Mittwoch, 26. November 2003
Konferenz
„Demokratie aus der Mitte“ in Bad Sülze |
„Agieren,
nicht hinterher laufen“ |
|
[ORT] „Die Deutschen sind sowieso ein bisschen bekloppt“, wetterte Joachim Gauck gestern auf der Fachkonferenz „Demokratie aus der Mitte“ in Bad Sülze. Der ehemalige Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR begründete seine Äußerung damit, dass sich die Deutschen immer erst wohl fühlen würden, wenn es ihnen nicht gut geht. Von den 57 Teilnehmern der Tagung erntete er dafür schallendes Gelächter.
Joachim Gauck forderte in seinem Vortrag „Demokratieentwicklung in den neuen Bundesländern“ Leute, „die wissen was eine Gewerkschaft ist und schon mal einen Klassensprecher gewählt haben und nicht den FDJ-Sekretär“. Nur so könne Demokratie tatsächlich umgesetzt werden.
Mit der Fachkonferenz in Bad Sülze fiel gestern der Startschuss für ein Projekt des Kreisjugendrings Nordvorpommern und der Civitas Netzwerkstelle des Jugendhauses „Alte Molkerei“. „Wir wollen bei acht verschiedenen freien Trägern der Jugendhilfe Projekte vorstellen, die sich thematisch an der Fachkonferenz orientieren“, erklärt Tino Borchert, Vorsitzender des Kreisjugendrings.
Auf der Mitgliederversammlung des Vereins im Januar 2004 wolle man über nachhaltige Ergebnisse der Tagung in Bezug auf Jugendarbeit, Soziale Arbeit, Demokratie und Rechtsextremismus beraten. „Auch wenn die öffentlichen Mittel immer geringer werden, dürfen wir in der Jugendarbeit nicht hinterher laufen. Wir müssen agieren“, so Borchert.
Nicht in Bad Sülze agieren durfte gestern der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Gottfried Timm. Er musste den Termin kurzfristig absagen und wegen einer Haushaltsdebatte in Schwerin bleiben.
Mittwoch, 26. November 2003
Julia Haak
Immerhin
weiß der Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele jetzt sicher, dass er
sich nicht alles nur eingebildet hat. Der Mann, der ihm am 20. September 2002,
zwei Tage vor der Bundestagswahl, von hinten auf den Kopf schlug, hat das vor
dem Amtsgericht Tiergarten gestanden. Bei der Polizei hatte der bekannte Rechtsextremist
bisher immer abgestritten, zugeschlagen zu haben. Warum er Ströbele aber
angriff, das wird auch weiterhin nicht recht klar.
Er habe den Grünen-Politiker
Ströbele zwar gekannt, aber an jenem Septembermorgen nicht erkannt, sagt der
Täter am Dienstag vor Gericht. Es sei sein allgemein desolater Zustand und eine
Art Urwut auf die Grünen gewesen, weshalb er an den Mann, der dort
Wahlkampfflugblätter für ein Direktmandat verteilte, herantrat und ihm derart
eins überzog, dass Ströbele eine Gehirnerschütterung erlitt und zwei Wochen
lang Kopfschmerzen hatte.
Der 36 Jahre alte Angeklagte
aus Wandlitz ist vorbestraft. Er gilt als Sprengstoffexperte innerhalb der
rechten Szene. Die Polizei hat ihm mehrfach Verstöße gegen das Waffengesetz
nachgewiesen. Innerhalb der Neonaziszene soll er in Gruppen wie der verbotenen
Organisation "Nationale Alternative" aktiv gewesen sein. Vor Gericht
äußert er sich zu solchen Fragen nicht. Er will auch keinen Kommentar zu dem
Himmler-Bild abgeben, das die Polizei an seiner Wohnungswand gefunden hat. Der
Täter spricht nur über die Tat. Die hat sich um 7.30 Uhr nach einer
durchzechten Nacht nahe der S-Bahn-Station Warschauer Straße abgespielt. Nach
seiner Version hat der Angeklagte Ströbele nur mit der flachen Hand geschlagen
und im Vorübergehen als "Hurensau" oder "Hurenschwein"
beschimpft.
