mich", bekannte sie. Da helfe interkulturelle und sprachliche Weiterbildung.
Die Aktionspläne kosteten 30 000 Euro. Pankow griff weitgehend auf eigene Mittel zurück, Lichtenberg erhielt vom Senat etwa 15 000 Euro. Mehr Geld ist nicht zu erwarten. Beide Bürgermeister sehen deshalb nur bedingt Möglichkeiten für das Training ihrer Mitarbeiter, hoffen auf Fördermittel aus Bundesprogrammen. Auch Rechtsextremismus-Beauftragte können sie sich nicht leisten. Härtel setzt auf kommunale Präventionsräte in allen Bezirken. In Tempelhof-Schöneberg, Steglitz-Zehlendorf, Charlottenburg und Kreuzberg gebe es sie schon. Das Zentrum für Demokratische Kultur will die Akteure der Aktionspläne weiter begleiten. Doch zwei vom Senat geförderte Stellen seien bisher nur bis Jahresende bewilligt.
Ingo
Rößling
Donnerstag, 25. September 2003
Neonazis
Als
"Saufkopp" und "militante Dumpfbacke" hat ihr Kumpel es
weit gebracht: Martin Wieses Ex-Freunde in Mecklenburg-Vorpommern sind
verblüfft, dass der jetzt Anführer einer "Braunen Armee Fraktion"
sein soll. Das hatte Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) erklärt,
nachdem bei dem Neonazi Wiese 14 Kilo sprengstofffähiges Material, darunter 1,7
Kilogramm TNT, gefunden worden waren. Damit habe er, so die Ermittler, einen
Anschlag auf den Festakt am 9. November zur Grundsteinlegung des jüdischen
Kulturzentrums in München geplant. Außerdem fand die Polizei bei Kumpanen der
von Wiese geführten "Kameradschaft Süd" Listen mit den Namen von
Journalisten und Szene-Beobachtern.
Ein rechtes Terror-Netzwerk
Bundesweit wurden weitere Rechtsradikale und Waffenhändler verhaftet und
Wohnungen durchsucht. Der Generalbundesanwalt hat die Ermittlungen übernommen.
Doch ist Wiese wirklich der Führer eines bundesweiten rechten Terror-Netzwerks?
Nach dem Stand der Ermittlungen hatte er innerhalb der Kameradschaft einen
"inneren Zirkel" aufgebaut. Nur diese so genannte Sportgruppe habe
von den Anschlagplänen gewusst. Die Verhaftungen deuten ebenfalls nicht auf
eine breit vernetzte braune Terrorszene hin. "So konspirativ können die
nun auch nicht sein, dass das auf breiter Fläche an uns vorbeigeht", sagt
ein Verfassungsschützer. Wiese habe vielmehr in der gesamten Republik als
Waffenfreak Geld verdient. Er versorgte die Kameraden mit Waffen und
möglicherweise auch Sprengstoff aus dem Osten. Der in München gefundene Stoff,
so Ermittler, tauge größtenteils nicht zur Explosion. "Das Zeug ist
verunreinigt."
Zwar wirft der Münchner Fall nach drei Jahren relativer Ruhe wieder ein
Schlaglicht auf die braune Szene, er taugt jedoch nicht, um eine flächendeckende
und organisiert terroristische Bedrohung zu beschwören.
Der rechte Terror ist ein
alltäglicher
Der rechte Terror ist weiterhin ein alltäglicher. Seit der Wende sind mehr als
100 Menschen von Rechtsradikalen getötet worden. Tausende Überfälle und
Anschläge gehen auf ihr Konto. "Ich habe das Gefühl, dass die reale Gefahr
immer noch heruntergespielt wird", sagt ein Ermittler aus
Mecklenburg-Vorpommern. Er werde am Rande von Neonazi-Demonstrationen immer
wieder bedroht oder gar zu Duellen aufgefordert. Ein führender Rechtsradikaler
an der polnischen Grenze habe ein Kopfgeld von 10000 Euro auf Polizeibeamte
ausgesetzt, die seine Geschäfte störten. Schließlich kostet jedes aufgelöste
Skinhead-Konzert viel Geld. "Es existieren Listen, wer wann wo wie fällig
ist", sagt der Polizist.
