Donnerstag, 20. November 2003
VON ANDREAS
KOPIETZ
Berlins Neonazis formieren sich
neu. Sie konzentrieren jetzt ihre Arbeit auf die Kieze. Den Grund dafür sehen
Sicherheitsbehörden in einer Schwächung der rechtsextremen NPD. "Wir
können eine Wiederbelebung der Kameradschaftsszene feststellen", sagt der
Sprecher des Berliner Verfassungsschutzes, Claus Guggenberger. Im vergangenen
Jahr waren solche lokalen Neonazi-Gruppierungen den Behörden kaum aufgefallen.
Mittlerweile gibt es sogar Neugründungen, wie eine Kameradschaft Reinickendorf.
Auch das "Nationale Bündnis Preußen", das bislang vor allem Treffs in
Dorfgaststätten in der Region Barnim und der Uckermark organisierte, ist
erstmals in Berlin aktiv. Gleichzeitig beobachten Verfassungsschützer eine
zunehmende Vernetzung der Gruppen.
Diese konzentrieren sich
verstärkt auf die Anleitung rechten Nachwuchses - auf "nationale
Aufbauarbeit", wie ein Aktivist formuliert: "Wir wollen Teenager von
der Straße holen und ihnen eine soziale Perspektive in einer Gruppe
geben." Das passiert zum Beispiel gerade im Südosten der Stadt. Dort
etablieren sich seit einigen Monaten zwei lokale Bündnisse, die der
Verfassungsschutz unter dem Begriff "Kameradschaft" führt: eine
"Deutsche Gemeinschaft Süd" in Rudow und die "Berliner
Alternative Süd-Ost" (BA-SO) in Treptow-Köpenick. Doch während
Kameradschaften sich szene-interne Aktivitäten organisieren, verstehen sich die
neuen Bündnisse als "Initiativen" nach außen: Unter anderem machten
Mitglieder im Sommer bei einem SPD-Fest in Rudow und einer Bürgerveranstaltung
in Köpenick zur Agenda 2010 auf sich aufmerksam.
Beide Gruppen treten auch
als Veranstalter einer Demonstration unter dem Motto "Freiräume schaffen,
nationale Zentren erkämpfen!" auf, die für den 6. Dezember angekündigt
ist. Sie soll von Rudow durch Johannisthal nach Schöneweide führen. Unterstützt
wird der Marsch durch mehrere Berliner Kameradschaften.
Vorbei scheinen die Zeiten,
in denen die NPD-Führer zur zentralen Demonstration ins Berliner Stadtzentrum
befahlen und die Anhänger scharenweise folgten. Nach dem Scheitern des
Verbotsverfahrens im März verliert die NPD in der Szene an Einfluss. Obwohl die
Partei in Köpenick ein "Nationales Schulungszentrum" plant, das
überregional Kader anziehen soll, sind rechte Strukturen außerhalb der Partei
für Neonazis interessanter geworden. "Das hängt unter anderem damit
zusammen, dass Teile der Rechtsextremen sogar in der NPD eine Systempartei
sehen", sagt Claus Guggenberger. Tatsächlich sank die Mitgliederzahl der
NPD nach Angaben eines Sprechers bundesweit von 6 500 auf 5 000 und in Berlin
von 260 auf 200. Doch selbst Parteimitglieder halten die neue Mitgliederzahl
noch für weit übertrieben. Inzwischen ist der Kreisverband Südwest
zusammengebrochen, und in Treptow-Köpenick gibt es noch etwa fünf Aktive.
Lediglich alte Mitglieder in Reinickendorf, die sich noch aus Mauerzeiten
kennen, halten noch zur Sache. Dennoch ist sich Bianca Klose vom Zentrum
Demokratische Kultur sicher, dass die NPD nach wie vor großen Einfluss besitzt
und Kader der rechten Szene außerhalb der Partei schult. "Da sind schon
massive Zusammenhänge zu erkennen", warnt sie.
Tatsächlich machen einstige
Funktionäre jetzt ohne ihre Partei weiter. Etwa der 38-jährige René Bethage.
Bis zu seinem Austritt Ende September war er im Landesvorstand und
Kreisvorsitzender für Treptow-Köpenick. "Die NPD hat den Fehler gemacht,
alles von oben nach unten durchzudrücken", begründet er seine jetzige
Tätigkeit. "Aber wenn man keine funktionierende Basis hat, klappt es eben
nicht." Seine "Basis", das sind bislang noch lose agierende Jugendcliquen,
deren Weltbild es Bethage zufolge zu festigen gilt. Er versucht Gleichgesinnte
zu organisieren, vor allem in Schöneweide und Köpenick, und gründete besagte
"Berliner Alternative Süd-Ost". Bethage ist auch der Anmelder der
Demonstration am 6. Dezember.
Dass die Abschlusskundgebung
der Demo ausgerechnet in der Brückenstraße vor dem Domizil des Vereins
"Brücke 7" geplant ist, macht deutlich, wie hilflos der Bezirk und
lokale Initiativen im Umgang mit Rechtsextremismus erscheinen. In den Räumen
von "Brücke 7" hatte der Verein, zu dessen Kuratoriumsmitgliedern
unter anderem der Schriftsteller Günter Grass und der Ehrenpräsident der
Akademie der Künste, Walter Jens, zählen, in diesem Jahr mehrere Versuche
unternommen, mit rechtsextremen Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Unter dem
Motto "wie national" man eigentlich sein dürfe, gab es eine
Diskussionsrunde, bei der die Beteiligten hitzig aneinander vorbei
debattierten. Im September versuchte sich dann SPD-Innensenator Ehrhart Körting
an den Rechten, bei einer Veranstaltung unter dem Motto "Rechts und Links
- wie viel verträgt unsere Demokratie?". Der Senator schlug sich wacker.
