Freitag, 26. September 2003

Evangelischer Jugendtreff nicht nur für junge Christen

Heute eröffnet „Enno“

 

Bad Doberan Das größte Zimmer bis auf einen Schrank ganz leer, Werkzeuge auf Tisch und Sofa verstreut, der Tischler am Bohren und Schrauben – gestern sah es in der Baumstraße 17 noch sehr nach Arbeit aus. Heute um 19 Uhr soll alles fertig sein – dann eröffnet der Jugendtreff „Enno“ in den zwei Räumen mit Küche und Toilette. Enno steht für Evangelisches Jugendnetzwerk Nordost.

   „Vor allem dank der Förderung durch das Civitas-Programm beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend entstehen seit 2001 diese kirchlichen Treffs“, sagt Claudia Clara. So gibt es bereits welche in Bad Sülze und Tessin. Die 29-jährige Sozialpädagogin wird junge Leute zwischen 14 Jahren und Mitte 20 im Doberaner „Enno“ betreuen. Ein Internet-Café soll es geben und Projekte, die sich nach den Interessen der Jugendlichen richten.

   Zum Vorbeigucken eingeladen sind nicht nur christliche Jugendliche. Das ist auch ein Grund für die Neueröffnung. „Bislang traf sich die Jugend der evangelischen Gemeinde hinter dem Gemeindehaus am Münster im ,Stall\'. Viele Jugendliche, die nicht in der Kirche sind, gehen nicht unbedingt in kirchliche Räume“, sagt Claudia Carla. Außerdem sollte der Jugendtreff mehr in die Stadt, „mehr Bezug zur Öffentlichkeit bekommen.“ Der „Stall“ werde nach der Enno-Eröffnung geschlossen.

   Träger von „Enno“ Bad Doberan ist die evangelische Jugend im Kirchenkreis Rostock, stark unterstützt wird der neue Jugendtreff von der evangelischen Gemeinde Bad Doberan. Deren Jugendliche haben auch mitgeholfen beim Herrichten der neuen Räume, zum Beispiel die Wände gestrichen.

 

 

 

Freitag, 26. September 2003

Zehn Nationalitäten unter einem Dach

Erika Stegemann setzt sich in der Kita Steppkeland für Integration ein

Über die reine Betreuung hinaus geht die Mission der Kita-Leiterin: Sie initiierte vor fast drei Jahren das Projekt „Mein Freund, der anders ist“, um Kindern den Einstieg in der neuen Heimat zu erleichtern.

Dierkow „Einmal Erzieherin – immer Erzieherin“, sagt Erika Stegemann schmunzelnd. Die 54-Jährige leitet seit 1985 die Kindertagesstätte Steppkeland in Dierkow. Heute ist der Träger der Einrichtung das Deutsche Rote Kreuz (DRK).

   „Vor der Wende hatten wir hier mehr als 300 Kinder“, erinnert sich Erika Stegemann. Viel habe sich seitdem verändert, nicht nur die Zahl ihrer Schützlinge. 180 Mädchen und Jungen werden zurzeit im Steppkeland betreut. „Die Arbeit macht nach wie vor Spaß, die Anforderungen haben sich aber verändert. Die Eltern sind sehr anspruchsvoll und dankbar“, erzählt die Leiterin.

   Weil seit 1989 immer mehr Spätaussiedler und Ausländer ein neues Zuhause im Nordosten finden, initiierte Erika Stegemann ein Integrationsprojekt. „Mein Freund, der anders ist“ lautet der Titel. Ziel ist es, den Kindern in der neuen Heimat den Einstieg zu erleichtern und dabei auch die Eltern miteinzubeziehen. Zehn verschiedene Nationalitäten sind unter dem Dach des Steppkelands vertreten, unter anderem Togolesen, Iraner, Iraker, Vietnamesen und Bulgaren. „Wir haben vor fast drei Jahren gemerkt, dass schon unsere Hortkinder teilweise rechte Parolen \'drauf hatten und wollten etwas dagegen unternehmen.“ Unterstützung fand die Toitenwinklerin bei der Initiative Civitas, die sich gegen Rechtsradikalismus in den neuen Bundesländern engagiert.

   Im Laufe der Zeit organisierte Erika Stegemann mit ihren Kolleginnen beispielsweise das Fest „Weihnachten in allen Ländern“, wobei die Kinder die Bräuche aus ihren Herkunftsländern vorstellen durften. Aber auch Fahrten, Ausflüge und Freizeitangebote stehen auf dem Programm des Projektes. Dabei wird sehr eng mit den Vereinen aus dem Nordosten zusammengearbeitet. „Unsere Probleme werden von Ortsamt und Ortsbeirat stets ernst genommen“, sagt Frau Stegemann. Bei den Angeboten werden nicht nur die Kinder aus dem Haus nebst Familien angesprochen, sondern auch „Fremde“. So ist zum Beispiel jeden Mittwoch die Ausländerbeauftragte des DRK zu Besuch und berät bei allen möglichen Fragen. Ebenso steht das Steppkeland-Team den Neu-Rostockern mit Rat und Tat zur Seite, wenn es um Behördengänge und Ähnliches geht.

   Durch ihre guten Russisch-Kenntnisse kann Erika Stegemann viele Hürden aus dem Weg räumen. Sie erzählt: „Ich bin aber immer überrascht, wie schnell auch die Erwachsenen Deutsch lernen.“ Sprachbarrieren tauchten bei den Lütten eher selten auf. Wenn ein neues Kind das Steppkeland besucht, seien die anderen immer sehr neugierig auf eine neue Sprache und ein neues Gesicht.

JENNY KATZ

 

 

 

Freitag, 26. September 2003

Mit Kunst die Angst in Neugier verwandeln

Internationale Künstler präsentieren Anti-Rassismus-Show „Instant Act“

Grevesmühlen Es beginnt mit dem „Fidschi um die Ecke“ und geht weiter mit den Spätaussiedlerkindern, die in der Schule diskriminiert werden: „Ihr seid keine echten Deutschen, vielleicht hattet ihr mal \'nen deutschen Schäferhund!“

   Daniela Ploen, Koordinatorin des Präventionsrats, bringt es auf den Punkt: „Das ist alles Rassismus.“ Und damit aus solchen Bemerkungen keine handfesten Einstellungen werden, ist Prävention angesagt, auch im Landkreis Nordwestmecklenburg.