Beobachter erkennen zwei Tendenzen: Einerseits hat die Szene geringeren Zulauf
als vor drei, vier Jahren. "Es tauchen weniger neue Namen auf", sagt
ein Verfassungsschützer. Allerdings seien die Überzeugungstäter heute besser
geschult und entschlossener. Sie investieren in eigene
"Bildungszentren" und Internet-Netzwerke.
"Stille Akzeptanz ist das Hauptptoblem"
Wer vor Ort gegenhalten will, hats schwer. Vom medienwirksamen "Aufstand
der Anständigen", den Kanzler Schröder vor drei Jahren nach dem Anschlag
auf die Düsseldorfer Synagoge ausgerufen hatte, ist jedenfalls wenig übrig
geblieben. "Die stille Akzeptanz ist unser Hauptproblem", sagt
Günther Hoffmann vom Demokratie-Bündnis "Bunt statt Braun" in Anklam.
Im örtlichen Telefonbuch darf ein rechtsradikaler Dachdecker mit
altgermanischen Runen werben. Einem toten Kameraden, der vor Jahren bei einem
Autounfall ums Leben gekommen war, wurde eine Tyr-Rune an den Straßenrand
gesetzt, ein Leistungsabzeichen der Hitlerjugend. Im Nordosten rufen die
Rechten jetzt dazu auf, sich bei Gericht als Schöffen zu melden. "Es gibt
sehr wenige Leute, die sich offen gegen Rechtsradikale bekennen", sagt
Hoffmann.
Die, die sich getraut haben, beugen sich dem Druck. In Penkun, nahe der
polnischen Grenze, lehnten sechs von acht Jugendarbeitern es ab, ihre
ABM-Stelle verlängern zu lassen. Und das in einer Region, in der fast jeder
Zweite ohne festes Einkommen ist.
Wo die Jugendklubs geschlossen und Streetworker aus Geldmangel nicht
weiterbeschäftigt werden, füllen Neonazis die Lücke: Mit Nachtangeln und
Volleyballturnieren, Schülerzeitungen und Zeltlagern locken sie den
gelangweilten Nachwuchs. "Ich habe Angst" sagt ein Ermittler, der
sich bestens auskennt, "vor denen, die geduldig und selbstbewusst ihre
Strukturen ausbauen."
Uli Hauser, Mitarbeit: Rainer
Nübel, Georg Wedemeyer
Donnerstag, 25. September 2003
Von deutschem Ruhm
Das Beispiel der populären
"Deutschen Biographischen Enzyklopädie" zeigt, wie die NS-Karrieren
etlicher Wissenschaftler auch heute noch vertuscht und verschwiegen werden.
Eine Stichprobe von Ernst Klee
Die zehn roten Bände der Deutschen Biographischen Enzyklopädie mit ihren 60000 Lebensläufen vom frühen Mittelalter bis in unsere Zeit sind ein nützliches Werk. Ob in der gebundenen Ausgabe des Münchner Wissenschaftsverlages K. G. Saur oder in der Taschenbuchversion von dtv – die DBE steht in allen Redaktionen und hat sich dort wie in den Seminaren der Universitäten, in den Bibliotheken wichtiger Institutionen, aber auch in vielen Privatgelehrtenstuben unentbehrlich gemacht. Dabei bieten die fast 7000 Seiten nur wenige Originalbeiträge. Die meisten Kurz- und Kürzestbiografien sind geraffte Übernahmen aus anderen Werken, aus Spezialhandbüchern wie dem Künstlerverzeichnis Thieme-Becker zum Beispiel oder Bautz’ Kirchenlexikon, oder sie berufen sich auf die Mutter aller deutschen biografischen Nachschlagewerke, die von 1875 bis 1912 in 56 Bänden erschienene Allgemeine Deutsche Biographie, die legendäre ADB, die 26300 Lebensabrisse enthält. Foto: Klaus Kallabis
Der erste Band der Deutschen Biographischen Enzyklopädie erschien 1995, herausgegeben von dem Germanisten Walther Killy; vom vierten Band an zeichnet der Göttinger Historiker Rudolf Vierhaus verantwortlich. Hinzu kommt ein wissenschaftlicher Beirat und ein vielköpfiger Kreis namentlich genannter Mitarbeiter für die einzelnen Fakultäten beziehungweise Felder des Ruhms. Denn in diesem Werk, dem laut Auskunft des Verlags K. G. Saur „in deutscher Sprache in diesem Jahrhundert nichts Vergleichbares zur Seite gestellt werden kann“, stehen die „Großen der Vergangenheit“ und jene, „die in ihrer Zeit bemerkenswert waren und wert sind, in Erinnerung behalten zu werden“. Es geht also nicht nur um nüchterne Information, sondern auch um deutschen Ruhm, um den Einzug ins Pantheon, respektive nach Walhall.
