Freitag, 28. November 2003

Gewalt erhöht Sensibilität für Gewalt

Schulen verzeichnen mehr Schüler, die mit Waffen zum Unterricht kommen. Denn seit den Todesschüssen in Erfurt
ist vor allem die Aufmerksamkeit der Lehrer gestiegen. Landeskommission gegen Gewalt setzt auf Prävention

Ein Schulranzen eines Grundschülers enthält normalerweise ein paar Hefte, Stifte, vielleicht ein Buch und ein Pausenbrot. Normalerweise. Glaubt man aber dem "Jahresbericht zu Gewaltvorfällen an Berliner Schulen", ist das in Berlin nicht immer so: Ausgerechnet die Grundschüler führen hier die Liste derer an, die mit Messern, Pistolen und anderen waffenartigen Gegenständen in die Schulen kommen.

Was unvorstellbar scheint, ist leider Trend: Im letzten Schuljahr meldeten die Schulen 55 Fälle, in denen Waffen in die Schulen mitgebracht wurden. Im Jahr davor waren es noch 27. Auch die Zahl der Gewaltvorfälle hat sich verdoppelt: "Gegenüber dem Schuljahr 2001/2002 haben wir im letzten Schuljahr eine Steigerung von 66 Prozent gehabt", sagte Thomas Härtel, Vorsitzender der Landeskommission "Berlin gegen Gewalt". 422 Zwischenfälle sind den Behörden gemeldet worden. Die Konflikte seien damit "gefährlicher ausgetragen worden als in allen Vorjahren", heißt es in dem Bericht weiter.

So dramatisch die Zahlen klingen: Die Statistiken spiegeln nicht unbedingt den reellen Anstieg wider. "Nach dem Vorfall in der Erfurter Schule im Frühjahr 2002 reagieren viele Lehrer sensibler", sagte Härtel. Die Bereitschaft, Vorfälle nicht nur innerhalb der Schule, sondern auch nach außen zu melden, sei deshalb angestiegen. "Dazu kommt, dass wir inzwischen 15 Schulpsychologen haben, die Lehrer und Schüler beraten", so Härtel weiter. Deshalb hätten die Lehrer eventuell auch mehr Mut.

Dass die offene Diskussion über Gewaltvorfälle erst mal zu einer deutlichen Steigerung in der Statistik führen kann, zeigt das Beispiel Neukölln: In dem Bezirk war das Gewaltthema mehrfach in Schulleitersitzungen thematisiert worden, worauf die Zahl der gemeldeten Vorfälle im vergangenen Schuljahr von 31 auf 118 stieg. Umgekehrt heißt es in dem Bericht: "Das auffallend geringe Niveau der gemeldeten Gewaltvorfälle etwa im Bezirk Marzahn-Hellersdorf sollte deshalb kein Anlass verminderter Aufmerksamkeit sein."

"Ich will hier nichts verharmlosen", sagte Härtel, "gerade die Zahlen an den Grundschulen haben uns betroffen gemacht." Härtel und seine Kommissionskollegen haben sich deshalb für ein Waffenverbot auch an Grundschulen ausgesprochen. Trotzdem warnten sie vor überzogenen Reaktionen angesichts der Zahlen. Man reagiere schon lange auf die Vorfälle. Neben den Schulpsychologen habe man inzwischen 1.300 Konfliktlotsen und Mediatoren ausgebildet. Dazu kämen vielfältige Präventionsprojekte in und außerhalb der Schule.

Dass gleichzeitig die Zahl der rechtsextremistischen Vorfälle an Schulen zurückgegangen ist, führen die Autoren der Studie genau auf solche Präventionsprojekte zurück. "Hier haben wir einen Rückgang von 36 Vorfällen im Schuljahr 2001/2002 auf 27 Vorfälle im letzten Schuljahr", so Härtel. Trotzdem, so die Warnung der Studie, dürfe man auch dieses Thema nicht aus den Augen lassen: "Mit dem Erlöschen der öffentlichen Aufmerksamkeit kann auch die Aufmerksamkeit in den Schulen nachlassen."

"SUSANNE AMANN

 

 

Freitag, 28. November 2003

Gewalt an Schulen

Verantwortliche nicht alleine lassen

Die Zahl der rechtsextremistischen Vorfälle an Berliner Schulen ist zurückgegangen. Das ist eine gute Nachricht. Leider ist es die einzig positive aus dem Jahresbericht über Gewalt an Schulen. Der Grund sei unter anderem die Unterstützung durch öffentliche Kampagnen, heißt es da - womit ein, wenn nicht der wesentliche Aspekt der Gewaltdiskussion angesprochen wird.