   „Instant Act“ heißt das künstlerische Projekt gegen Gewalt und Rassismus, das am 8. Oktober in Schönberg vorgestellt wird. Der Gedanke dahinter: die Kunst nutzen, um die Angst vor dem Ausländer, dem Fremden in Neugier zu verwandeln. Kunst wird zum Kommunikationsmittel.

   Getreu diesem Motto kommen am 8. Oktober rund 30 junge Künstler aus Europa, Afrika und Südamerika nach Schönberg. Sie bringen persönliche Alltagserfahrungen mit, die sie durch Tanz, Akrobatik, Musik und Theater zum Ausdruck bringen.

   Aber auch das Engagement der Schüler ist gefragt. Am Vormittag sind die 10. Klassen der Regionalschule und des Gymnasiums Schönberg zu Workshops mit den Künstlern geladen. Im Angebot sind Capoeira, Modern Dance, Kampftheater, Ad hoc Skulpturen, Sambarhythmen, Gauklerspiele, Rap und ein Song Contest.

   Ab circa 13.30 Uhr treten dann die Künstler (gemeinsam mit den Schülern) in der Sporthalle auf. Zu dieser Show sind auch andere Schüler und Klassen willkommen. Wer Interesse hat, kann sich im Jugendamt bei Hans-Joachim Jantzen oder bei Daniela Ploen anmelden (Telefon 03881/722509 oder 722554).

Das Projekt „Instant Act“ findet zum fünften Mal unter der Regie des Jugendamts im Landkreis Nordwestmecklenburg statt. Zwar sind Sinn und Zweck des vom Familienministerium, vom Kreis, der Stadt Schönberg und der Sparkasse geförderten Projekts immer gleich. Die Ausgestaltung aber ist jedes Mal neu, betonen die Veranstalter.

   Die Schauspieler, Sänger, Tänzer, Musiker und Akrobaten kommen übrigens nicht nur nach Schönberg. Ihr Auftritt dort ist Teil einer Tournee durch 25 Städte in ganz Deutschland. Nach Schönberg werden sie in Wuppertal erwartet.

E. FLATAU

 

 

 

Freitag, 26. September 2003

 

Länder wollen Projekte gegen rechts nicht mitfinanzieren

Initiativen droht das Aus, da der Bund die alleinige Finanzlast ablehnt / Experten von Rot-Grün erwägen, Stiftung zu gründen

Projekten gegen Rechtsextremismus droht das Aus. Ihre Träger fordern die Bundesländer zur Unterstützung auf. Zugleich machen sich rot-grüne Fachpolitiker im Bundestag dafür stark, die Bundesmittel für diesen Bereich nicht wie geplant zu kürzen.

Von Pitt von Bebenburg

FRANKFURT A. M., 25. September. Drei Jahre nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) den "Aufstand der Anständigen" ausgerufen hat, fehlt den Initiativen gegen Rechtsextremismus finanzielle Hilfe. "Die mühsam aufgebaute Projektelandschaft gegen Rechtsextremismus, die angesichts der alltäglichen rechtsextremen Gewalt eine nachhaltige Unterstützung benötigt, scheint bereits nach kurzer Zeit auszutrocknen", warnten die "Mobilen Beratungsteams" in Ostdeutschland am Donnerstag. Sie wiesen darauf hin, dass dies ausgerechnet zu einem Zeitpunkt geschehe, an dem die Funde in München die Gefahr des Terrors von Rechtsextremisten deutlich sichtbar machten.

Hintergrund ihrer Sorge ist die Tatsache, dass der Bund Geld aus den Programmen "Civitas" und "Entimon" künftig nur noch an Projekte auszahlt, die eine Kofinanzierung der Länder nachweisen können. "Ohne Kofinanzierung droht den Projekten das Aus", stellen die Beratungsteams fest. Bisher habe sich "allerdings noch kein Bundesland zu einer Kofinanzierung der Initiativen gegen Rechtsextremismus bereit erklärt". Die Teams aus Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Berlin und Sachsen dringen daher auf Zusagen der Länder für die Jahre 2004 bis 2006.

Der Bund hatte die Programme im Jahr 2001 aufgelegt. Dabei ging es um die Anschubfinanzierung für "Modellprojekte". Im Etat von Jugendministerin Renate Schmidt (SPD) stehen in diesem Jahr jeweils zehn Millionen Euro für "Civitas" und "Entimon" bereit. "Civitas", ein Programm für Ostdeutschland, finanziert Opferberatungsstellen und Mobile Beratungsteams an Schwerpunkten der rechtsextremen Bedrohung. Mehr als 900 Projekte erhalten davon Geld. "Entimon" ist noch breiter angelegt und fördert Initiativen in der ganzen Republik.

Fachpolitiker von SPD und Grünen setzen sich dafür ein, dass die jährlich 20 Millionen Euro für beide Programme auch in den nächsten Jahren erhalten bleiben. Bei einem Treffen am Donnerstag in Berlin betonten sie ihr "ganz erhebliches Interesse an Verstetigung". Die Planung der Bundesregierung sieht aber vor, dass der Betrag für "Civitas" drastisch auf acht Millionen Euro im nächsten Jahr sinkt und auf jeweils fünf Millionen in den Jahren 2005 und 2006. Bei "Entimon" stehen weiterhin zehn Millionen für 2004 und anschließend neun Millionen Euro pro Jahr im Plan.

Als eine Möglichkeit wird bei den Rechtsextremismus-Experten im Bundestag auch erwogen, eine Stiftung zu gründen, die die Arbeit der Initiativen dauerhaft fördern könnte. Auf diese Weise könne man das langfristige Ziel erreichen, dass man die Förderung der Projekte "nicht zum Gegenstand einer jährlichen Haushaltsberatung machen muss", sagte der SPD-Abgeordnete Sebastian Edathy.