Dabei ist die DBE zunächst einmal eine nützliche Sache, keine Frage. Wer die Lebensdaten oder die Werke eines Künstlers oder eines Physikers, eines Diplomaten oder Kirchenmannes vergangener Jahrhunderte sucht, wird erstklassig bedient. Etwas anders allerdings sieht es im Falle gewisser Zeitgenossen oder Fastzeitgenossen aus. Besonders wenn ihre Schaffensjahre in die NS-Ära fallen – da ist bei der Benutzung der DBE Vorsicht angebracht. Ja, just am Beispiel dieses genau 50(!) Jahre nach Kriegsende begonnenen Werkes erweist sich, wie schwierig, wie unbedarft und bodenlos verlogen der Umgang mit den NS-Verbrechen hierzulande immer noch ist, vor allem da, wo es nicht um die Protagonisten des Regimes geht, um Hitler oder Himmler (deren Steckbriefe hier natürlich nicht fehlen), sondern um ihre stillen Helfer.
Einige Stichproben quer durch die zehn Bände ergeben jedenfalls ein trübes Bild. So gehört, fangen wir in der schönen, bunten Welt der Vögel, bei den Ornithologen, an, zu den 60000 angeblich wichtigsten Deutschen seit karolingischer Zeit der 1888 in Salzburg geborene und 1977 dort auch verstorbene Eduard Tratz, Titularprofessor der Zoologie. Laut DBE war Tratz Vogelkundler auf Helgoland, an der Adria-Vogelwarte in Brioni und schließlich Direktor des Naturkundemuseums Haus der Natur in Salzburg. Weit interessanter als diese Daten sind jene, die komplett unterschlagen werden: Tratz war SS-Obersturmbannführer und sein Haus der Natur in der Salzburger Hofstallgasse 1 eine Lehr- und Forschungsstätte des SS-Ahnenerbes. Die vom Reichsführer-SS Heinrich Himmler begründete Vereinigung zur Verbreitung des Germanenkults finanzierte spinnerte Runenforscher wie verbrecherische Mediziner und ihre KZ-Versuche. Tratz gehörte zum Beirat des Entomologischen (insektenkundlichen) Instituts des SS-Ahnenerbes im KZ Dachau.
Auch sein Kollege Günther Niethammer zählt der Enzyklopädie zufolge zu den großen oder doch wenigstens bemerkenswerten Deutschen. Der Ornithologe kam 1908 im sächsischen Waldheim zur Welt und starb 1974 in Morenhoven bei Bonn. Über ihn heißt es: „N. wurde 1933 in Leipzig mit der Arbeit Anatomisch-histologische und physiologische Untersuchungen über die Kropfbildung der Vögel promoviert. Seit 1957 war er Professor in Bonn. 1967 wurde N. Präsident der Deutschen Ornithologengesellschaft.“ Unerwähnt bleibt, dass der Vogelkundler SS-Obersturmführer war. 1942 veröffentlichte er sein Opus Beobachtungen über die Vogelwelt von Auschwitz. Niethammer hatte 1940/41 und noch einmal im Sommer 1942 im KZ Auschwitz Dienst getan. Danach war er an der Lehr- und Forschungsstätte für Innerasien und Expeditionen des SS-Ahnenerbes tätig.