Doch wenn die Veranstaltung einen Effekt hatte, dann den, dass die Rechten in
den Vereinsräumen an dem Abend auf die Idee kamen, die BA-SO zu gründen.
Derweil eskalieren seit
Monaten in Treptow und Neukölln die Auseinandersetzungen zwischen Teenagern,
die sich als links und rechts bezeichnen. Nur zwei Beispiele von vielen: Am 23.
Oktober wird laut Polizei ein rechter Jugendlicher am Bahnhof Schöneweide von
Linken zusammengeschlagen. Zwei Tage später versuchen Skinheads einen
Jugendclub in der Nähe zu stürmen. Die Zivilbeamten der Polizei achten nicht
nur auf die Rechten, sondern auch auf Linke. Zum Beispiel auf eine so genannte
Treptower Antifagruppe (T.A.G.), die sich gern konspirativ gibt und zu deren
Umfeld etwa zehn bis 20 Jugendliche zwischen 14 und 22 Jahren gehören. Als
Sprecher tritt ein 21-Jähriger auf, der sich Silvio Kurz nennt. Seine Truppe
bereitet sich schon eifrig auf den 6. Dezember vor, zu
"Gegenaktionen" und "Blockaden" auf. Das bezirkliche
"Bündnis gegen Rechts" ist Kurz zu lasch, und Sozialarbeitern, die
sich um Rechte kümmern, wirft er "akzeptierende Jugendarbeit" vor. Im
Internet veröffentlichte Kurz eine Broschüre unter dem Namen "fight
back", in der zur Jagd auf Neonazis aufgerufen wird. Sogar Minderjährige
werden mit vollem Namen und Foto gezeigt.
Angesichts dessen erhöhte
das Bezirksamt die Zahl der Streetworker. Jugendstadtrat Joachim Stahr (CDU)
will einen "Runden Tisch" gegen Rechts initiieren. Die Zwölf- bis
15-Jährigen bei den Rechten könne man noch gewinnen, glaubt Stahr. Die Älteren
seien jedoch verloren. "Die sind weg. Mit denen kann man nichts mehr
machen. Die schmeißen wir auch aus unseren Jugendklubs raus." Einem
13-Jährigen erteilte Stahr im Frühjahr Hausverbot. Der Junge war in einem
Johannisthaler Jugendklub beim Surfen auf einer rechten Internetseite erwischt
worden. Seine Betreuung übernahm jetzt ein anderer: Ex-NPD-Funktionär Bethage.
Donnerstag, 20. November 2003
So tolerant die Berliner sich sonst geben, diesmal verstehen sie keinen Spaß: 238 Personen und Verbände haben bis gestern den Aufruf gegen die Al-Quds-Demonstration am Samstag unterschrieben. Das teilten Claudia Dantschke und Anetta Kahane gestern für die Initiatoren des Aufrufs mit. Damit ist die seit 1995 stattfindende antiisraelische Demonstration schon im Vorfeld auf breite Kritik gestoßen.
"Mit dem Aufruf haben wir quasi eine ,Bürgerinitiative' gestartet, bei der sich Menschen egal welcher Herkunft beteiligen", sagte Kahane von der Amadeu Antonio Stiftung. Das zeige, wie vielfältig der Protest gegen die "neue totalitäre Herausforderung" sei. Unterschrieben haben den Aufruf neben kirchlichen und gesellschaftlichen Verbänden auch Prominente wie der Grüne Cem Özdemir, Memet Kilic, Vorsitzender des Bundesausländerbeirats, oder Cynthia Kain, Stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlin.
Wichtig ist den Beteiligten die offene Diskussion um den "eliminierenden Antisemitismus", der von der Al-Quds-Demonstration ausgehe. Die Demonstration wurde 1979 von dem iranischen Revolutionsführer Ajatollah Chomeini ins Leben gerufen. "Es geht um die Frage, ob man antidemokratisches und antizivilisatorisches Gedankengut bei uns zulässt", so Kahane weiter. Denn mit ihrem Bekenntnis, Israel zerstören zu wollen, seien die radikalen Islamisten nicht besser als Rechtsextreme und Neonazis.
"Das ist keine kleine, lokale Initiative", warnt auch Arne Behrensen von dem Bündnis gegen Antisemitismus (BgA). Die Demonstration, für die die Polizei maximal 2.000 Teilnehmer erwartet, sei international organisiert. Dass sie erstmals nicht über den Kurfürstendamm ziehen darf, sondern vom Adenauer- zum Savignyplatz verläuft, werten die Veranstalter als gutes Omen: "Damit sind sie weg aus der gesellschaftlichen Mitte."
Gleichzeitig hat sich erstmals eine "Migrantische Initiative gegen Antisemitismus" gebildet, die am Freitag eine Gedenkkundgebung für die Opfer der Anschläge von Istanbul veranstalten will. "Wir wollen damit unseren Abscheu vor dem Terror öffentlich kundtun", so Deniz Yücel, einer der Initiatoren. Denn in der türkischen Gesellschaft - und damit auch in den Berliner Migranten-Communities - sei Antisemitismus quer durch alle Schichten weit verbreitet." SUSANNE AMANN
Donnerstag, 20. November 2003
taz: Herr Schams, Sie organisieren seit Jahren den Protest gegen die Al-Quds-Demonstration in Berlin. Warum?
Mohammed Schams: Der Begriff "al-Quds" hat bei den Iranern eine andere Bedeutung als in der deutschen Öffentlichkeit: Während der Widerstand gegen den radikalen Islam bei den Deutschen auf einer intellektuellen Ebene stattfindet, die nichts mit unmittelbarer Betroffenheit zu tun hat, erinnert der Begriff uns Iraner immer an den Iran-Irak-Krieg. Der wurde unter der Parole "al-Quds", also der Wiedereroberung Jerusalems, geführt und hat zu Millionen von Toten geführt. Diese Hasstiraden, diese Instrumentalisierung der Religion will ich deshalb hier nicht akzeptieren.