 

 

 

Freitag, 26. September 2003

Bewährungsstrafe für V-Mann

Potsdam - Wegen Verletzung des Dienstgeheimnisses ist der ehemalige Brandenburger V-Mann Christian K. vom Amtsgericht zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Dies teilte die Potsdamer Staatsanwaltschaft gestern mit. Das Gericht habe den Vorwurf, Christian K. habe den konkreten Termin einer polizeilichen Durchsuchung verraten, als erwiesen angesehen. Der Termin war ihm zuvor von seinem V-Mann-Führer mitgeteilt worden. Spitzel Christian K. soll dem Neonazi Sven S. im Februar des Jahres 2001 berichtet haben, er wisse von einer geplanten Razzia. dpa

 

 

 

Freitag, 26. September 2003

Hakennasen statt Hakenkreuze

Dient der Antisemitismusvorwurf der Aufklärung? Oder regiert die Logik des Skandals? Rätselhaft ist bloß, dass es Judenhass gibt, aber offenbar keinen, der Juden hasst (5)

"Verzeihung, sind Sie Antisemit?", fragt Moishe einen Mann am Bahnhof. "Nein, natürlich nicht. Ich habe jüdische Freunde." "Entschuldigen Sie bitte die Frage", sagt Moishe, geht weiter und fragt den Nächsten: "Sind Sie vielleicht Antisemit?" Auch dieser verneint empört. So geht es immer weiter, bis er schließlich an einen Mann gerät, der antwortet: "Und ob! Das sind doch alles Halsabschneider, die sich weltweit verschwören." "Wunderbar", sagt Moishe, "Sie sind ein ehrlicher Mann. Würden Sie bitte einen Moment auf meinen Koffer aufpassen?"

Ist Ted Honderich, der Terroranschläge auf israelische Zivilisten für moralisch hält, ein Antisemit? Natürlich nicht. Und Martin Walser? Natürlich auch nicht. Und Andreas von Bülow? Natürlich auch nicht. Horst Mahler? Die vorzeitig gestörten Attentäter von München?

Vielleicht, aber sicher bin ich mir nicht, schließlich hat selbst Adolf Eichmann vor Gericht in Jerusalem bestritten, einer zu sein. Vermutlich sind die Antisemiten längst ausgestorben. Nur der Antisemitismus lebt und wächst. Dabei stimmen laut einer Studie, die im Auftrag des American Jewish Committee im Oktober 2002 durchgeführt wurde, 40 Prozent der deutschen Bevölkerung der Aussage zu: "Juden hätten zu viel Einfluss auf das Weltgeschehen." Das Bundesamt für Verfassungsschutz registrierte allein im vergangenen Jahr 50 Prozent mehr Gewalttaten mit antisemitischem Hintergrund. Geschändete Friedhöfe, Angriffe auf Synagogen, Überfälle auf orthodoxe Juden - aber weit und breit kein Antisemit.

Es ist ein merkwürdiges Phänomen: Der Antisemitismus ist allgegenwärtig, aber es gibt kaum Antisemiten. Zumal in der Linken, die sich in fröhlicher Selbstherrlichkeit grundsätzlich auf der richtigen Seite wähnt, was aber keinesfalls Empathie für die Opfer bedeutet. Eindrucksvoll hat dies gerade wieder Hartmut Berlin, der Chefredakteur von Eulenspiegel, belegt, der auf dem Titelbild eine erstens geschmacklose und zweitens eindeutig antisemitische Karikatur abbildete, auf der Michel Friedman mit Hakennase zu sehen ist, gezeichnet von Arno Funke alias "Dagobert", dem früheren Kaufhauserpresser.

Nun lässt sich über Michel Friedman vieles sagen, mit Sicherheit aber nicht, dass er eine Hakennase hat. Dennoch kann dieses Titelbild nicht antisemitisch sein, nach dem Selbstverständnis des Chefredakteurs, weil es ja von einer linken Zeitung abgedruckt wurde. Es ist dieselbe Logik, mit der sich die Bezeichnung "Antisemit" grundsätzlich für alle verbietet, die sich von Auschwitz distanzieren. Der Antisemitismus aber ist älter als Auschwitz, und er ist mit der Zerstörung der Vernichtungslager nicht verschwunden. Doch seither liegt, zumindest in Deutschland, immer Brandgeruch in der Luft, wenn über Antisemitismus diskutiert wird, was zu einer sonderbaren Verkehrung geführt hat. Nicht der Antisemit verstößt gegen das Tabu, wohl aber der Kritiker, der ihn als solchen bezeichnet. Wer, zumal aus jüdischer Position, diesen Vorwurf erhebt, läuft Gefahr, sich zu diskreditieren, sich außerhalb des akzeptierten Diskursraums zu begeben. Und so ist stattdessen von "antisemitischen Ressentiments" oder von "antisemitischem Antizionismus" die Rede.

Am deutlichsten lässt sich dieses Reaktionsmuster derzeit bei der Nahostdebatte beobachten. Vehement wird gefordert, was schon immer eine brutale Selbstverständlichkeit war, die schonungslose Kritik israelischer Politik. Mir ist kein Beispiel dafür bekannt, dass Israelkritiker als Antisemiten diffamiert würden. Stattdessen insinuiert diese Debatte ein Tabu, das es doch längst nicht mehr gibt, vielleicht noch nie gab. Die politische Position zur israelischen Politik sagt zunächst einmal nichts über die Frage aus, ob diese durch antisemitische Ressentiments bestimmt wird. Auch die Verweigerung, sich einzufühlen in die Empfindungen von Menschen, die erfahren haben, dass eine Vernichtungsandrohung wie etwa die Charta der Hamas keine abstrakte Rhetorik ist, sondern schon einmal tödliche Realität war, kann bloße Gefühlskälte oder unbewusste Abwehr sein. Oder eben Antisemitismus. Dass jemand Israel kritisiert, ist ja noch kein Beweis dafür, dass er kein Antisemit ist.