Von den Vogelkundlern zu den Dichter-Kennern: Auch hier, bei den Germanisten, gibt es Überraschungen. So wird uns zum Beispiel Josef Otto Plassmann, 1895 im münsterländischen Warendorf geboren und 1964 in Celle verstorben, durchaus korrekt als Philologe und Historiker vorgestellt. Seine Stationen: 1943 Dozent für Germanenkunde in Tübingen, 1944 außerordentlicher Professor der deutschen Volkskunde in Bonn, nach 1945 „freier Forscher auf seinen Spezialgebieten mittelalterliche Mystik“, zum Beispiel der „altflämischen Frauenmystik“. Gänzlich unerwähnt indes bleibt, dass der Frauenmystiker 1929 der NSDAP beigetreten war und es in Heinrich Himmlers Schutzstaffel zum Obersturmbannführer brachte. Er zeichnete als Herausgeber der „Monatshefte für Germanenkunde“ Germanien und war Abteilungsleiter im Rassenamt der SS, im Persönlichen Stab des Reichsführers-SS und Leiter der Lehr- und Forschungsstätte für germanische Kulturwissenschaft und Landschaftskunde des SS-Ahnenerbes.
Ähnliche Retuschen finden sich bei dem Juristen Johannes Heckel, 1889 in Kammerstein bei Schwabach geboren und 1963 in Tübingen gestorben. Er wurde, heißt es über ihn, „1928 o. [ordentlicher] Prof. des öffentlichen Rechts, insbesondere Kirchenrechts in Bonn und erhielt 1934 den gleichen Lehrstuhl an der Univ. München, wo er bis zu seiner Emeritierung 1957 wirkte.“ Nicht erwähnt: Heckel war Ende 1933 Rechtsberater des Reichsbischofs Ludwig Müller geworden, eines glühenden Nazis, der die evangelische Kirche „gleichschalten“ sollte. Heckel saß zudem im Beirat der Forschungsabteilung Judenfrage im Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland in Berlin. Dies war eines der widerlichsten antisemitischen Hetz-Institute des „Dritten Reiches“ (Institutsleiter Walter Frank, laut Rudolf Heß der „bahnbrechende Historiker unserer Bewegung“, endete im Mai 1945 durch Suizid). Heckel, selbstredend Mitglied der NSDAP und des NS-Dozentenbunds, wurde 1951 Präsident des Verfassungs- und Verwaltungsgerichts der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland.
Der Bischof, der Dietrich
Bonhoeffer denunzierte
In dem Artikel wird auch sein Bruder Theodor erwähnt. Der Theologe war 1934 von Bischof Müller zum Leiter des Kirchliches Amtes für auswärtige Angelegenheiten ernannt worden und trug seither den Titel Bischof. Er denunzierte bereits 1936 den später hingerichteten Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer als „Staatsfeind“. Nach Kriegsende organisierte Theodor Heckel Hilfssendungen an deutsche Kriegsgefangene in der UdSSR und war Stadtdekan in München. Den Titel Bischof behielt er bis zu seinem Tod 1967 bei.
Schon diese ersten Proben zeigen, dass es um mehr geht als um flüchtige Auslassungen. Hier wird geschönt und retuschiert, beziehungsweise es werden Schönungen und Retuschen aus anderen Lexika unkritisch übernommen, dass sich die Zeilen biegen – vor allem bei solchen „Persönlichkeiten“, die nach 1945 ihre Karriere fortsetzten.