Es geht Ihnen also weniger um den Antisemitismus, den die Veranstalter offen zur Schau tragen, als um eine Kritik am iranischen Regierungssystem?
Auf keinen Fall. Der Antisemitismus ist ja der Dreh- und Angelpunkt bei dieser ganzen Sache: Man stellt mit ihm die Existenz anderer Völker, anderer Menschen in einer ganz brutalen Form in Frage. Dem muss man ganz massiv begegnen - auch wenn wie in diesem Fall die iranische Regierung hinter dem Demo-Aufruf steht.
Dann müsste sich Ihre Kritik auch gegen die Bundesregierung richten. Trotzdem haben Grünen-Politiker wie die Grünen-Chefin Angelika Beer den Aufruf unterzeichnet.
Wir haben immer dagegen protestiert, dass die Bundesregierung mit dem Mörderregime im Iran kokettiert. Der so genannte kritische Dialog hat sich als eine Farce entpuppt. Die demokratischen Kräfte formieren sich schon lange außerhalb der Regierung von Präsident Chatami. Deshalb wollen wir keine Unterstützung für die Regierung von Seiten der europäischen Regierungen und damit auch der Bundesregierung. Wir wünschen uns eine größere Sensibilisierung - auch im Fall der Al-Quds-Demonstration, die eindeutig von iranischer Seite aus organisiert und unterstützt wird.
Warum bekommt die Demo dieses Jahr so viel mehr Aufmerksamkeit als bisher?
Ich denke, es gibt heute eine breitere gesellschaftliche Sensibilisierung für Antisemitismus auf der einen und islamischen Extremismus auf der anderen Seite. Gleichzeitig haben wir uns besser vernetzt. Die Sympathie, die wir heute erfahren, resultiert aber auch daraus, dass wir ganz gezielt Einzelne angesprochen haben, uns zu unterstützen.
Hatte die bisherige Akzeptanz des radikalen Islam auch etwas mit falsch verstandener Toleranz zu tun?
Nein, es geht nicht um Toleranz. Aber die Linke, sowohl im Ausland
als auch hier in Deutschland, hat ein ganz großes Problem: Sie ist in weiten
Teilen antiamerikanisch und antiisraelisch eingestellt. Und das ist unheimlich
schwer aus den Köpfen herauszubekommen. Wir hatten deshalb große Probleme,
Leute zu aktivieren. Denn das zieht sich bis in die Reihen der Bundesregierung.
Aber wir dürfen den Kampf gegen den radikalen Islam auf keinen Fall nur aktiven
Migrantengruppen überlassen.
INTERVIEW: SUSANNE AMANN
Hinweis:
MOHAMMED SCHAMS, 53, organisiert seit acht Jahren den Widerstand gegen die
Al-Quds-Demonstration in Deutschland. Der gebürtige Iraner lebt seit 1969 in
der Bundesrepublik
Die Al-Quds-Demonstration ist eine der größten antiisraelischen Demonstrationen weltweit. Sie wurde 1979 von dem iranischen Revolutionsführer Ajatollah Chomeini ins Leben gerufen und wird nach wie vor von Iran aus organisiert. Seitdem demonstrieren jährlich Muslime in aller Welt am Ende des Ramadan für die Vernichtung Israels. Seit 1995 findet die Al-Quds-Demo mit einigen tausend Teilnehmern auch in Berlin statt. In diesem Jahr stößt sie erstmals auf breite Kritik. Mehrere Gruppen haben sich in einem Aufruf gegen die Demonstration gewandt und eine Gegendemo angekündigt. ANN
Donnerstag, 20. November 2003
Der Lärm der absurden Skispringerei am Brandenburger Tor weht an diesem milden Novembertag auf die Lichtung. Romani Rose muss seine Stimme heben, so laut ist es. Der Vorsitzende des Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma steht auf einer Wiese südlich des Reichstags. Hinter ihm verkündet ein tafelgroßes Schild: Hier soll ein Denkmal für die etwa 500.000 von den Nazis getöteten Sinti und Roma errichtet werden. Mehrfach haben Neonazis hier ein ähnliches Schild beschädigt. Acht Männer stämmen sich hinter Rose mit Spruchbändern gegen den Wind. Auf einem steht ein Zitat des NS-Justizministers Otto Georg Thierack, der 1942 notierte, dass "Juden und Zigeuner schlechthin vernichtet werden sollen".
Einer von ihnen ist Stanowski Winter. Der 85-jährige Hamburger hat die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Sachsenhausen und Ravensbrück überlebt. Er ist einer von rund einem Dutzend Überlebenden des Massenmordes an den Sinti und Roma, die auf der Lichtung stehen. Winter sagt, es sei "eine Beleidigung für die Opfer und uns Überlebende", wenn ein geplantes Denkmal nicht so verwirklicht werde wie vom Zentralrat gefordert. Zudem sei es "eine Schande für die deutsche Politik", dass alte und gebrechliche Überlebenden hierher kommen müssen, um Druck zu machen für den Denkmalbau.
Krimhilde Malinowski ist ähnlich empört. Die 74-jährige Würzburgerin ist mit knapp 14 Jahren von den Nazis zwangssterilisiert worden, wie sie leise sagt - sie schämt sich noch immer für das Verbrechen, das ihr angetan wurde. Ihr erster Mann ließ sie sitzen, weil er von ihr nach dem Krieg keine Kinder haben konnte. 30 Mitglieder ihrer Familie haben die Nazis ermordet, darunter 16 Kinder. Das Wort "Zigeuner", sagt sie, "kann man nicht mehr hören". Wo "Zigeuner" gesagt wurde, sei es um ihren Kopf gegangen.