Die Nahostdebatte ermöglicht eine einmalige affektive Entlastung bis hin zu moralisch gereinigten Vernichtungsfantasien. Selbst die Solidarität mit palästinensischen Selbstmordattentätern, die unterschiedslos Babys wie Überlebende der Schoa in die Luft sprengen, weil sie Juden sind, geriert sich als Solidarität mit den Opfern. So können auch Attac-Mitglieder problemlos Unterschriften für die Rücknahme der EU-Entscheidung sammeln, die Hamas als Terrororganisation einzustufen, und gleichzeitig jeden Verdacht, Antisemiten zu unterstützen oder gar selbst zu sein, weit von sich weisen. Und genauso wenig muss es sie dann kümmern, in welcher gedanklichen Nachbarschaft sich die Parolen befinden. Hinter dem Banner "Freiheit für Palästina" können sich linke Globalisierungsgegner eben genauso gut sammeln wie islamische Fundamentalisten oder Neonazis.

Genauso wird dies auch am 27. September bei den weltweiten Demonstrationen zur Unterstützung der Intifada wieder sein. Dass es sich bei diesem Datum ausgerechnet um das jüdische Neujahrsfest Rosch Haschana handelt, wird die Demonstranten dabei nicht irritieren. Ist es antisemitisch, an einem der höchsten jüdischen Feiertage auch mit jenen gemeinsame Sache zu machen, deren erklärtes Ziel und blutige Praxis die Ermordung von Juden ist? Die diskursiv reflexhafte Antwort wird dies verneinen. Schließlich geht es um Israel und nicht um Juden.

Wie theoretisch dabei die Unterscheidung zwischen antiisraelisch und antijüdisch ist, zeigt die Zahl der Angriffe nicht auf Israelis und ihre offiziellen Vertretungen im Ausland, sondern auf Juden und jüdische Einrichtungen. Nur: Dieser eindeutig antisemitische Reflex löst keine Solidarität linker Friedensaktivisten aus, geschweige denn Kampagnen für "menschliche Schutzschilde". Dass Synagogen und Gemeindezentren geschützt werden müssen, bleibt der Polizei überlassen. Erst wenn Angriffe auf Juden selbstverständlich geächtet und ihre Rechtfertigung auf taube Ohren und nicht auf interessierte Leser trifft, lässt sich gelassen über die Definition von Antisemitismus diskutieren. Doch danach sieht es auf absehbare Zeit nicht aus.

Suhrkamp mag Ted Honderichs Buch vom Markt genommen haben, Piper aber verkauft Andreas von Bülows Verschwörungshetze munter und erfolgreich weiter und verdient so an der Brunnenvergiftungslegende von der Verantwortung der Juden für den Anschlag auf das World Trade Center. Zweifellos halten sich weder Piper-Verlagschef Viktor Niemann noch sein Autor für Antisemiten. Beide sind ebenso ungeeignet, auf Moishes Koffer aufzupassen wie die vielen Leser, die das Buch neben Bröckers Bestseller über die Verschwörungstheorien zum 11. September in ihr Regal gestellt haben." ESTHER SCHAPIRA

 

 

Freitag, 26. September 2003

V-Mann-Affäre: Ex-Spitzel verurteilt

Fünf Monate Haft auf Bewährung für Verrat einer Razzia an Neonazi

Potsdam. Das Amtsgericht Brandenburg/Havel hat einen ehemaligen Spitzel des Verfassungsschutzes zu fünf Monaten Haft verurteilt, weil er eine Polizeirazzia verraten hat. Die Strafe wurde für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Der rechtsextreme V-Mann Christian K. hatte, wie berichtet, am 6. Februar 2001 von einer für den 17. Februar geplanten Razzia der Potsdamer Polizei erfahren und dann den Neonazi Sven S. telefonisch informiert. Das Landeskriminalamt hörte das Gespräch ab, dann zog das Potsdamer Präsidium eilig die Durchsuchungen in der rechtsextremen Szene auf den 7. Februar vor. Gefunden wurden jedoch nur Baseballschläger, CDs und Propagandamaterial.

Den Termin der Razzia hatte ein Verfassungsschützer dem V-Mann genannt. Der Beamte bestritt dies später jedoch in sechs dienstlichen Erklärungen. Die Staatsanwaltschaft Potsdam ermittelte aber in diesem Sommer, dass der Beamte gelogen hatte. Gegen den einstigen V-Mann-Führer, der inzwischen an anderer Stelle im Innenministerium tätig ist, läuft ein Disziplinarverfahren. Unklar bleibt, warum der Beamte dem Spitzel das Datum der Razzia nannte. Und warum der Verfassungsschutz den V-Mann trotz des Verrats noch 18 Monate führte.

Die V-Mann-Affäre wurde erst im Mai dieses Jahres bekannt. Möglicherweise hat der Spitzel nicht nur den Erfolg einer Razzia vereitelt, sondern auch ein Verfahren von Generalbundesanwalt Kay Nehm gestört. Nehm ermittelt seit Januar 2001 vergebens gegen die Terrorgruppe „Nationale Bewegung“, die zahlreiche Straftaten bis hin zu Brandanschlägen verübt hat. Frank Jansen

 

 

Freitag, 26. September 2003

 

Lea Rosh, streitbar für Hoyerswerda
„Angekündigte NPD-Aktion am 13. Dezember mit einem «Grimma-Effekt» zur Wirkungslosigkeit verurteilen!“
Von Uwe Jordan

Nach 2001 und 2002 wird es in Hoyerswerda auch in diesem Jahr ein „Politisches Café“ geben – oder, besser gesagt, ein Forum „Demokratie leben“. Angestoßen hat es, wieder, die Publizistin Lea Rosh.