Ein Beispiel dafür ist der Staatsrechtler Ulrich Scheuner. Scheuner wurde 1903 in Düsseldorf geboren und starb 1981 in Bonn. Die Deutsche Biographische Enzyklopädie beruft sich in seinem Fall auf ein Standardwerk, auf das Internationale Biografische Archiv Munzinger, eine Loseblattsammlung, deren Lebensläufe in der Regel von den Porträtierten selber gegengelesen werden. Zwar sind die Stationen von Scheuners Karriere während der Nazizeit in anderthalb Zeilen festgehalten („1933 o. Prof. an der Univ. Jena. 1940 ging er als Ordinarius an die Univ. Göttingen, 1941 nach Straßburg“), doch Weiteres über sein Schaffen in diesen Jahren, vor allem an der nationalsozialistischen „Kampfuniversität“ Straßburg, einer Hochburg brauner Wissenschaft, erfahren wir nicht.
1936 hat kein geringerer als Werner Best, zu dieser Zeit stellvertretender Leiter des Geheimen Staatspolizeiamts, Scheuners Rechtsauffassung gewürdigt. Am 12. Juni schreibt Best an die Staatspolizeistellen und die Politischen Polizeien der Länder: „In der Anlage übersende ich die auszugsweise Abschrift einer im Reichsverwaltungsblatt vom 23. Mai 1936 S. 437 erschienenen Abhandlung des Oberverwaltungsgerichtsrats Prof. Dr. Scheuner Die Gerichte und die Prüfung politischer Staatshandlungen zur gefälligen Kenntnisnahme. Der Ansicht des Verfassers, dass die Nachprüfung von politischen Staats- und Verwaltungshandlungen den Gerichten im Nationalsozialistischen Führerstaat in jedem Fall entzogen ist, ist beizutreten.“
Kein Wort über die
Euthanasie-Propaganda
Scheuner kommt 1947 beim Zentralbüro des Evangelischen Hilfswerks in Stuttgart unter, schon 1950 ist er wieder Professor, jetzt an der ehrwürdigen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. 1954 wird er Mitherausgeber des mehrbändigen Handbuchs Die Grundrechte.
Ein weiterer, von der DBE in ihre Spalten aufgenommener Deutscher, „wert, in Erinnerung behalten zu werden“, ist der Jurist Hans Reschke, 1904 in Posen geboren und 1995 in Mannheim gestorben. 1934 wurde er Landrat des Kreises Höxter, 1939 des Kreises Recklinghausen. Seine verschwiegenen NS-Daten: 1933 NSDAP, Kreisfachberater für Kommunalpolitik, Kreisschulungsbeauftragter der NS-Handwerks-, Handels- und Gewerbe-Organisation (NS-Hago), Mitglied im Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen. Nach amerikanischen Unterlagen (List of SS-Officers, Berlin Document Center, 1946) war er SS-Untersturmführer und arbeitete für Himmlers Sicherheitsdienst (SD).
Für die Zeit nach dem Krieg allerdings sprudeln die DBE-Daten nur so. 1949 ist Reschke Geschäftsführer des Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten in Frankfurt am Main. 1951 wird er Hauptgeschäftsführer der kommunalen Arbeitsgemeinschaft Rhein-Neckar, dann der Industrie- und Handelskammer Mannheim. Von 1956 bis 1972 ist er Mannheims Oberbürgermeister. Hinzugefügt sei: Nebenamtlich war Reschke Präsident des Städteverbands Baden-Württemberg, im Präsidium des Deutschen Städtetages, Vorsitzender des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Senator der Max-Planck-Gesellschaft, Vizepräsident der Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung. 1972 erhielt er das Große Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.
Nicht ganz so diskret geht es zu, wenn die erinnerungswerte Persönlichkeit in der Bundesrepublik keinen rechten Anschluss mehr an ihre NS-Laufbahn fand. So sind im Fall des alten Kämpfers Wilhelm Meinberg, 1898 in Wasserkurl bei Dortmund geboren und 1973 in Kamen gestorben, die Karrierestationen genannt: Er war Mitglied der NSDAP-Fraktion im Reichstag, Reichsobmann des Reichsnährstands, landwirtschaftlicher Gaufachberater der NSDAP, stellvertretender Reichsbauernführer und „Sonderbeauftragter für den Transport der Kohle“. Nach dem Kriege wurde er Vorsitzender der Deutschen Reichspartei (DRP). Sein SS-Rang als Gruppenführer bleibt allerdings ebenso unerwähnt wie die vielleicht für die Nachgeborenen nicht ganz uninteressante Tatsache, dass die DRP Vorläuferin der NPD war.