Es geht um Worte heute. Rose will, dass auf dem geplanten Mahnmal für die Sinti und Roma nur ein bestimmtes Zitat des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog zu finden ist. "Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden. Sie wurden im gesamten Einflussbereich der Nationalsozialisten systematisch und familienweise vom Kleinkind bis zum Greis ermordet", hatte er 1997 gesagt. Nur dieses Zitat dürfe auf dem Mahnmal stehen, so Rose.
Die "Sinti-Allianz" aus Köln lehnt das ab: Der Begriff "Sinti und Roma" sei nicht umfassend genug, weil damit nicht alle Menschen erfasst seien, die als "Zigeuner" umgebracht wurden. Die Kulturstaatsministerin Christina Weiss gibt Geld für ein Denkmal, will es aber mit einer Inschrift, die Zentralrat und "Sinti-Allianz" mittragen. Nach einem Gespräch mit Weiss verkündet Rose später, dass es noch keine Einigung mit der Ministerin gebe. Krimhilde Malinowski und Stanowski Winter schweigen im Wind vor dem Kanzleramt. Was sollen sie auch noch sagen?
"PHILIPP GESSLER
Donnerstag, 20. November 2003
Wenige Tage nach einer Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht haben Unbekannte mehrere Kränze am jüdischen Mahnmal in Berlin beschädigt. Laut Polizei warfen sie vier der Kränze über die Brüstung einer Brücke auf Gleisanlagen. Aus anderen Kränzen wurden Blumen herausgerissen und Schleifen abgeschnitten. (ap)
Donnerstag, 20. November 2003
Laut einer Forsa-Umfrage für den Stern lassen sich 23 Prozent von 1.301 Befragten dem Lager der Deutschen mit latent antisemitischen Einstellungen zuordnen. Das waren drei Prozent mehr als 1998. 61 Prozent meinen gar, dass 58 Jahre nach Kriegsende ein Schlussstrich unter das Thema Holocaust gezogen werden sollte. (ap)
Donnerstag, 20. November 2003
Nach einem Fackelzug von Neonazis durch Einbeck ermittelt die Staatsanwaltschaft Göttingen ein Verfahren gegen den Leiter des Zuges, Thorsten Heise. Laut unterschiedlicher Quellen waren am 14. November bis zu 40 Neonazis über eine Viertelstunde mit der Reichskriegsflagge und Parolen brüllend durch Einbeck gelaufen. (dpa)
Donnerstag, 20. November 2003
Ein Neonazi und Ex-Unterfeldwebel der Stasi
steht im zweiten „Landser“-Prozess vor Gericht
Von Frank Jansen
Der Mann trat in der Vergangenheit auf wie ein Klischee-Nazi: kahl,
kräftig, aggressiv und bei Szenetreffen in die schwarze, runenverzierte Lederweste
der „Vandalen“ eingeschweißt. Jean-René B. zählt zum harten Kern der braunen
Szene in Berlin, Sicherheitsexperten halten den einstigen Unterfeldwebel der
Stasi für eine wandelnde Zeitbombe. Im Mai 2000 war er in einen Waffendeal
verwickelt, den die Polizei gerade noch stoppen konnte. Ein Brandenburger
Rechtsextremist wollte von B. ein halbautomatisches Gewehr kaufen, das zur
Präzisionswaffe umgerüstet worden war – mit Zielfernrohr, Schalldämpfer und
Munition. Dafür gab es eine Bewährungsstrafe, doch nun muss sich B.
möglicherweise auf Haft vorbereiten. Von morgen an steht der 36-Jährige vor dem
Landgericht – wegen des Verdachts, er habe die braune Rockband „Landser“
unterstützt, auch mit brachialer Gewalt.
Drei Mitglieder von „Landser“ – Michael R., André M. und Christian W. – müssen
sich seit Ende Juni vor dem Kammergericht verantworten. Die Bundesanwaltschaft
bezeichnet „Landser“ als kriminelle Vereinigung, die auf ihren CDs zu Gewalt
aufruft und Migranten, Juden, Linke und andere Gegner, sogar Bundestagsabgeordnete,
in wüsten Texten beleidigt. Ursprünglich sollte in dem ersten „Landser“-Prozess
auch Jean-René B. auf der Anklagebank sitzen. Doch der Bundesgerichtshof
entschied, das Verfahren gegen B. sei abzutrennen. Ihm werden „nur“ die
Unterstützung einer kriminellen Vereinigung und gefährliche Körperverletzung
vorgeworfen.
B. sei für „Landser“ als „Briefträger und Knochenbrecher“ tätig gewesen, heißt
es in Sicherheitskreisen. So habe B. dem Sänger der Band, Michael R., ein
Postfach zur Verfügung gestellt, über den ein Teil des Briefverkehrs der
konspirativ agierenden Gruppe abgewickelt wurde. Im Juni 2001 soll B. in
Dresden einen CD-Dealer zusammengeschlagen haben. Dieser hatte bei der Polizei
über „Landser“ ausgesagt. Die Prügel zeigte Wirkung: Das Opfer zog seine
Aussage zurück.
Donnerstag, 20. November 2003
Zahlreiche Unterschriften für Aufruf gegen antiisraelischen
Aufmarsch / Route geändert
Der Protest gegen die für Sonnabend geplante, antiisraelische
Islamisten-Demonstration weitet sich aus. Mehr als 230 Politiker, Publizisten,
Künstler, Wissenschaftler, christliche und jüdische Geistliche, weitere
Einzelpersonen sowie Verbände unterstützen den Aufruf einer kleinen Initiative,
die sich gegen den alljährlich von muslimischen Extremisten begangenen
„Al-Quds-Tag“ (Jerusalem-Tag) richtet. Zu den Unterzeichnern zählen die
Bundesvorsitzende der Grünen Angelika Beer, der Landesvorstand der Berliner Grünen,
die PDS-Bundestagsabgeordnete Petra Pau, die Initiatorin des Holocaust-Mahnmals
Lea Rosh, die Schriftstellerin Freya Kier und die einst in der DDR als
Bürgerrechtlerin aktive Bärbel Bohley.