Der Staatsanwalt geht
allerdings davon aus, dass er eine teles-kopartig ausfahrbare Stahlrute benutzt
hat. Die war in seiner Tasche gefunden worden, nachdem Ströbele ihn bis in
einen Hauseingang verfolgt und eine vorüberfahrende Polizeistreife um Hilfe
gebeten hatte. "Hätte ich einen Totschläger benutzt, wäre Ströbele nicht
mehr am Leben", meint der Angeklagte dazu. Dem populären Grünen-Politiker,
der als einziger Abgeordneter seiner Partei ein Direktmandat geholt hat, ist
auch ohne solche Überlegungen mulmig genug: "Ich habe jetzt keine Angst,
allein auf die Straße zu gehen, aber immer gern eine Mauer in meinem
Rücken."
Mittwoch, 26. November 2003
Renate Oschlies
BERLIN,
25. November. Mit "eindringlichen Gesprächen" in den Wahlkreisen will
die Unionsfraktion im Bundestag Kritiker davon überzeugen, dass die CDU-Spitze
mit dem Ausschluss des Fuldaer Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann aus der
Fraktion und dem eingeleiteten Parteiausschluss die richtige Entscheidung
getroffen hat. Am Dienstag hatten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)
mehrere hundert Unterzeichner in einer halbseitigen Anzeige verlangt, die
Ausschlussverfahren rückgängig zu machen und Hohmann eine "zweite
Chance" zu geben. Hohmanns Rede sei zwar strittig, in Teilen fragwürdig,
"aber keineswegs antisemitisch".
"Diesen Kritikern, die
nicht erkennen wollen, dass die Rede unerträglich und antisemitisch war, müssen
wir jetzt die klare Kante zeigen", sagte Unionsfraktionsvize Wolfgang
Bosbach der Berliner Zeitung. Die Unionsabgeordneten sollten Gespräche mit
Orts- und Kreisvorsitzenden führen, deren Mitglieder sich öffentlich mit Hohmann
solidarisierten und ihnen ein "klares Nein" zu jeder Form von
Rechtsradikalismus signalisieren. "Für jemanden, der an antisemitischem
Gedankengut festhält, kann es keine zweite Chance geben", sagte Bosbach.
Jedoch sei zweifelhaft, wie die Kritiker als Unterzeichner der FAZ-Anzeige
rekrutiert wurden, heißt es aus der CDU-Zentrale. So habe etwa der Essener OB
Wolfgang Reiniger Strafanzeige wegen Missbrauchs seines Namens für die Anzeige
gestellt. Auch der JU-Chef von Rösrath habe nie unterschrieben, sagte Bosbach.
Der Initiator der
Solidaritäts-kampagne für Hohmann, der frühere Moderator des ZDF-Magazins,
Fritz Schenk (CDU), spricht inzwischen von 3 000 Sympathisanten. In der
rechtsextremen Zeitschrift Junge Freiheit kritisiert er das Vorgehen der CDU
als "Politkeule", um die "Leute mundtot" zu machen. In
rechten Internet-Foren tritt er auch als Kritiker der Entschädigungszahlungen
Deutschlands nach 1945 auf und fordert von der deutschen Politik, "den
deutschen Schuldkult ins Museum zu verfrachten".
Kommentar
Christian Bommarius
Martin
Hohmanns "Tätervolk"-Rede war weder patriotisch noch nationalistisch,
sie war schlicht antisemitisch. Darum hat Friedrich Merz, stellvertretender
Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion, Recht mit seiner Forderung, den Fall
nicht zum Anlass für eine parteiöffentliche Patriotismus-Debatte zu nehmen.