Allerdings möchte sich die Berlinerin, 2001/ ’02 Initiatorin, Ausrichterin und Moderatorin, im nächsten Jahr auf eine „Paten-Rolle“ zurückziehen. Bei der Vorberatung der 2003-er Veranstaltung mit ausgesuchten Verantwortlichen vor Ort begründete sie das mit einem Lob an Hoyerswerda: „Es gibt viele Gruppen und Initiativen hier, die sich dem Schutz der Demokratie gegen Rechts widmen. Unser Anliegen war und ist, ihr Wirken mitein-ander zu vernetzen. Sie dazu zu bringen, besser miteinander statt nebeneinander zu arbeiten – und über die Stadtgrenze zu schauen.“

Die Diskussionsrunden des Cafés/ Forums sollen beitragen, Bürger-Engagement für Demokratie und gegen rechte Umtriebe zu fördern. „Das geht aber nur, wenn man das an ganz konkreten, lokalen Themen festmacht, die für die Menschen begreifbar sind – und so ihre Initiative herausfordern.“ Darum werden die Hoyerswerdaer Partner (RAA, Foucault-Gymnasium, Superintendentur, und, und, und...) die Themen für die Hoyerswerdaer Foren 2003 „finden“. Lea Rosh wird diese Foren moderieren.

Lea Rosh, die mit ihren Mitstreitern Christa Stark und Jakob Schulze-Rohr in Hoyerswerda weilte, zeigte sich „sehr positiv überrascht, wie offen Hoyerswerda, besonders das offizielle politische Hoyerswerda, mit den Themen «1991», «Rechtsradikalismus» und «Fremdenfeindlichkeit» umgeht“, dass es hier keinen Verdrängungs-Reflex (mehr?) gebe, wie er manchenorts leider noch zu beobachten sei.

Mit den Aktionen vor Ort wolle man nicht nur die einzelnen Bürger-Initiativen und -gruppen zum Handeln gegen Rechts auffordern, sondern vor allem die Bürger selbst wachrütteln. „Wenn am 13. Dezember die NPD hier auftreten will – dann müssen wir dem einen Grimma-Effekt entgegenhalten!“ Dort hatten Bürger bei einem NPD-Pressefest den marschierenden Rechten ein Spalier gebildet – allerdings ihnen den Rücken zugekehrt. Die Polizei hatte schnell und heftig durchgegriffen beim geringsten Versuch, rechte Symbole zu präsentieren. Durch dieses Aktionsbündnis wurde das NPD-Vorhaben in Grimma ein Desaster.

Allerdings wolle man nicht nur taktisch vor Ort re-agieren, sondern verstärkt überregional agieren. „In Eberswalde gibt es ein Finanzierungsmodell für demokratische Initiativen über eine Stiftung. Das würden wir gern hier bekannt machen. Andererseits ist Hoyerswerda sehr weit bei der Arbeit mit den Eltern – und nur über die kommt man ja an Jugendliche ’ran. Von diesem Wissen sollten andere profitieren.“

Foren „Demokratie leben“ im Hoyerswerdaer M.-L.-King-Haus, 15.10., 18 Uhr und 18.11., 18 Uhr; Moderation: Lea Rosh.

 

 

 

Freitag, 26. September 2003

 

Nach 200 Jahren zurück in die Heimat
Seit zehn Jahren starten aus dem Ausland heimgekehrte Deutsche ihr neues deutsches Leben im Aussiedlerheim Wiednitz
Von Thomas Mielke

Ganz still sitzt Johann Dillmann auf der fremden Bank. Seine wachen hellblauen Augen fixieren den Wald. „Ich will, dass es meinen Kindern besser geht“, sagt der 67-jährige im uralten deutschen Dialekt leise. Bedächtig nickend unterstreicht er die Worte. Seine Kinder haben zu Hause keine Arbeit gefunden. Mit seiner Rente und ein paar Tieren hat er sie durchbringen müssen. Deshalb haben sie die Sachen gepackt und sich auf die weite Reise von Kasachstan nach Deutschland begeben. Nach 200 Jahren ist Familie Dillmann aus Landau in die Heimat zurückgekehrt.

Von Kasachstan

nach Wiednitz

Vater Dillmann und seine zehnköpfige Familienschar sind Aussiedler. Die fremde Bank, auf der er jetzt fast jeden Tag sitzt, steht in der Wiednitzer 300-Seelen-Ortslage Heide. Vor dem Übergangswohnheim. Dillmanns gehören zu tausenden Deutschen, die pro Jahr zurück nach Deutschland kommen. Fast alle kämen aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, sagt Andrea Kunath, Justitziarin im Dezernat Jugend, Soziales und Gesundheit im Landratsamt Kamenz. Das Wiednitzer Heim ist nach dem kurzen Aufenthalt im Aufnahmelager Friedland ihr erstes Zuhause. Zuvor haben sie mit einer Formular-Flut gekämpft. Auch Johann Dillmann hat 16 Seiten ausgefüllt und nachgewiesen, dass er deutsch ist. Zwei bis sechs Jahre dauert die Antragsprozedur laut Andrea Kunath.

Vor zehn Monaten ist Johann Dillmann dann in Heide angekommen. Die Eisenbahn hat ihn von Friedland nach Hosena gebracht. Von dort geht es für alle mit dem Taxi nach Heide weiter. Das Gepäck bringt Hermes hinterher.

Die Autos halten in Heide vor einem alten Plattenbau. Mehrgeschossige Tristesse in schöner, grüner Umgebung. Ab 1991 ist diskutiert worden, was mit dem ehemaligen Eisenbahner-Lehrlingswohnheim passieren soll. Gegen Asylanten haben sich die Wiednitzer damals gewehrt. Im August 1993 ist die Diskussion beendet und das Haus als Aussiedler-Heim eröffnet.

220 Menschen haben im Heim Platz. 160 nutzen es zurzeit. Sie zahlen an die Chemnitzer Betreiberfirma Gebühren für die Nutzung. „77 Euro pro Erwachsenen und 38 Euro pro Kind“, sagt die Heimleiterin. Das Geld ist Teil der Sozialhilfe, die ihnen als „Deutsche im Sinne des Gesetzes“ (Andrea Kunath) zusteht. Für die Gebühr bekommen sie die Hilfe eines Hausmeisters, der Heimleiterin und ausreichend Wohnraum in den spärlich möblierten Zimmern. Einen Fernseher gibt es nur im Gemeinschaftszimmer. Die Schränke kennen noch Lehrlingsfeten, an den Zimmerdecken sind Flecken und die typischen weißen Neonröhren. Dafür ist die Heimleiterin nett und rührig. So versucht Ruth Joachim beispielsweise den Aussiedlern die deutschen Feiertage mit Wandzeitungen und kleinen Feiern näher zu bringen. „Die russischen feiern sie nicht mehr, wir sind ja hier in Deutschland“, sagt die Heimleiterin.