Die Resonanz sei „phänomenal“, sagte gestern der Exiliraner Mohammed Schams,
der den Aufruf mit verfasst hat. Schams lebt seit 1969 in Deutschland und sieht
sich vom iranischen Geheimdienst und pro-iranischen Islamisten bedroht. Es sei
längst überfällig, dass die Bundesregierung ihre Politik des „kritischen Dialogs“
mit dem Mullahregime korrigiere, sagte Schams. Auch der als Reformer geltende
Staatspräsident Mohammed Chatami habe Muslime aufgerufen, sich an Kundgebungen
zum „Al-Quds-Tag“ zu beteiligen. An dem 1979 von Ajatollah Khomeiny
eingeführten „Al-Quds-Tag“ demonstrieren jährlich im Iran und anderen Ländern
tausende Islamisten für die „Befreiung“ Jerusalems von den Israelis.
In den vergangenen Jahren waren jeweils mehrere hundert Israel-Feinde über den
Kurfürstendamm gelaufen und hatten Hassparolen skandiert. In diesem Jahr
mussten die Islamisten die Route ändern: Sie ziehen nun vom Adenauerplatz über
die Lewisham- und Kantstraße zum Savignyplatz. Der Anmelder hat bei der Polizei
den Verzicht auf Parolen angekündigt. Pro-israelische Linke haben eine Gegenkundgebung
an der Wilmersdorfer Straße angemeldet. Frank Jansen
Donnerstag,
20. November 2003
Antijüdische Parolen auf Bauschildern und
Elektrokästen
Antijüdische Parolen in unmittelbarer Nähe des im Bau befindlichen Holocaustmahnmals:
Tagesspiegel-Mitarbeiter entdeckten gestern die Hetzsprüche an der Ebertstraße
in Mitte an zwei Stromkästen und einem Bauschild direkt neben dem
Denkmals-Gelände. Die Schrift zeigt in allen drei Fällen in Richtung des
Tiergartens und ist deshalb von Passanten in der neu angelegten Allee gut zu
sehen. Die Polizei erfuhr erst durch denTagesspiegels von den Hetzparolen. Der
für politische Delikte zuständige Staatsschutz nahm sofort die Ermittlungen
auf. Im einzelnen steht dort: „BRD Jüdische Gesinnungsdiktatur“ an einem
Bauschild, „Journalisten Hilfsjuden“ und „Radio TV Judenfunk“ an
Verteilerkästen.
Die zehn Zentimeter hohen Buchstaben sind mit Filzstift in rot und schwarz
geschrieben. Am Bauzaun des Denkmals selbst oder an der Aussichtsplattform
waren keine derartigen Hetzsprüche zu finden.
Wegen des Schutzanstriches gegen befürchtete Schmierereien am Mahnmal selbst
hatte es in den vergangenen Wochen heftigen Streit gegeben. Die Produktion der
Betonstelen des Denkmals für die ermordeten Juden war zwischenzeitlich gestoppt
worden, da es innerhalb des Stiftungskuratoriums Auseinandersetzungen um den
Einsatz eines Anti-Graffiti-Mittels der Firma Degussa gab. Kuratoriumsmitglied
Alexander Brenner, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlin, hatte sich bis
zuletzt dafür eingesetzt, Degussa vom Bau auszuschließen.Die Degesch, eine
Tochter der Firma Degussa, hatte in der NS-Zeit das Gift Zyklon B vertrieben,
mit dem Millionen Juden in Konzentrationslagern ermordet wurden.
Am vergangenen Donnerstag hatte das Kuratorium schließlich beschlossen, mit
Degussa weiterzumachen. Möglicherweise stehen die Schmierereien damit in
Zusammenhang, weil die Medien in den vergangenen drei Wochen ausführlich über
diesen Streit berichtet hatten. Das Mahnmal soll laut Stiftung im Sommer 2005
fertig sein.Ha/dro
Donnerstag, 20. November 2003
Von Sven Felix Kellerhoff
Goebbels wirkt fort, bis ins 21. Jahrhundert. Die Hohmann-Rede und die Diskussion um den Bildband "Brandstätten" von Jörg Friedrich, vor allem aber die Reaktion zahlreicher Leser und Zuschauer haben es gezeigt: Antisemitische Stereotypen sind noch weit verbreitet in Deutschland. Was fortwirkt, sind Vorurteile, die direkt oder indirekt aus der Propagandamaschinerie des Dr. Joseph G. stammen.
Ein neues Buch des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung räumt jetzt auf mit den wichtigsten Legenden über den Nationalsozialismus (Wolfgang Benz / Peter Reif-Spirek: Geschichtsmythen. Metropol Verlag Berlin 2003. 168 S., 16 Euro). Sieben Historiker behandeln darin zentrale Behauptungen von Rechtsradikalen, Alt- und Neonazis.
In vielen Leserzuschriften und auch auf der Internetseite des Hohmann-nahen, inzwischen aufgelösten "Arbeitskreis konservativer Christen" taucht beispielsweise die Legende von den "jüdischen Kriegserklärungen" gegen Deutschland auf. Am 24. März 1933 titelte der "Daily Express", eine Londoner Boulevardzeitung: "Judea declares war on Germany". Dennoch war im gesamten Artikel nicht von einer "Kriegserklärung" die Rede, sondern nur von der Forderung, Deutschland zu boykottieren - was allerdings nicht geschah. Im Gegenteil machten viele amerikanische und auch britische Unternehmen noch jahrelang gute Geschäfte mit Hitler-Deutschland.