Doch genügt es auch hier wieder einmal nicht, nur Recht zu haben. Teile der
CDU-Basis sorgen derzeit dafür, dass Merz nicht Recht bekommt, vielmehr die CDU
die unerwünschte Debatte in verschärfter Form. Mit einer Anzeige in der
Frankfurter Allgemeinen haben gestern hunderte Mitglieder "kritische
Solidarität" mit Hohmann bekundet und eine "offene, faire Debatte -
gegen Partei- und Fraktionsausschlussverfahren" verlangt.
Bemerkenswert an der Anzeige
ist ihre evidente Verlogenheit. Wollten ihre Unterzeichner eine
"offene" Debatte, verböte sich die proklamierte Vorwegnahme ihres
Resultats - "gegen Partei- und Fraktionsausschlussverfahren". Einige
der Unterzeichner des Appells - unter anderem sein Initiator, der vormalige
ZDF-Moderator Fritz Schenk- sind der Öffentlichkeit seit längerem einschlägig
bekannt, alarmierend aber ist die große Zahl der jungen Unterzeichner. Im
Appell heißt es, Hohmanns Rede sei in Teilen "fragwürdig", aber
keinesfalls "antisemitisch". Richtig ist: Hohmanns Rede war nichts
anderes als antisemitisch und nur deshalb fragwürdig. Angeblich haben den
Appell schon dreitausend Mitglieder unterzeichnet. Der CDU droht keine Debatte
über Nationalismus, sondern über Antisemitismus in ihren eigenen Reihen.
Mittwoch, 26. November 2003
Von Sabine Gundlach
Er wollte "es endlich mal einem von diesen Grünen geben", gestand Neonazi Bendix-Jörg W. zu Prozessbeginn im Amtsgericht Tiergarten. Dort wurde gestern sein Angriff auf den Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele bei einer Wahlkampfveranstaltung im vergangenen Jahr verhandelt.
"Die Grünen sind an vielem schuld", begründete der Angeklagte aus Wandlitz seine Attacke. Zum Beispiel sei der Liepnitzsee kurz vor dem Umkippen, auch für das Waldsterben seien sie verantwortlich. Er habe jedoch nur mit der flachen Hand zugeschlagen, sagte der vorbestrafte Rechtsradikale und beteuerte, seinen Totschläger bei dem Überfall nicht benutzt zu haben. Den führe er nur zum Selbstschutz bei nächtlichen U- und S-Bahnfahrten mit sich, erklärte der 125-Kilogramm schwere und mindestens 1,90 Meter große Mann.
Die Staatsanwaltschaft legt dem Angeklagten schwere Körperverletzung zur Last. Der 36 Jahre alte gelernte Schlosser und Schmied soll Ströbele zwei Tage vor der Bundestagswahl am 20. September 2002 von hinten mit einer Teleskop-Stange, einem so genannten Totschläger, auf den Kopf geschlagen und ihn als "Hurenschwein oder Hurensau" beschimpft haben.
Ja, er habe "irgendwas gesagt", könne sich aber nicht mehr genau erinnern, sagte W. "Ich war in einem desolaten Zustand. Es tut mir von Herzen Leid", gab sich der während der Verhandlung eher unbeteiligt wirkende Angeklagte reumütig. Dass er "Herrn Ströbele" geschlagen hatte, habe er erst hinterher erfahren. "Es war eine Kurzschlussreaktion." So sei er nach durchzechter Nacht in Dahlem auch nur durch Zufall auf der Warschauer Brücke gelandet, da er sich mit der U-Bahn verfahren habe. Der Zufall wollte es, dass just an diesem Freitagmorgen dort Ströbele für seine Direktkandidatur warb.
"Wir hatten dort allein drei Plakate mit großen Konterfeis von mir", sagte Ströbele gestern. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Mann nicht wusste, wen er schlägt." Wahlkampfhelfer Günter Huber war der Angeklagte zudem bereits vor dem Angriff aufgefallen. "Der blickte voller Aggression auf unseren Stand." Das Urteil wird nach der Vernehmung eines Arztes für den 9. Dezember erwartet.