Besonders wunderlich wird es bei den Ärzten. Die DBE-Einträge zu dieser Berufsgruppe sind übrigens noch einmal separat in einer zweibändigen Biographischen Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner zusammengefasst, 2002 ebenfalls bei K.G. Saur erschienen und herausgegeben von dem Kieler Medizinhistoriker Dietrich von Engelhardt, der auch im Beirat der DBE sitzt. Er dürfte wissen, dass von allen Berufsgruppen die Mediziner mit Abstand am häufigsten der NSDAP und anderen Nazi-Organisationen beigetreten sind (allein an der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität 75 Prozent aller Hochschullehrer der medizinischen Fakultät).
In Engelhardts Mediziner-Enzyklopädie wie in der Deutschen Biographischen Enzyklopädie tauchen Nazi-Ärzte auf, ohne ihre NS-Funktionen überhaupt zu erwähnen. Ein Beispiel ist Hellmuth Unger, 1891 in Nordhausen geboren und 1953 in Freiburg gestorben. Unger, ursprünglich Augenarzt, arbeitete als Funktionär im NS-Gesundheitswesen. Er war unter anderem Schriftleiter der Zeitschrift Neues Volk (Organ des Rassenpolitischen Amts der NSDAP) und Pressereferent des Reichsärzteführers. Hervorgetreten ist er als Co-Autor des Propagandafilms Erbkrank und als Autor des Romans Sendung und Gewissen zur Propagierung der Euthanasie. Unger war an der Planung der Kinder-Euthanasie beteiligt, also an der planmäßigen Ermordung behinderter Kinder.
Wegen seiner einschlägigen Verdienste betrieben 1944 die Reichskanzlei und Hitlers Bevollmächtigter für das Gesundheitswesen, SS-Obergruppenführer Karl Brandt, Ungers Ernennung zum Professor. Dies scheiterte allerdings wegen seiner früheren Mitgliedschaft in einer Freimaurerloge. Nach 1945 war der Beinahe-Professor als Arzt und Autor tätig. Ungers enzyklopädische Bedeutung liegt in seinem Anteil an der mörderischen NS-Medizin, genau dies aber wird unterschlagen.
Selbst ranghohe SS-Mediziner finden sich zwischen den bedeutendsten Deutschen und wichtigsten Ärzten wieder – wie der Internist Alfred Schittenheim (richtig: Schittenhelm), 1874 in Stuttgart geboren und 1954 in Rottach-Egern gestorben. Schittenhelm war von 1934 an Ordinarius in München. In der DBE (wie in der Biographischen Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner) heißt es: „S. beschäftigte sich u. a. mit der Schilddrüse und dem Jodstoffwechsel.“ Dass er SS-Standartenführer war und 1944 zum Führungskreis des NS-Dozentenbunds gehörte, erfährt der Leser nicht.
Ein anderes Beispiel ist der Internist Wilhelm Nonnenbruch, 1887 in München geboren und 1955 in Höxter gestorben. Er war zunächst Professor der Deutschen Karls-Universität in Prag. 1939 wurde er Parteigenosse und Professor in Frankfurt am Main. Nonnenbruch brachte es zum SS-Sturmbannführer. Er wurde 1945 amtsenthoben. Von 1950 an leitete er die Weserberglandklinik in Höxter. In beiden Enzyklopädien „befasste sich [N.] vor allem mit Stoffwechsel- und Nierenkrankheiten“.