Ebenso wenig eine "Kriegserklärung" war ein Brief von Chaim Weizmann, dem Chef der Zionistischen Weltorganisation, an den britischen Premier Neville Chamberlain vom 29. August 1939. Darin hieß es, man werde im Falle eines Krieges an der Seite der Demokratien gegen Deutschland kämpfen. Allerdings sprach Weizmann nur für die Mitglieder seiner eigenen Organisation, gerade einmal sechs Prozent der bekennenden Juden weltweit. "Die ,jüdische Kriegserklärung" an Deutschland war also nur ein nationalsozialistisches Propagandakonstrukt", urteilt Benz zu Recht.
Dagegen gab es sowohl den bekannten Morgenthau-Plan (vollständige Agrarisierung Deutschlands) als auch den so genannten Kaufman-Plan ("Germany must perish"). Allerdings handelte es sich bei beiden nie um ernsthafte politische Optionen. Einzig und allein in der Goebbels-Propaganda spielten sie diese Rolle - und gegenwärtig wieder in rechtsradikalen Wahnideen.
Mindestens so verbreitet wie diese direkt antisemitischen Geschichtsmythen sind in rechtsextremistischen Kreisen Behauptungen, Hitler sei gewissermaßen in den Zweiten Weltkrieg "gezwungen" worden. Zentral ist dabei die "Widerlegung" der (nachweislich echten) Hoßbach-Niederschrift von November 1937, einem wichtigen Beweisstück im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess.
Auch diesen Geschichtsmythos entzaubert das neue Buch von Benz. "Für jeden Gedanken aus der Hoßbach-Niederschrift lassen sich vor und nach der Besprechung, die sie zum Gegenstand hat, viele entsprechende Zeugnisse finden", schreibt der Historiker Peter Widmann. Seine seriöse Analyse ergibt als Resultat: "Ohne das Regime Hitlers hätte der Zweite Weltkrieg nicht begonnen."
Ein drittes Beispiel aus der gegenwärtigen Diskussion sind alliierte Kriegsverbrechen. Natürlich waren die Morde an 15 000 polnischen Offizieren in Katyn ein sowjetisches Kriegsverbrechen, natürlich war die spontane Erschießung von etwa 50 SS-Wachen in Dachau am 29. April 1945 ein Kriegsverbrechen der US-Armee. Man kann und muss solche Verbrechen mit deutschen Kriegsverbrechen vergleichen - man darf sie allerdings nicht gleichsetzen oder aufrechnen.
Leider geht das Buch nur am Rande auf das komplizierte Thema der alliierten Bombardements deutscher Städte ein. Zumindest teilweise wird man sie als Kriegsverbrechen werten müssen - was jedoch weder den Holocaust relativiert noch etwa aus Hamburg oder Dresden ein "Auschwitz der Deutschen" macht.
Bücher wie "Geschichtsmythen" leiden an einer prinzipiellen Schwäche: Wer sie eigentlich lesen müsste, um die Vergangenheit zu verstehen, liest sie nicht. Trotzdem ist der Band nützlich. Er hilft jenen, die antisemitischen Geschichtsverdrehungen ausgesetzt sind, den absurden "Argumenten" zu widersprechen. Das ist nicht wenig.
Donnerstag, 20. November 2003
"Rechtsradikal" wurde "Oi! Warning" gescholten, aber auch als radikal links bezeichnet. Deutsche Skinheads bedrohten die Filmemacher Dominik und Benjamin Reding, im Ausland wurden die Brüder mit Preisen überhäuft. Wer solche Kontroversen auslöst, muss vieles richtig gemacht haben. Die Redings haben gründlich bei Skinhead- und Punk-Gruppen recherchiert. Sie haben Charaktere entwickelt, die uns ohne Belehrung zeigen, wie Jugendliche zu Radikalen werden. Und sie haben den Mut gehabt, die brutale Milieustudie in eine zärtliche, schwule Liebesgeschichte zwischen dem Punk Zottel und dem Skinhead Janosch zu verwandeln.
Dass am Ende die Gewalt die Liebe hinwegfegt, ist verstörend, schockierend, real. "Oi! Warning" wirkt nach, viele Bilder beißen sich für Wochen im Kopf des Kinogängers fest.
"Oi! Warning": Melodie Potsdam, Friedrich-Ebert-Str. 12,
Potsdam. Tel.: 0331/ 620 06 99. Heute, 18 Uhr.
Donnerstag, 20. November 2003
Gestern
wurden die Bilder zum Thema "Leben mit Ausländern" prämiert
"Jeder ist
irgendwo fremd"
CORINNA BUSCHOW
NEURUPPIN - "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie
tun" - der bekannte Satz aus dem Lukasevangelium steht diagonal im Bild
von Anne Sell (16), die sich Gedanken um das Zusammenleben mit Ausländern machte.
In den Ecken stehen Teile aus einem Zeitungsartikel über den Angriff von
Neonazis auf einen Schwarzafrikaner. Für das Bild mit dem abstrakten
Hintergrund hat sie gestern in ihrer Alterskategorie den ersten Platz bekommen.
Zusammen mit fünf anderen Mädchen saß sie im Bürgermeisterzimmer des
Neuruppiner Rathauses und wartete auf die endgültige Platzierung. Dass sie
einen Preis bekommt, stand schon mit der Einladung fest. 50 Euro überreichte
ihr Bürgermeister Otto Theel "für neue Materialien".
30 Euro bekam die Zweitplatzierte Susanne Mießner. Sie malte eine Gruppe von
roten, kantigen Gestalten, die einen gelben, runden Mann angreifen, darunter
schlagen die Gelben zurück. "Jeder ist irgendwo fremd", sagt sie,
"und nur in der Masse fühlt man sich wohl." Sie will vermitteln, dass
Gewalttätigkeit falsch ist, denn Gegengewalt lässt nicht lange auf sich warten.
Den dritten Platz bekam Annemarie Hahn für ihr Bild, das ein Pärchen mit
verschiedenen Hautfarben zeigt. In der Gruppe der 10- bis 13-Jährigen kam Linda
Vogel auf den ersten Platz. Zweite wurden die Freundinnen Nadine Traska und
Anne Henry. Linda Daum und Franziska Witt waren gestern nicht im Rathaus. Ihr
Preisgeld von 20 Euro bekommen sie per Post.