Mittwoch, 26. November 2003
Das Geständnis, den Grünen-Parlamentarier Hans-Christian Ströbele zwei Tage vor der Bundestagswahl im September 2002 hinterrücks angegriffen zu haben, kommt dem Angeklagten vor dem Berliner Schöffengericht nur schwer über die Lippen. Der vorbestrafte Rechtsextremist Bendix W., in der Neonaziszene als Waffenexperte berüchtigt, faltet erst die Hände über der blau-grünen Lodenjacke.
Er habe an jenem Morgen, als der Direktkandidat Flugblätter auf einer Fußgängerbrücke in seinem Wahlkreis Kreuzberg-Friedrichshain verteilte, seinen "Abneigungen gegen die Grünen" Ausdruck verliehen. Die Partei sei für "die ganze Umweltzerstörung" an seinem Wohnort Wandlitz und für das Waldsterben in einem brandenburgischen Naturschutzgebiet verantwortlich. Zudem, so der 36-Jährige, sei er persönlich in einer "desolaten Lage" gewesen und habe sich auf dem Heimweg von einem Saufgelage befunden.
Den 64-jährigen Ströbele will er "spontan" und "mit der flachen Hand" auf den Hinterkopf geschlagen, dann als "Hurensau" oder "Hurenschwein" beschimpft haben. Einen Schlagstock aus Metall, den Polizisten später in W.s Tasche fanden, will er dabei nicht eingesetzt haben. "Wenn ich den Totschläger verwendet hätte, wäre Ströbele jetzt nicht mehr am Leben."
Der Abgeordnete erlitt eine Gehirnerschütterung und musste alle Termine bis zum Wahltag absagen. "Warum haben Sie mich eigentlich angegriffen?", wollte Ströbele gestern von dem massigen Zweimetermann wissen. Der Politiker hatte W. so lange verfolgt, bis er auf eine Polizeistreife stieß. "Ich war unheimlich empört und wütend, weil die Tat so feige war."
Einen gezielten Angriff auf Ströbele leugnete Bednix W. jedoch beharrlich. Er habe den Abgeordneten nicht erkannt, sondern seiner Wut gegen die Grünen ganz allgemein freien Lauf gelassen. Sein Opfer, das von einem "knallharten Schlag" sprach, hält diese Aussage für wenig glaubwürdig. Zeugen bestätigten, dass der Angeklagte den Infotisch des Parlamentariers eine Viertelstunde beobachtet hatte, bevor er zuschlug. Zudem hätten an dem Wahlstand Plakate mit seinem Namen und Foto gehangen, so Ströbele.
Bendix W. war 1990 erstmals in Berlin als Neonazi-Aktivist in Erscheinung getreten. Er zählt noch immer zum engen Kreis der rechtsextremen Rockergruppe "Vandalen" und ist vorbestraft, unter anderem wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Ein Trio polizeibekannter Rechtsextremisten verfolgte den gestrigen Prozesstag als Zuschauer.
Mit dem Angriff auf Ströbele verstieß W., in dessen Laube Ermittler eine Duellpistole und ein Porträt von SS-Führer Heinrich Himmler fanden, gegen seine Bewährungsauflagen. Trotzdem war er unmittelbar nach der Tat wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Ströbele kritisierte zudem, dass es länger als ein Jahr bis zum Prozessbeginn dauerte. Am 9. Dezember soll nun ein Gutachter feststellen, ob Bendix W. bei dem Angriff seinen Schlagstock einsetzte. Dann entscheidet sich, ob der Mann mit dem Himmler-Bart wegen gefährlicher oder lediglich wegen einfacher Körperverletzung verurteilt wird." HEIKE KLEFFNER
Mittwoch, 26. November 2003
BIELEFELD/VLOTHO dpa Das Bielefelder Amtsgericht hat gestern in Vlotho (Kreis Herford) Ausgaben einer mutmaßlich rechtsradikalen Zeitschrift beschlagnahmt. Laut Staatsanwaltschaft wurde in der September/Oktober-Ausgabe der Zeitschrift Stimme des Gewissens die Vernichtung der europäischen Juden während der NS-Zeit als Lüge bezeichnet. Gegen den Redakteur und die Herausgeberin solle nun wegen des Verdachts der Volksverhetzung ermittelt werden, sagte ein Sprecher. Ebenfalls beschlagnahmt wurden Adressenlisten der Abonnenten und Computer. Die Auflage der vom Verein "Collegium Humanum" herausgegebenen Zeitschrift wird auf 2.500 Exemplare geschätzt. Der Verein betreibt in Vlotho eine Bildungsstätte, die seit Jahrzehnten auch von Rechtsextremisten unterschiedlicher Ausrichtung genutzt wird.