Zu den Großen der Heilkunde soll ebenfalls der Zahnmediziner Eugen Wannenmacher gehören, 1897 in Aufen bei Donaueschingen geboren und 1974 in Münster gestorben. Über ihn ist zu lesen: „Seit 1929 a. o. [außerordentlicher] Prof. an der Univ. Berlin, folgte er 1955 einem Ruf an die Univ. Münster. W. beschäftigte sich mit der Histologie und der Pathohistologie des Gebisses, der Biologie des Kauorgans sowie mit der Behandlung und Verhütung von Parodontose und Karies.“ Diese Beschäftigung unterscheidet ihn kaum von einem normalen Zahnarzt. Der Unterschied liegt in der unterschlagenen Nazikarriere: Wannenmacher war SS-Sturmbannführer, Angehöriger der Dienststelle Reichsarzt-SS und im Wissenschaftlichen Beirat des Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen Karl Brandt.
Sogar der Internist und SS-Hauptsturmführer Kurt Gutzeit, am 2. Juni 1893 in Berlin geboren, zählt für die DBE zu den wichtigsten Deutschen seit dem frühen Mittelalter. Gutzeit wurde 1934 Ordinarius der „Grenzlanduniversität“ Breslau, war Parteigenosse und im NS-Dozentenbund. Er denunzierte 1938 den nationalsozialistischen Rektor Martin Staemmler wegen dessen Kontakte zum Chirurgen Karl Heinrich Bauer, der eine „Vierteljüdin“ geheiratet hatte: „Es ist geradezu ein unerträglicher Zustand, dass dieser Einfluß eines jüdisch versippten Fakultätsmitglieds […] durch die Persönlichkeit des Rektors zur Geltung gebracht wird.“
Gutzeit war zudem Beratender Internist beim Heeressanitätsinspekteur. Er hielt bei „bösartigen Störern“ in der Wehrmacht KZ-Internierung für angebracht und koordinierte Übertragungsversuche von Hepatitis, die Leberschädigungen erzeugten. 1944 schreibt er über einen Arzt, der ihm bei Versuchen an jüdischen Kindern aus Auschwitz zu zögernd vorging: „Komisch, wie schwer [bei Versuchen] der Schritt vom Tier zum Menschen ist, aber schließlich und endlich ist das letztere ja doch die Hauptsache.“ 1944 wurde Gutzeit das Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz mit Schwertern zuteil.
Die Spätfolgen der
Persilscheinliteratur
Nach 1945 kehrte der SS-Hauptsturmführer nicht mehr an die Universität zurück, leitete vielmehr das Sanatorium Herzoghöhe in Bayreuth und danach die Klinik Fürstenhof in Bad Wildungen. Im Sommer 1957 bemühte sich die Marburger Philipps-Universität, „den aus Breslau vertriebenen Ordinarius“ wenigstens zum Honorarprofessor zu machen. Vor der Ernennung starb Gutzeit am 28. Oktober 1957 in einer Marburger Klinik. Die Todesanzeige in der Waldeckischen Landeszeitung bittet um Spenden an die Stille Hilfe, eine Hilfsorganisation für inhaftierte Nazitäter.
In den ersten Jahren nach dem Krieg versuchten die Alliierten, Nationalsozialisten in führenden Positionen aus ihren Ämtern zu entfernen. Die so genannte Entnazifizierung setzte eine gigantische Lügenliteratur in Gang, im Volksmund „Persilschein-Ausstellen“ genannt. Fast jeder bescheinigte fast jedem alles. So verwandelten sich Hitlers Parteigenossen zu Mitläufern und „inneren“ Widerstandskämpfern. Gutzeits Entnazifizierungsverfahren endete beispielsweise im Herbst 1948 in München. Auch hier finden sich die üblichen Persilschein-Geschichten, wonach er beispielsweise Weihnachtsfeiern in der Klinik toleriert habe. Gutzeit wurde „als Vertreter hohen Menschentums“ laufen gelassen.
Die Deutsche Biographische Enzyklopädie spiegelt diese Entnazifizierung gerade im Wissenschaftsbereich aufs Schönste. Es gibt keine Nazis mehr. Selbst die ranghöchsten Mediziner in Himmlers Schutzstaffel, die Elite des Naziterrors, kommen als ehrbare Ordinarien zu Lexikon-Ehren.