Ein halbes Jahr bleiben die Aussiedler in der Regel in Wiednitz. „Sie müssen nicht ausziehen“, versichert Ruth Joachim. Für die Integration aber ist es besser. Denn im Heim sind sie isoliert - und das Sprachgewirr bleibt oft russisch, weil die angeheirateten Verwandten nicht Deutsch können.

Dafür, dass sich das ändert, besuchen fast alle gleich nach ihrer Ankunft sechsmonatige Sprachkurse. Außerdem erledigen sie in den ersten Wochen unzählige Behördengänge. Bei den Anträgen hilft ihnen die Heimleiterin. Zum knapp fünf Kilometer entfernten Supermarkt nach Bernsdorf oder ins Landratsamt nach Kamenz müssen sie allein. Mit dem Bus, der selten fährt und auf Dauer teuer ist. Viele Aussiedler würden zum Anfang zum Einkaufen laufen, sagt Ruth Joachim. Später legt der Familienverband oft zusammen und kauft ein billiges Auto, dass auf Oma angemeldet wird - denn Sozialhilfeempfänger dürfen kein Auto haben. Die Ämter drücken alle Augen zu, denn im abgelegenen Heide ist ein Auto „Nutzgegenstand und nicht Luxusgut“, sagt Ruth Joachim. Außerdem haben die Aussiedler in dem Heim außer ihrem alten Westauto kaum Freude. Im Gegenteil. „Viele fallen erst einmal in ein tiefes Loch“, weiß Ruth Joachim.

Aussiedler ziehen gern nach Radeberg

Nach dem halben Jahr ziehen sie aus. Viele der Wiednitzer sind nach Bernsdorf gegangen. Der aktuelle Trendort ist Radeberg (wegen der Nähe zur Landeshauptstadt). Weiter weg dürfen sie nicht. Sie müssen drei Jahre im Landkreis bleiben, wenn sie keine Arbeit finden. Johann Dillmann weiß noch nicht, wohin er zieht. Weit weg nicht, denn seine Kinder haben auch hier keine Arbeit gefunden. Auffallen wird er nirgends. Er ist ein netter alter Mann und sieht aus wie ein Deutscher. Im Gegensatz zum usbekischen Vater und seinem Sohn, die mit einer Spätaussiedlerin nach Heide gekommen sind. Ihr „türkisches“ Aussehen sorgt seit Wochen für ungerechtfertigte Gerüchte.

 

HINTERGRUND Aussiedler / Asylbewerber

Spät-Aussiedler sind keine Asyl-Bewerber oder Einwanderer. Aussiedler sind Deutsche, die teils über Generationen im Ausland gelebt haben. Es wird geprüft, ob sie deutsch sind. Beispielsweise darf in ihrem Pass nie eine andere Nationalität als „deutsch“ gestanden haben. Außerdem müssen sie deutsch sprechen und schreiben können. Sie dürfen ihre Familie mitbringen.

Quoten: 2002 kamen rund 80 000 Spät-Aussiedler und 70 000 Asyl-Bewerber nach Deutschland. Die Tendenz ist seit Jahren rückläufig. Der Bund nimmt sie auf und teilt sie nach Quoten auf die Bundesländer auf. Sachsen musste 2002 rund 5 000 der rund 80 000 Spätaussiedler und rund 4 500 der reichlich 70 000 Asylbewerber aufnehmen. Der Freistaat teilt sie wiederum nach Quoten auf Kreise und Kreisfreie Städte auf. Der Kreis Kamenz musste 2002 rund 250 Spätaussiedler und 200 Asylbewerber aufnehmen, die Kreisfreie Stadt Hoyerswerda 50 Spätaussiedler und 27 Asylbewerber. Die Quoten werden nicht immer ausgeschöpft. In Hoyerswerda wurde bis Ende 2002 wegen der ausländerfeindlichen Übergriffe 1991 auf die Unterbringung von Asylbewerbern verzichtet.

Unterkunft: Aussiedlern wird bei Einreise die freiwillige Unterbringung angeboten. Der Landkreis Kamenz hat zwei Heime: Eins in Großröhrsdorf, dass wegen geringer Belegung zum 30. September geschlossen wird, und in Wiednitz. In Hoyerswerda werden die Aussiedler dezentral in Wohnungen untergebracht und dort speziell betreut.

Asylbewerber müssen eine Zeit im Heim verbringen. Der Landkreis hat zwei: in der Kamenzer Gartenstraße und Macherstraße. Hoyerswerda hat keine speziellen Unterkünfte, sondern hat sie in der Alten Berliner Straße untergebracht.

 

 

 

Freitag, 26. September 2003

 

Anhören und prüfen
Neue Bleibe für Aussiedlerheim noch nicht vom Tisch / Entscheidung Ende Oktober
Von Kathrin Schade

Für die 115 Familien und ihre zahlreichen Sympathisanten ist es wie ein kleiner errungener Sieg: Denn der Gröditzer Stadtrat lehnte mehrheitlich den neuen Standort für das Aussiedlerheim ab. Fegte damit den „Bauantrag zur Nutzungsänderung von zwei Mehrfamilienhäusern in ein Übergangswohnheim für Aussiedler“ vom Tisch. Ein Thema, das die Anwohner der Windmühlenstraße bereits seit Mai zum Kochen bringt (SZ berichtete). Sie fühlen sich von den Behörden des Regierungspräsidiums, des Landratsamtes sowie der Stadt verschaukelt. „Keiner schenkte unseren Einwänden die erhoffte Beachtung. Im Gegenteil, man stempelt uns als ausländerfeindlich ab“, zeigt sich Dieter Gärtner, Sprecher der aufgebrachten Familien empört und enttäuscht darüber. Dabei hätten sie immer wieder betont, dass sie nicht gegen die Aussiedler sind, sondern gegen den Standort als Wohnheim an sich, ganz gleich wer dort einziehen würde. Was war geschehen? Der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) als Betreiber plant, dieses Heim vom Rande der Stadt mitten in ein Wohngebiet umzuziehen. Ermöglicht durch die Wohnbau Gröditz eG, die zum Partner des ASB wurde. „Defekte Heizungen und Wasserleitungen, undichte Fenster und Wände – das Haus in diesem desolaten Zustand hält keiner Überprüfung mehr Stand. Uns bleibt gar nichts anderes übrig, als uns nach einem anderen Standort umzuschauen“, so ASB-Chefin Christa Korzonek. Die Stadt als Vermieter habe kein Geld in der Haushaltskasse, um dieses abrissreife Gebäude zu sanieren, bestätigt Bürgermeister Andreas Bölke. Und er betont, dass man durchaus intensiv in den vergangenen Wochen nach Alternativen gesucht habe.