Mittwoch, 26. November 2003
Der Polizei ist ein Schlag gegen die rechtsextremistische Musikszene gelungen. Bei Durchsuchungen in Thüringen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt wurden gestern Ton- und Datenträger beschlagnahmt, hieß es. Das Material deute auf eine aktive Fortführung der verbotenen Vereinigung "Blood & Honour Deutschland" hin. (dpa)
Mittwoch, 26. November 2003
Bizarrer Auftakt im Prozess gegen Neonazi, der Ströbele schlug
Der Mann wirkt gewaltig. Bendix W. ist etwa zwei Meter groß und massig wie ein Gewichtheber.
Aber der 36-Jährige versucht, seine wuchtige Erscheinung brav zu verkleiden. Er
trägt ein blaues Landhaussakko, eine dunkle Krawatte, eine grüne Weste und eine
unauffällige schwarze Hose. Die Haartracht ist bieder, die Kinnbartfräse
offenbar frisch gestutzt. Doch die schweren schwarzen Halbschuhe sehen aus wie
das übliche Trittwerkzeug der rechten Szene.
Bendix W. hat sich allerdings vorgenommen, vor dem Amtsgericht Tiergarten nicht
den Radau-Nazi zu mimen, und gesteht: „Die Anklageschrift entspricht im Groben
den Tatsachen.“ Aber dann schränkt er ein: Der Schlag auf den Kopf des Opfers
„ist mit der flachen Hand erfolgt“, keinesfalls mit dem zur „Eigensicherung“
herumgetragenen Teleskopschlagstock. Außerdem habe er nicht gewusst, dass es sich
um den Kopf des Grünen-Bundestagsabgeordneten HansChristian Ströbele handelte,
„das ist mir erst später aufgefallen.“
Ströbele sitzt W. schräg gegenüber. Der Politiker mit dem markanten
Weißhaarschopf verteilte am Tattag, morgens kurz nach 7 Uhr, Flugblätter. Es
war der 20. September 2002, zwei Tage vor der Bundestagswahl. Der prominente
Grüne hatte auf der Warschauer Brücke ein Elektroauto geparkt, auf dem sein
Name prangte, und einen Stand mit Ströbele-Poster aufgebaut. Dann passierte es:
„Wie ein Blitz traf mich ein Schlag“, sagt Ströbele, „hier hinten, etwas unter
den Haaren.“ Die Hand fährt zum Nacken. „In der allerersten Sekunde dachte ich,
dass mich ein Auto angefahren hat.“ Dann sei eine große Person dicht
herangekommen „und äußerte ,Hurensau‘ oder ,Hurenschwein‘“. Trotz seines
Schreckens lief er dem Täter hinterher, drückte mechanisch noch einem Passanten
einen Flyer der Grünen in die Hand und stellte W., der sich in einem
Hauseingang versteckte. Zwei zufällig anwesende Polizisten nahmen den Täter fest.