Das Fälschen von Biografien mag juristisch kein Verbrechen sein. Ein Verbrechen an den vertriebenen oder in den Suizid getriebenen jüdischen Wissenschaftlern ist es allemal – und eine Verhöhnung der Millionen Menschen, die während der Naziherrschaft gequält und ermordet wurden.
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Donnerstag, 25. September 2003
Der neue Bremer Innensenator Thomas Röwekamp (CDU) will härter gegen Asylbewerber vorgehen. Nach einem Bericht der taz vom 17. September will er »Abschiebehindernisse beseitigen«. Im ersten Halbjahr 2003 habe es »nur« 152 Abschiebungen aus Bremen gegeben. Nun wolle er etwa die »gesundheitlichen Prüfungen« vor den Abschiebungen einschränken und »Teilausreisegruppen« bilden, um Familien leichter trennen zu können. Am 14. September protestierte die Nordelbische Kirche gegen die Abschiebepraxis der Stadt Hamburg. »Viele werden in Hamburg verhaftet, bevor überhaupt Gründe für ihre Abschiebung gefunden, geschweige denn geprüft worden sind«, sagte die Pastorin Fanny Dethloff dem Hamburger Abendblatt. »Zwischen 2 000 und 4 000 Menschen sollen in Hamburg bis Februar abgeschoben werden, das gibt eine Massenpanik. Die Menschenrechtsverletzungen in Hamburg nehmen zu.« Am 12. September kam es in Löbau (Sachsen) auf dem dortigen Stadtfest zu schweren Ausschreitungen. Rechtsextreme Jugendliche prügelten sich mit einer Gruppe Spätaussiedler. »Zu den Motiven der Auseinandersetzung ist derzeit noch nichts bekannt«, erklärte die zuständige Polizeidirektion Görlitz. Sechs Personen im Alter von 17 bis 39 Jahren wurden verletzt. Die Polizei ermittelt wegen schweren Landfriedensbruchs. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ist offenbar am 10. September wieder ein Flüchtling aus Afghanistan aus Niedersachsen abgeschoben worden. Alle Anträge, die Abschiebung des 25jährigen zu verhindern, seien abgelehnt worden, erklärte ein Sprecher des niedersächsischen Flüchtlingsrates der Jungle World. Der Mann lebte seit zwölf Jahren in Deutschland und spricht fließend deutsch. Seine Eltern und seine Geschwister wurden in Deutschland eingebürgert. Die Familie hatte sich bereit erklärt, den Lebensunterhalt für ihn zu bestreiten. Bisher wurden Abschiebungen nach Afghanistan wegen der dortigen instabilen Lage und wegen der Bitten des UNHCR nicht durchgeführt. Seit der Innenministerkonferenz vom 15. Mai dieses Jahres werden Abschiebungen in das Land wieder in Erwägung gezogen. Bereits am 24. August erlag der Türke Hüseyin Dikec seinen schweren Brandverletzungen. Der Mann hatte sich am 31. Juli in einem Ausländeramt des Kreises Gütersloh (Niedersachsen) aus Angst vor seiner Abschiebung selbst angezündet. Dikec ist bereits der zweite Tote im Zusammenhang mit der Ausländerbehörde des Kreises Gütersloh. Bereits im Januar erhängte sich der Georgier David Madeov, der ebenso abgeschoben werden sollte. Am 30. Juni teilte die Ausländerbehörde der Witwe und den beiden Kindern Madeovs mit, dass sie »das Bundesgebiet unverzüglich zu verlassen« hätten. Ihnen droht die Abschiebung, sollten sie nicht bis zum 30. September das Land verlassen haben. In Berlin ist die Anzahl der Delikte mit rechtsextremem Hintergrund im vergangenen Jahr stark angestiegen, teilte der der Verfassungsschutz in der vorigen Woche mit. Im Vergleich zum Vorjahr habe sich die Zahl solcher Straftaten im Jahr 2002 von 455 auf 948 nahezu verdoppelt.