Der Malwettbewerb startete im September mit der Woche des ausländischen
Mitbürgers. Der Verein "Tolerantes Neuruppin" hatte die Idee, sich
zusammen mit Jugendlichen mal auf eine andere Art Gedanken um das Thema
Ausländer und Rechtsextremismus zu machen. Es wurden Schulen angesprochen und
die Jugendlichen begannen zu malen. 24 Bilder sind entstanden, die in der
Bilderbogenpassage von einer Jury bewertet wurden. Otto Theel, Vize-Landrat
Klaus-Peter Appel, Gerd Klier, Hansjochen Scheffter und Henrich Rischa,
Geschäftsführer des Vereins, entschieden, welche sechs Bilder die besten sind.
Der Unternehmer Klaus Grandau spendete aus seiner privaten Brieftasche 200 Euro
für die Preisgelder. Er weiß, wie wichtig auch geschäftlich gute Beziehungen zu
Ausländern sind und betont das immer wieder vor den Mädchen. Theel nickt und
sagt: "Das Leben spielt sich inzwischen in der ganzen Welt ab."
Fremdenhass sei da nur hinderlich.
Donnerstag, 20. November 2003
Micha von der Aktion Zivilcourage Pirna ist sichtlich ernüchtert. »Die Einschätzung des Richters kann ich nicht nachvollziehen. Von wegen, die Angeklagten hätten keine schädlichen Neigungen mehr, so kahl geschoren, wie sie heute hier gesessen sind«, sagt er. Nach einwöchigem Prozess verkündete am vorigen Mittwoch die dritte Strafkammer des Dresdner Landgerichts das Urteil gegen elf Mitglieder der verbotenen Neonazigruppe Skinheads Sächsische Schweiz (SSS). Es fiel milde aus.
Die Männer im Alter von 22 bis 26 Jahren wurden wegen der Bildung beziehungsweise der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, wegen schweren Landfriedensbruchs, gefährlicher Körperverletzung und Nötigung zu Jugendstrafen zwischen sechs Monaten und zwei Jahren verurteilt. Die Strafen wurden zur Bewährung ausgesetzt. Nur zwei Angeklagte müssen Teile der Verfahrenskosten tragen, die wegen der Kürze der Verhandlung gering ausfallen.
Das Gericht und die Verteidigung hatten sich schon vor dem Urteil auf das Strafmaß geeinigt. Der Richter Tom Maciejewski stellte den Angeklagten im Fall eines Geständnisses Bewährungsstrafen in Aussicht. Die Staatsanwaltschaft stimmte dieser Absprache zu. Über ihre Anwälte gaben die Angeklagten ihre Schuldbekenntnisse ab. Nur zwei von ihnen erklärten, dass sie ihre Taten auch bereuen.
Damit ging der zweite Prozess gegen Mitglieder der SSS mit ähnlichen Ergebnissen zu Ende wie schon der erste im Mai dieses Jahres, in dem die Rädelsführer der Organisation ebenfalls nur zu Bewährungsstrafen verurteilt wurden. Nach dem Urteil sind nun noch 20 von 82 Verfahren gegen Mitglieder der SSS offen.
Die von Oberstaatsanwalt Jürgen Schär vorangetriebene Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung nach Paragraf 129 StGB führte kaum zur Aufklärung konkreter Taten. Und die Verfolgung zivilrechtlicher Klagen ist für die Opfer der SSS wegen der geringen Ermittlungsergebnisse schwierig.
Maciejewski betonte in seiner Urteilsbegründung den Charakter der SSS als kriminelle Vereinigung. Ziel der Gruppe sei es gewesen, Straftaten gegen politisch Andersdenkende zu verüben. Die im April 2001 als verfassungsfeindlich verbotene SSS habe es sich zum Ziel gesetzt, die Sächsische Schweiz von Linken, Drogenabhängigen und Ausländern »zu befreien«, wie sie das nannte. »Denen hat es schon gereicht, wenn jemand ein bisschen anders aussah, wenn sich jemand mal traute, einen Nirvana-Aufnäher zu tragen«, erzählt Tobias von der Aktion Zivilcourage.
Zu dem Programm der etwa 120 Mitglieder starken SSS gehörten in den neunziger Jahren Überfälle auf an der Elbe grillende Jugendliche, auf ein Rockkonzert in einer Kirchengemeinde oder auf Leute, die von der Disco nach Hause gingen. Sie klebte auch Wahlplakate der NPD und schützte Veranstaltungen der Partei.
An der Spitze der streng hierarchischen Organisation standen die bereits zu Bewährungsstrafen verurteilten Thomas S. und Thomas R. Nun stand die Führungsriege der so genannten Members of SSS vor Gericht, die innerhalb der SSS die zweite Ebene in der Hierarchie bildete. Die nächste Ebene bildeten die Aufbauorganisationen Oberes und Unteres Elbtal, für die sich Anwärter sechs Monate lang bewähren mussten. Die SSS besorgte sich Waffen und Sprengstoff, legte eine Kartei über mehr als 50 missliebige Personen an und gab eine Zeitung heraus.
»Es war wohl meine Sturm- und Drang-Zeit«, sagte der Angeklagte Rene S. vor Gericht. Der vierfach vorbestrafte 25jährige Kfz-Mechaniker sagte, er wolle nun ein ruhiges Privatleben führen, habe in Karlsruhe eine Arbeitsstelle und eine Freundin. Oberstaatsanwalt Schär betonte, die Mehrzahl der Beschuldigten habe eine Wende zum normalen Leben vollzogen, auch wenn es noch Überzeugungstäter gebe. Auch der Richter folgte dieser Argumentation. Die Taten lägen schon sehr lange, teilweise fünf Jahre zurück, die Angeklagten seien heute sozial integriert.