Ströbele fragt W., warum er geschlagen habe. Der Angeklagte antwortet, „es tut
mir von ganzem Herzen Leid“, aber er sei angetrunken gewesen „und in meiner
Heimat haben die Grünen etliche Sachen versiebt“. Die Heimat von W. ist
Wandlitz. Nach der Tat fand die Polizei in seinem Haus ein Himmler-Bild, aber
auch einen Talmud und eine Kipa. Die jüdischen Utensilien seien für ihn
„Kuriositäten“, sagt W., wie sein ausgestopftes Krokodil. Am 9. Dezember will
das Gericht das Urteil verkünden. Frank Jansen
Mittwoch, 26. November 2003
Gleichgültigkeit nützt nur den Urhebern
Fotoschau im Conny-Wessmann-Haus mit Hassschmierereien am
neuen Großenhainer Busbahnhof und am Wiesengässchen
Von Kathrin Krüger-Mlaouhia
Wenn die Berlinerin
Irmela Mensah-Schramm mit dem Zug durch die Lande fährt, begegnen ihr nicht
selten schon beim Aussteigen am Bahnhof die Dinge, die sie am meisten aufregen:
politisch motivierte Schmiererein. Ob nun von Rechtsradikalen mit
naziverherrlichendem und ausländerfeindlichem Inhalt. Oder von Linksautonomen.
Auch in Großenhain ist die 58-Jährige auf solche Parolen gestoßen, die
vielleicht noch nicht mal die Einwohner wahrgenommen haben. „Unsere Parole =
Sieg heil“ und ein Hakenkreuz fotografierte sie 1997 am Wiesengässchen. Erst
vor kurzem hielt sie am neuen Großenhainer Busbahnhof „Heil Hitler“,
„Wehrmacht“ und „SS“ fest. Diese Fotos sind bis 30. November im
Conny-Wessmann-Haus ausgestellt. Hausschmiererein sind die Vorstufe physischer
Gewalt, sagt die Berliner Heilpädagogin, die zu Wochenbeginn zur
Ausstellungseröffnung erneut in der Stadt weilte. „Wenn ich so was sehe,
versetze ich mich in die Haut der Adressaten und fühle ihre Verletzung“, sagt
Mensah-Schramm, die mit einem Mann aus Ghana verheiratet ist. Ihr eigener Weg,
damit umzugehen, ist das Überpinseln oder Wegmachen der Schrift, der Aufkleber
oder des Eingeritzten. Manchmal hackt sie sogar Parolen aus der Mauer. Dass sie
damit wissentlich Sachbeschädigung begeht, ist der engagierten Dame durchaus
bewusst. Ihr Argument: Diesen Schaden kann man reparieren. Strafanzeigen hat
Mensah-Schramm schon einige bekommen, belangt wurde sie jedoch noch nicht.
Stattdessen verlieh ihr Johannes Rau im Jahre 2000 die Bundesverdienstmedaille.
Schon 18 Jahre lang ist die Berlinerin fast täglich mit Farbe und Putzzeug
unterwegs. Ihren Materialverbrauch bezahlt sie selbst. Manchmal kommt es auch
vor, dass sie von rechtsgesinnten Menschen angepöbelt wird, wenn sie
Hakenkreuze überpinselt. Dann ist es ihre Art, sich auseinander zu setzen. „Die
Angst, dass mir dabei was passieren könnte, kommt erst zu Hause“, sagt die
couragierte Frau. Sie möchte aber nie das Gefühl spüren, nichts getan zu haben.
„Gleichgültigkeit nützt nur den Urhebern“. Dass ein kleiner Teil ihrer über 7
000 Fotos in Großenhain gezeigt werden kann, ist Civitas, der Initiative gegen
Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern, zu danken. Schramms
Anrufbeantworter meldet sich mit: Hier ist das Ausstellungsprojekt „Hass
vernichtet“.
Mittwoch, 26. November 2003
Sachsens Jugend sieht im Westen bessere
Chancen
Optimismus hat seit 1999 deutlich abgenommen
Sachsens
Jugendliche wissen, was sie wollen: sichere Jobs und Spaß im Leben. Viele
glauben aber, dass sie das in Zukunft nur außerhalb ihres Heimatlandes finden
können.
Dresden. Die Mehrheit
der Jugendlichen in Sachsen ist überzeugt, außerhalb des Freistaates bessere
Zukunftschancen zu haben. Das ergab eine aktuelle Umfrage unter 1 014 Personen
im Alter zwischen 15 und 26 Jahren, deren Ergebnisse das sächsische
Sozialministerium gestern in Dresden vorstellte.