Anwohner sehen

noch Alternativen

Das allerdings bezweifeln die aufgebrachten Anwohner, die sich gegen den „programmierten größeren Lärm und Schmutz sowie die Parkprobleme“ vehement wehren und gleichzeitig auf die Mentalität dieser Leute hinweisen. Die Gröditzer sehen nämlich Alternativen in der 1. Mittelschule, die zum Abriss bereit steht. Oder im Hotel „Garni“, das seit Jahren leer ist. Neu in die Diskussion kam, zu prüfen, inwieweit das Lehrlingswohnheim der ehemaligen Betriebsberufsschule perspektivisch gesehen noch genutzt wird. Für Bürgermeister Bölke alles keine brauchbaren Vorschläge. Er kontert: Die ehemalige BBS ist Eigentum des Landratsamtes, der Investor des „Garni“ bekomme die Finanzierung nicht auf die Beine. Und die 1. Mittelschule sei Kern im Programm Stadtumbau Ost, für das Hunderttausende Euro an Fördermitteln ausgereicht werden, auf die die Stadt nicht verzichten könne.

Obwohl der Stadtrat den Bauantrag mehrheitlich abgelehnt hat – das Zittern für die Anwohner der Windmühlenstraße geht weiter. Denn letztlich entscheidet das Landratsamt als untere Eingliederungsbehörde über den neuen Standort des Aussiedlerwohnheimes. „Wir fordern, dass man uns dazu anhört und unsere Einwände überprüft, bevor entschieden wird“, so Dieter Gärtner. Kerstin Thöns, Pressesprecherin des Landratsamtes, dazu: „Eine Anhörung der Nachbarn ist nur dann vorgeschrieben, wenn laut Bauordnung nachbarschaftsschützende Vorschriften verletzt werden. Abstandsflächen oder Gebäudehöhen nicht eingehalten werden.“ Das sei hier nicht der Fall. Noch liege der Stadtratsbeschluss dem Bauordnungs- und Bauplanungsamt nicht vor. Für sie steht fest: Wenn dieser Beschluss rechtmäßig erfolgte, werde er einen bedeutsamen Einfluss auf den Bauantrag haben. Schließlich übe der Stadtrat die Planungshoheit aus. Kerstin Thöns rechnet mit einer Entscheidung Ende Oktober.

 

 

 

Freitag, 26. September 2003

 

Zum Ortstermin bereit

Zum Artikel in der SZ vom 3. September „Landrat kritisiert Ausländerfeindlichkeit“ schreibt D. Gärtner im Namen von 115 Familien aus Gröditz:

Die Familien aus Gröditz vertreten den Standpunkt, dass die Ausführungen in der SZ zum oben genannten Thema nicht der Wahrheit entsprechen.

1. Unser Widerspruch richtet sich nicht gegen die Spätaussiedler, sondern gegen die Art und Weise der Einrichtung eines Wohnheimes an einem neuen Standort durch die Stadt Gröditz, der Wohnbau eG und dem ASB Riesa.

2. Es ist durch den Landrat falsch dargestellt, dass diese Standortverlagerung alleinige Entscheidung des Betreibers ist. Der Sachverstand deutscher Gesetze (Baugesetz) besagt, dass eine Umnutzung von bisherigen Wohngebäuden in einem Wohngebiet in ein Wohnheim der Zustimmung öffentlicher Behörden bedarf. Zum anderen ist in der Bau-NVO geregelt, dass bei dem genannten Problem die in der Nachbarschaft wohnende Bevölkerung einen so genannten Drittschutz erhält, das heißt die Bevölkerung ist mit ihren Problemen in die Entscheidungsfindung einzubeziehen.

3. Die betroffenen Familien weisen den Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit entschieden zurück. Es ist einfach, vom Büro aus über Ausländerfeindlichkeit zu reden, ohne die Bürger vorher gehört zu haben. Einen guten Politiker zeichnet der Fakt aus, Probleme und Hinweise mit den Bürgern vor Ort zu besprechen. Zu einer solchen Beratung mit dem Landratsamt sind die 115 Familien aus Gröditz gern bereit.

 

 

 

Donnerstag, 25. September 2003 20.15Uhr

Kontraste ARD

 

Der Sprengstofffund von München: Hat der Verfassungsschutz versagt?


AUTOREN: Caroline Walter, Marcus Weller, Anton Maegerle und Gabi Probst

 

München im November vergangenen Jahres. Neonazis demonstrieren gegen die Wehrmachtsausstellung. Organisator dieser Demonstration: der Rechtsextremist Martin Wiese. Gleichzeitig findet eine friedliche Gegendemonstration satt.

Der Aufmarsch der Neonazis hat nun juristische Folgen. Doch nicht die ewig Gestrigen stehen letzten Montag in München vor Gericht, sondern friedliche Gegendemonstranten. Der 78 jährige Martin Löwenberg hat den Holocaust überlebt und engagiert sich seit Jahren gegen rechte Aufmärsche. Martin Löwenberg ist angeklagt: mit einem Aufruf zur Gegendemonstration eine Straftat begangen zu haben.

Löwenberg:
"Das war nicht das Konzept. Seid präsent, wo die Nazis sind, das war unsere Losung."

