Montag, 29. September 2003
"Geschichtsklitterung" sei der Film "Rosenstraße" (Foto), meinte der Historiker Wolfgang Benz. In seinem eigenen Vortrag "Zivilcourage im Dritten Reich - Juden im Untergrund und ihre Helfer" wird sich der Leiter des Instituts für Antisemitismusforschung an der TU schon an die Faktenlage halten, am Mittwoch in der Urania
29.09.2003
Aus Langeweile drangsalieren junge Ausländer in
Nord-Schöneberg einen ganzen Kiez – das Café „PositHiv“ will deswegen wegziehen
Von Katja Füchsel
Schluss, aus, vorbei – im „Café PositHiv“ sind sie es leid. Den Schrecken,
der sie durchfährt, wenn die Kids draußen mal wieder mit den Fäusten gegen die
Scheiben donnern. Oder wenn die Jugendlichen die Tür aufreißen und den Gästen
ganze Pflastersteine vor die Füße werfen. Draußen die Regenbogenfahne
herunterreißen, laut skandieren: „Schwule Säue!“ An so etwas gewöhnt man sich
nicht, deshalb zieht das Projekt der Berliner Aids-Hilfe jetzt, nach acht
Jahren in der Alvenslebenstraße, weg. „Das geht hier nicht mehr“, sagt Michael
im „Café PositHiv“. Noch habe man aber kein passendes Ausweichquartier
gefunden.
Heute ist es ruhig im Kiez rund um die Alvenslebenstraße, fast ein bisschen zu
ruhig. Kinder kurven auf Fahrrädern über den Bürgersteig, türkische und
arabische Jugendliche sitzen zu zweit oder dritt in der Sonne. Sie ziehen an
ihren Zigaretten oder spucken Kürbiskern-Schalen auf den Asphalt. Die
Langeweile ist in Nord-Schöneberg gewissermaßen greifbar, jene Langeweile, die
jederzeit in Aggression umschlagen kann. „Dann ziehen die Jugendlichen durch
die Gegend und testen ihre Grenzen aus“, sagt Christian Kortbein vom
Polizeiabschnitt 41.
Es trifft nicht nur das „Café PositHiv“, im Kiez kann fast jeder Händler mit
einer Geschichte aufwarten. Von fliegenden Steinen, unflätigen Bemerkungen,
abgebrochenen Eisfahnen. 30 bis 40 Jugendliche machten in Nord-Schöneberg die
Gegend unsicher, schätzt Michael im „Café PositHiv“. Auch der Lesben- und
Schwulenverband (LSVD) am Willmanndamm bekommt regelmäßig Besuch von
ausländischen Kids. „Die klopfen ständig und fragen mit einem leicht
aggressiven Unterton beispielsweise: Bist du schwul?“, sagt Alexander Zinn. Der
LSVD-Sprecher führt die ungebetenen Besuche nicht nur auf überschüssige
Hormone, sondern auch auf eine schwulenfeindliche Haltung der Jugendlichen
zurück. Zinn: „Religiöse Motive spielen ebenso eine Rolle wie die ländliche
Herkunft und die patriarchalischen Familienstrukturen bei vielen Einwanderern.“
Beim „Quartiersmanagement Schöneberger Norden“ werden die Probleme auf
folgenden Nenner gebracht: ein hoher Anteil Ausländer im Kiez, viele
Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger. „Fünf, sechs Kinder sind in den
türkischen und arabischen Familien keine Seltenheit“, heißt es im Büro an der
Pallasstraße. Um die Kinder von der Straße zu holen, bietet der Bezirk Angebote
für die Nachmittage und Ferien an. Der Spielplatz wurde umgestaltet und um
einen Kletterfelsen bereichert. „Das alles soll den Aktivitätendrang in die
richtige Richtung lenken“, sagt Jugendstadträtin Angelika Schöttler (SPD).
Außerdem versuche man, das Problem mit zwei Streetworkern in den Griff zu
bekommen, die kürzlich von Friedenau hierher versetzt wurden. Schöttler: „Das
kommt für das Café leider zu spät.“
Auch die Polizisten vom Abschnitt 41 haben öfters im „PositHiv“ vorbeigeschaut,
abgesehen von ein paar guten Ratschlägen konnten sie aber selten eingreifen.
„In der Regel bleiben die Übergriffe unter der Strafbarkeitsgrenze“, sagt
Kortbein. Den geplanten Umzug vom „Café PositHiv“ empfinden im Schöneberger
Norden allerdings viele als bittere Niederlage. „Es ist unerhört bedauerlich“,
sagt Stadträtin Schöttler. „Aber ich kann es nachvollziehen.“
Montag, 29. September 2003
Fakten gegen Vorurteile: "Superteams"
werben fürs Zusammenleben
"Superstars"
hat Deutschland schon, jetzt sind die multikulturellen "Superteams"
gefragt: Die Otto Benecke Stiftung (OBS) gab gestern im Zeitgeschichtlichen
Forum den Startschuss für ein Projekt, das genau diese "Superteams"
braucht: "Entimon - gemeinsam gegen Gewalt und Rechtsextremismus" ist
es überschrieben. Dabei geht es darum, junge Leute über Zuwanderung aufzuklären
und Verständnis für andere Kulturen, Mentalitäten und Lebensarten zu wecken.