Fast zwei Drittel der
Befragten schließen nicht aus, dass sie künftig in den alten Bundesländern
leben werden. Zwölf Prozent haben konkrete Umzugspläne in Richtung Westen.
Sieben Prozent wollen sogar außerhalb Deutschlands ihr Glück suchen. Junge
Frauen und Jugendliche mit höherer Ausbildung haben eine besonders hohe
Bereitschaft zum Verlassen ihrer Heimat.
Einen wichtigen Grund
für diesen Trend sieht Sozialministerin Helma Orosz (CDU) in der Bewertung der
Lebensqualität in Sachsen. Im Vergleich zu 1999 habe der Optimismus der Jugend
spürbar abgenommen. Bereits die Hälfte der jungen Leute mit Job sowie 53
Prozent der Auszubildenden bewerte die Lebensqualität heute als überwiegend
negativ. Orosz warnte, das Problem Abwanderung bekomme damit eine neue
Dimension.
Im Gegenzug ist aber
das gesellschaftspolitische Interesse gestiegen. Themen wie Arbeit, Beruf,
Bildung, Politikverdrossenheit und soziale Gerechtigkeit werden dabei als
besonders wichtig angesehen. Politisch stehen mit 35 Prozent die meisten jungen
Sachsen der CDU nahe. Es folgen SPD (22 Prozent), PDS (15), Grüne (11) und FDP
(7). Die Zahl der Jugendlichen, die sich als rechtsorientiert ansehen, ist auf
zwölf Prozent gestiegen. Zur NPD und Republikanern bekennen sich aber nur je
ein Prozent.
Die meisten Befragten
erklärten „Glück und Freude“ zum wichtigsten Sinn des Lebens. Aufrichtigkeit,
Ehrlichkeit, Humor und Teamfähigkeit gehören zu den anerkanntesten
Eigenschaften. (SZ/gs)
Mittwoch, 26. November 2003
Matthias Pfeiffer |
|
Trauer
bei »Kameraden« aller Couleur |
|
Der kürzlich
verstorbene NPD-Kader Eisenecker verteidigte oft und gern rechte Gewalttäter |
|
Sowohl
NPD als auch »Kameradschaften« lancieren derzeit Nachrufe auf Hans Günter Eisenecker.
In einem Text der NPD heißt es, der promovierte Jurist sei am 7. November
»nach langer schwerer Krankheit« im Alter von 53 Jahren gestorben. Eisenecker
war von 1998 bis zu seinem Tod Landesvorsitzender der NPD
Mecklenburg-Vorpommern. Sein Stellvertreter Stefan Köster erklärte, mit ihm
verliere man »eine der bedeutendsten Persönlichkeiten im Widerstand«. |
Mittwoch, 26. November 2003
»Blood & Honour« kreuzfidel |
|
Nach ihrem Verbot
agierte die neofaschistische Organisation drei Jahre lang unbehelligt weiter |
|
Wie das antifaschistische
Magazin Der Rechte Rand (DRR) kürzlich mitteilte, konnte eine
Teilorganisation der vor drei Jahren, am 14. November 2000, vom
Bundesinnenministerium verbotenen »deutschen Division« des neofaschistischen
Netzwerks »Blood & Honour« (B & H) bis vor wenigen Wochen unbehelligt
weiter agieren. Es handelt sich um die sogenannte Sektion Nordmark. Die
Rechten hätten das »B & H«-Netzwerk weitgehend offen unter dem Kürzel
»28« oder dem Namen »Combat 18« fortgeführt. |
Wednesday,
26 November 2003
Anklage gegen »tickende Zeitbombe«
Vor Gericht: Überfall auf Grünen-Politiker Ströbele
Von Peter Kirschey
Seit gestern steht der 36-jährige rechte Schläger Bendix-Jörg W., der am 20.
September 2002 gegen 7.20 Uhr, zwei Tage vor der Bundestagswahl, den Berliner
Grünen-Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele auf der Berliner
Warschauer Brücke am Kopf verletzt hatte, vor Gericht.