Gegen ihn ermittelt die Abteilung "politischer Extremismus" der Münchener Polizei. Die Behörde legt dem Gericht einen Bericht über die Demo als Beweismittel vor. Darin wird der ehemalige KZ-Häftling Löwenberg als
"KFZ Häftling" bezeichnet. Und statt Goebbels heißt Hitlers Propagandaminister hier Göppel.

Ignorant und schlampig, die Ermittlungen der bayerischen Behörden. Das zeigt sich jetzt auch am Fall des verhafteten Neonazis Martin Wiese. Nach KONTRASTE-Recherchen konnte die Terrorgruppe um Wiese monatelang unbeobachtet Sprengstoff beschaffen, Bomben bauen und den Anschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in München planen.

Doch davon will der bayerischer Innenminister Beckstein nichts wissen, im Gegenteil:

Beckstein:
"Es waren systematische Ermittlungen bayerischer Sicherheitsbehörden. Ich habe deswegen von einem großen Erfolg der bayerischen Sicherheitsbehörden zu sprechen."

Nach KONTRASTE-Recherchen war es jedoch reiner Zufall, dass das geplante Attentat überhaupt ans Licht kam.

Bis 2002 waren Martin Wiese und seine Kameradschaft Süd unter Beobachtung des bayerischen Verfassungsschutzes. Die Gruppe war immer wieder durch rechte Aktionen und Gewalttaten aufgefallen.

Ein Beispiel aus dem Jahr 2001: Nach einer Geburtstagsfeier von Martin Wiese in dieser Kneipe schlagen Mitglieder der Kameradschaft Süd einen zufällig vorbeikommenden Griechen brutal zusammen.

Trotzdem kommt nach Kontraste-Informationen Anfang diesen Jahres der bayerische Verfassungsschutz zu dem Schluß: die Kameradschaft Süd um Martin Wiese sei "minder gefährlich". Die Überwachung wird nahezu eingestellt. Ein fataler Fehler. Die Recherche ergibt: Wiese nutzt die Zeit. Hier in seiner Münchner Wohnung kann er jetzt unbeobachtet seinen Bomben-Anschlag vorbereiten.

Martin Wiese soll im Mai dieses Jahres mit der Bahn nach Brandenburg reisen. Er will sich Waffen und Sprengstoff besorgen. Er trifft seinen alten Freund Andreas J. - auch er ist Mitglied der rechten Szene. Abends wird gefeiert. An diesem 3. Mai - so erzählt sein Freund später - soll Wiese bereits gesagt haben, dass "in München diese Juden wieder einen Unterschlupf bekämen und er Möglichkeiten fände, dieses zu verhindern".

Bei dem Treffen probieren die Rechtsradikalen auch eine Waffe aus und machen Schießübungen.

Kontraste Recherchen ergeben: Am nächsten Tag wollen die Brandenburger Sprengstoff für Wiese besorgen. Sie fahren zur polnischen Grenze. Wiese will keine Spuren hinterlassen und bleibt auf deutscher Seite. Die anderen suchen in diesem Waldstück in Polen nach alter Kriegsmunition. Ein Informant zeigt uns, wo sie die Munition gefunden haben. Aus alten Granaten kratzen sie insgesamt 1,7 Kilogramm funktionstüchtiges TNT heraus.

Martin Wiese fährt mit der Bahn zurück nach München mit hoch gefährlichem TNT im Rücksack. Weder Polizei noch Verfassungsschutz wissen von der gefährlichen Aktion.

Frage:
"Wir haben vertrauenswürdige Quellen, die uns bestätigt haben, dass Martin Wiese sich bereits im Mai den Sprengstoff besorgt hat, unbemerkt und unbeobachtet von Ihren Sicherheitsbehörden. Was sagen Sie dazu?"
Günther Beckstein:
"Dass der Sprengstoff unbemerkt nach München gekommen ist, ist richtig. Aber das über Herrn Wiese, oder von wem der Sprengstoff ist, das müssen die Ermittlungen klären.""

Doch nach KONTRASTE-Recherchen war es Wiese, der sich den Sprengstoff besorgte. Und so konnte er bereits seit Mai unbeobachtet in seiner Münchner Wohnung an einer Rohrbombe basteln. Die Sicherheitsbehörden kommen ihm erst zwei Monate später auf die Spur - durch reinen Zufall.

Im Juli trifft sich in dieser Kneipe Wieses Kameradschaft. Einer will aussteigen. Daraufhin wird er brutal zusammengeschlagen, Anwohner rufen die Polizei. Der Aussteiger packt aus und erzählt den Behörden vom Sprengstoff. Erst jetzt läuft die Sicherheitsmaschine an - Hausdurchsuchung, Sprengstoff- und Waffenfund. Wiese und seine Kameraden werden verhaftet.

Das Ergebnis der KONTRASTE-Recherchen: Das geplante Attentat auf das Jüdische Gemeindezentrum in München wäre nie herausgekommen, wenn nicht der Streit um den Aussteiger den Plan verraten hätte.

Frage:
"Hat man die Kameradschaft Süd und vor allem Martin Wiese und vor allem seine Rolle in der Neo-Nazi Szene, haben Sie die nicht vielleicht doch falsch eingeschätzt oder unterschätzt?"
Günther Beckstein:
"Ich will das nicht völlig ausschließen. Man muß das später, wenn die Ermittlung abgeschlossen ist, völlig neu überprüfen."

Martin Löwenberg wurde am Montag zu einer Geldstrafe verurteilt. Und das nur, weil er zu einer Demonstration gegen den von Wiese organisierten Aufmarsch aufgerufen hatte.

Die Begründung des Gerichts: Zivilcourage dieser Art sei in Bayern nicht nötig, der Staat habe das Neonazi-Problem selbst im Griff.

Frage:
"Sind sie enttäuscht?"
Martin Löwenberg:
"Enttäuscht ist zu wenig, weil ich mir nicht mehr erwartet habe. Enttäuscht bin ich, oder betroffen bin ich von der Tatsache, dass eben solche Urteile gefällt werden und das erschreckt mich unter der Frage: wie weit sind wir schon?"