"Das beste
Mittel gegen Vorurteile ist ja, sich ein Urteil zu bilden. Deshalb ermuntern
wir einheimische und zugewanderte Jugendliche, sich gemeinsam mit den Fakten zu
beschäftigen", so OBS-Präsident Lothar Theodor Lemper. Die OBS führt das
Projekt, an dem sich Teams aus Bitterfeld, Nordhausen, Wismar und Leipzig
beteiligen, im Auftrag des Bundes durch. Jugendliche aus den beteiligten
Städten sowie ihre Lehrer haben am Wochenende in Leipzig die ersten Ideen
entwickelt. Später messen sie ihr erworbenes Wissen rund ums
"Zusammenleben" bei Quizwettbewerben. Dabei sollen Zweier-Teams
entstehen, die aus je einem Einheimischen und einem Zuwanderer bestehen. Aus
Leipzig machen das Studienkolleg Sachsen, die Fachoberschule und
Berufsfachschule Dr. P. Rahn & Partner sowie die 56. Mittelschule mit.
"Gemeinsamkeiten und Gegensätze junger Leute aus verschiedenen Kulturen
wollen wir herausfinden", kündigt Elena an, die aus Kasachstan nach Leipzig
kam. "Dabei geht es um Sitten, Traditionen aber auch verschiedene
Bildungswege", ergänzt Jeannette von der Rahn-Berufsschule. Das Ganze soll
möglichst in der Schülerzeitung popularisiert werden. Die 56. Mittelschule will
ein Material "SOS - wo finde ich Hilfe?" für junge Ausländer
entwickeln.
Montag, 29. September 2003
Endlich fällt der Blick auf die "Asozialen" der
Nazis
KZ-Gedenkstätten wollen die Verfolgung einer
bis heute schweigenden Gruppe darstellen
70 Jahre nach dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur
in Deutschland soll eine bislang kaum beachtete Opfergruppe endlich ins
Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt werden. Die bundesweiten KZ-Gedenkstätten
wollen sich künftig verstärkt um die Darstellung der Verfolgung so genannter
"Asozialer" kümmern.
Von Heidi Niemann (pid)
NORTHEIM, 28. September. Dies ist das Ergebnis eines
Gedenkstättenseminars, das am Wochenende im niedersächsischen Northeim
stattfand. Die von den Nationalsozialisten als "asozial"
stigmatisierten und verfolgten Menschen seien auch nach 1945 ausgegrenzt
geblieben, sagte Thomas Lutz von der Stiftung Topographie des Terrors in
Berlin. Anders als andere Opfergruppen hätten sie bis heute keine Lobby. In der
Regel wurden sie nicht als NS-Verfolgte anerkannt und erhielten auch keine
Entschädigung für ihre Haftzeiten in Arbeits- oder Konzentrationslagern. Sie
seien gewissermaßen die "vergessensten" Opfer des NS-Regimes.
Als "asozial" galten unter anderem Obdachlose, Bettler, Arbeitslose
und Prostituierte. Aber auch unangepasste Jugendliche, die als
"renitent" und "arbeitsscheu" eingestuft wurden, wurden
verfolgt. Für männliche Jugendliche wurde 1940 in Moringen (Kreis Northeim) ein
spezielles Jugend-Konzentrationlager eingerichtet, das Pendant für junge Frauen
befand sich in der Uckermark. Insgesamt seien die so genannten
"Asozialen" eine der größten Häftlingsgruppen in den
Konzentrationslagern gewesen, sagte der Leiter der KZ-Gedenkstätte Moringen,
Dietmar Sedlaczek.
Auch in der KZ-Haft setzte sich die Ausgrenzung der so genannten
"Asozialen" fort. Anders als bei anderen Häftlingen gab es bei ihnen
keine Gruppenbildung, und sie übernahmen so gut wie nie Funktionspositionen.
Nach der Befreiung blieben sie unbeachtet. In den veröffentlichten Erinnerungen
tauchen Menschen aus dieser Personengruppe nicht auf, sagte Lothar Evers vom
Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte in Köln. Anders als
etwa bei Homosexuellen oder Sinti und Roma sei die Erfahrung der als
"asozial" Verfolgten wegen ihrer individuellen Biographien
"nicht organisierbar".
Dieses Schweigen hat bis heute Folgen. Das Bundesentschädigungsgesetz sieht nur
eine Entschädigung für rassisch, politisch oder religiös Verfolgte vor. Damit
sei allen anderen KZ-Häftlingen die Eigenschaft des Verfolgten abgesprochen
worden, sagte Evers. Erst seit Ende der 80er Jahre sei es möglich, dass auch
andere Opfer Zahlungen erhalten könnten. Bislang habe aber nur eine sehr
geringe Zahl der als "asozial" Verfolgten eine Entschädigung
erhalten.
Auf eine weitere Kontinuität verwies der Rechtsextremismus-Experte Frank Jansen
von der Berliner Zeitung Tagesspiegel: Obdachlose, Alkoholkranke und
Sozialhilfeempfänger gehörten heute zu den häufigsten Opfern rechtsextremistischer
Gewalttaten in Deutschland.