Die Integrierten saßen allerdings in typischer Szenekleidung, in Bomberjacken und Thor-Steynar-Pullovern, im Gerichtssaal. Bei der Verkündung des Urteils befanden sich auch der Dresdner Neonazi Sven Hagendorf und der verurteilte SSS-Aktivist Thomas R. im Publikum. R. betreibt nach wie vor »die unabhängige Informationsstruktur« www.elbsandstein.org. Zum 9. November äußerte er dort klar seinen politischen Standpunkt: »Seid bereit! Im Stillen! Denn der Kampf um Deutschland geht weiter!«
Mindestens eines der angeklagten Mitglieder der SSS scheint zu denen zu gehören, die nicht nur im Stillen aktiv sind. Gemeinsam mit zwei weiteren bekannten Tätern verübte der 24jährige André F. in der Nacht zum 20. August einen Anschlag auf eine Gruppe von Sinti und Roma in Gersdorf bei Pirna. Dabei zündeten sie ein Auto an. Das Verfahren gegen André F. wurde wegen der Überlagerung der beiden Anklagen abgetrennt, sein Prozess soll im Januar stattfinden.
Immer wieder werden Übergriffe und rechte Aktivitäten in der Region Elbsandsteingebirge bekannt. Anfang September wurden am »Tag der Sachsen« in Sebnitz auf einer Veranstaltung des DGB und der Aktion Zivilcourage zwei Person von Neonazis angegriffen. Der einen Personen wurde der Unterkiefer gebrochen, der anderen wurden zwei Zähne ausgeschlagen. An dem Angriff war Tino K. beteiligt, der ehemalige Anführer der SSS-Abteilung Oberes Elbtal. Er ist der Sohn eines Bundesgrenzschützers, und ein Verfahren wegen seiner Aktivitäten in der SSS ist anhängig.
Die Sächsische Zeitung zitierte in der vorigen Woche einen Sprecher des Verfassungsschutzes, der darauf hinwies, dass es seit Anfang des Jahres vermehrt Aktionen von Rechtsextremisten in der Sächsischen Schweiz gebe. Vorher habe die Szene taktische Zurückhaltung geübt. Die Verurteilungen im ersten Prozess im Mai hätten nur eine begrenzte Wirkung gezeitigt. Die Auskunft darüber, ob sich unter den Angeklagten der SSS auch Informanten des Verfassungsschutzes befanden, wurde allerdings wie schon im Mai auch bei dieser Verhandlung verweigert.
Donnerstag, 20. November 2003
Vier junge Männer sollen in der Nacht zum 8. November in Pritzwalk (Brandenburg) ein asiatisches Imbisslokal angezündet haben. Die Polizei nahm die 17- bis 26jährigen in Untersuchungshaft. Das Lokal brannte vollständig aus, und die Flammen griffen auch auf das Dach eines benachbarten Supermarktes über. Der zuständige Polizeisprecher schloss einen fremdenfeindlichen Hintergrund nicht aus. Die Polizei hält es für möglich, dass die vier Männer auch für den Brandanschlag auf ein türkisches Lokal verantwortlich sind, der in der gleichen Nacht in Pritzwalk verübt wurde. Hier war der Schaden geringer, die Flammen verrußten lediglich die Außenwand. Nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, der am 7. November veröffentlicht wurde, müssen ausländische Untersuchungshäftlinge die vom Staat angeordnete Übersetzung ihrer aufgezeichneten Telefonate selbst bezahlen. Die Übersetzung der Gespräche sei zur Aufklärung der Straftaten notwendig, lautete die Begründung der Entscheidung. Die Möglichkeit eines kostenlosen Kontaktes zur Außenwelt müsse aber gegeben sein, weshalb die Übersetzung von Briefen und Besuchsprotokollen prinzipiell vom Staat zu bezahlen sei. Das Gericht schloss aber nicht aus, dass auch die Dolmetscherkosten für die Überprüfung von Briefen im Einzelfall dem Häftling in Rechnung gestellt werden könnten. Bei hohem Briefaufkommen müsse eine Auswahl getroffen werden, welche Briefe zu übersetzen seien. Dies sei weniger bei Briefen an die Familie als an mögliche Komplizen der Fall. Am Abend des 5. November legten unbekannte Täter in einem Asylbewerberheim in Sonneberg (Thüringen) Feuer. Der Brand brach im Keller des Gebäudes aus und verursachte eine starke Rauchentwicklung. Die 50 Bewohnerinnen und Bewohner der Unterkunft mussten in Sicherheit gebracht werden. Ein Mann kam mit Verdacht auf Rauchvergiftung ins Krankenhaus. Die Feuerwehr konnte den Brand schnell unter Kontrolle bringen. Der Sachschaden wird auf etwa 7 000 Euro geschätzt. In der Nacht zum 5. November beschädigten Unbekannte eine jüdische Gedenkstätte in Extertal-Bösingfeld (Nordrhein-Westfalen). Die aus mehreren dreieckigen Steinen bestehende Gedenkstätte zur Erinnerung an die während des Nationalsozialismus ermordeten jüdischen Bürgerinnen und Bürger Extertals sollte erst am folgenden Sonntag eingeweiht werden. Sie entstand im Rahmen eines Schülerprojekts an der Realschule in Bösingfeld. Die Täter stießen die Steine um und rissen sie zum Teil aus der Verankerung. Eine »politisch motivierte oder fremdenfeindliche Tat« schließt die Polizei in Bielefeld nicht aus. Die Unterabteilung Staatsschutz hat die Ermittlungen aufgenommen. Der Bürgermeister der Stadt sagte der Lippischen Rundschau, man könne fast vermuten, »dass diese Tat keinen politischen Hintergrund hat«, weil in der gleichen Nacht auch zahlreiche Schaufensterscheiben eingeworfen wurden.