Der mehrfach vorbestrafte W., brav in einen dunklen Anzug gezwängt, gab sich zu
Beginn des Verfahrens reuig und geständig. Am Morgen des 20. September sei er
total frustriert auf Achse gewesen, habe mächtig unter Strom gestanden und
nicht so recht den Weg nach Wandlitz, seinem Heimatort gefunden, erzählte er.
Es könnten in dieser Nacht bei einem Zechgelage zwischen 20 und 40 Bier gewesen
sein, beschrieb er seinen Alkoholkonsum. Dazu einige Gläser Wein. 1,5 Promille
wurden später bei ihm festgestellt.
Am Bahnhof Warschauer Straße habe er erst einmal drei Currywürste gegessen, um
wieder auf Trab zu kommen. Auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle sah er dann
einen Mann, der Flugblätter der Grünen verteilte. Dass es Ströbele war, will er
in diesem Augenblick nicht erkannt haben. In einem Anflug plötzlich
aufwallender Wut habe er dann zugeschlagen, denn die Grünen sind nach seiner
Überzeugung mitschuldig an der Umweltzerstörung in seiner schönen Wandlitzer
Region. Die Tat wurde jedoch nicht mit einem Totschläger – ein ausziehbarer
Knüppel – ausgeführt, sondern nur mit der flachen Hand, schränkte er ein. Den
gefährlichen Prügelstock trage er »zur Sicherheit« immer bei sich, habe ihn an
diesem Morgen jedoch nicht benutzt. Der Knüppel wurde wenig später bei der
Verhaftung in seiner Tasche gefunden; die Anklage geht davon aus, dass der
Täter damit den Grünen-Politiker attackiert habe.
Der Zeuge Ströbele schilderte das Geschehen sehr präzise. Nach dem Schlag habe
er die Verfolgung des Täters aufgenommen und ihn später mit Hilfe der Polizei
in einem Flureingang gestellt. Da der Schlag von hinten kam, habe er auch nicht
erkennen können, womit er ausgeführt wurde. Es war weniger der Schmerz über die
Verletzung, mehr die Wut über diese brutale Missachtung der Menschenwürde, die
ihn in diesem Moment bewegt hatte.
Die Aussagen der 125-Kilo-Mannes W. klangen recht harmlos. Doch bei dem Täter
handelt es sich um einen mehrfach vorbestraften rechten Gewalttäter. Für den
schon zu DDR-Zeiten als Neonazi verurteilten W. kam die Wende als echte
Befreiung. Es zog ihn dann zur rechtsradikalen Szene und er wurde Mitglied der
Neonazi-Rockband »Vandalen«, die wiederum mit der zur Zeit wegen Bildung einer
krimineller Vereinigung angeklagten »Landser«-Truppe verbunden war. Enge
Kontakte pflegte er zum berüchtigten Neonazi Arnulf Priem. In rechten Kreisen
ist der Mann als Waffennarr und Sprengstoffspezi ein Begriff. 1995 wurde er zu
zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, weil er Sprengstoff nach Österreich
geliefert hatte. Einer seiner Waffen-»Schüler« war der verurteilte
Polizistenmörder Kai Diesner, der 1997 den Buchhändler Klaus Baltruschat
niederschoss. Kurzzeitig tauchte W. bei den kroatischen Ustascha-Milizen auf,
um dort am Bürgerkrieg als Söldner teilzunehmen. Wieder in Deutschland, wurde
er wieder mit Sprengstoff, Panzerfaust und Panzermine erwischt. Das Urteil: ein
Jahr und sechs Monate auf Bewährung.
In die Bewährungszeit fiel dann der Überfall auf Ströbele. Bei einer
Wohnungsdurchsuchung fand die Polizei an einer Wand das Porträt des
SS-Massenmörders Heinrich Himmler. Von den Ermittlern wurde er als »tickende
Zeitbombe« eingestuft. Das Gericht unterbrach gestern die Verhandlung und vertagte
sich auf den 1. Dezember.