Kommentar
von SUSANNE AMANN

Denn soviel in diesem Zusammenhang von Prävention auf Schulhöfen, Lehrerfortbildung oder Polizeiarbeit in Klassen gesprochen wird, eines muss klar sein: Gewalt an Schulen, egal welcher Couleur, ist nicht allein das Problem der Schulen. Es ist ein Kernproblem der gesamten Gesellschaft. Nicht nur, weil aus gewaltbereiten Schülern irgendwann gewaltbereite Erwachsene werden. Sondern auch, weil Gewalt Ursachen hat. Und die liegen in aller Regel nicht beim Schüler.

Prävention ist richtig und wichtig. Aber gleichzeitig muss offen und öffentlich über die Ursachen und Hintergründe von Gewalt debattiert werden. Es muss klar werden, dass Gewalt aus der Mitte der Gesellschaft kommt und nicht allein das Problem von Neukölln oder Hellersdorf ist. Dazu braucht es ein gesellschaftliches Klima, das Gewalt weder toleriert noch hinnimmt. Eines, in dem sich jeder Einzelne verantwortlich fühlt. Antisemitismus und Rechtsextremismus sind in der öffentlichen Diskussion der letzten Jahre geächtet worden. Es hat gewirkt. Das Gleiche muss auch mit dem Thema Gewalt geschehen.

 

 

Freitag, 28. November 2003

RECHTE BOMBENWERKSTATT

Von Polizei entdeckt

Die Polizei hat im thüringischen Ohrdruf ein Sprengstofflabor der rechten Szene entdeckt. Bei einer Razzia sind außer einer Vielzahl noch unbekannter Chemikalien auch explosive Stoffe sichergestellt worden, so die Gothaer Polizei gestern. Auf dem Grundstück befinde sich außerdem ein Versammlungsraum der rechten Szene. (dpa)

 

 

Freitag, 28. November 2003

BRANDENBURG

Asia-Imbiss abgebrannt

Ein Asia-Imbiss ist in Wusterhausen im Landkreis Ostprignitz-Ruppin gestern Nacht völlig abgebrannt. Ein rassistischer Hintergrund könne nicht ausgeschlossen werden, sagte die Polizei gestern. Vor drei Wochen war in Pritzwalk (Prignitz) ein Asia-Imbiss von rechtsextremen Jugendlichen in Brand gesetzt worden. (dpa)

 

 

Freitag, 28. November 2003

RECHTE ZEITSCHRIFT

In Vlotho konfisziert

Beamte des Bielefelder Staatsschutzes haben in einer Druckerei in Vlotho (Kreis Herford) 3.000 Exemplare einer rechtsradikalen Zeitschrift Collegium Humanum beschlagnahmt. Dort werde die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten geleugnet, teilten Staatsanwaltschaft und Polizei gestern mit. (dpa)

 

 

Freitag, 28. November 2003

Der "Erfurt-Effekt" macht Schulen gefährlicher

Die Gewalt unter Jugendlichen nimmt zu - in einem Jahr stieg die Zahl der Fälle um 66 Prozent

Petra Ahne

An den Schulen geht es immer gewalttätiger zu. Dies jedenfalls ist das Ergebnis des Jahresberichts über Gewaltvorfälle an Berliner Schulen, den die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport am Donnerstag vorgestellt hat. Im Schuljahr 2002/2003 wurden der Behörde 422 Vorfälle gemeldet - das ist im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung um 66 Prozent. In über 80 Prozent der Fälle waren die jugendlichen Täter männlich.

Die starke Zunahme an Meldungen nannte der Staatssekretär für Bildung, Jugend und Sport, Thomas Härtel, den "Erfurt-Effekt". Einerseits habe der Amoklauf in einem Erfurter Gymnasium im April vergangenen Jahres offensichtlich Jugendliche ermutigt, selbst gewalttätig zu werden. Andererseits seien die Lehrer wachsamer geworden, und meldeten Vorfälle schneller als früher.

Am meisten haben laut Statistik Körperverletzungen zugenommen. 147 Fälle, meist Prügeleien, wurden gemeldet, im Jahr zuvor waren es noch 88 Fälle. Bei den gefährlichen Körperverletzungen - davon ist die Rede, wenn Gegenstände als Waffe eingesetzt werden, oder eine Gruppe angreift - gab es eine Steigerung um 66 Prozent: 83 Fälle wurden gemeldet. "Es fängt oft mit einem Gerangel an", sagt Bettina Schubert, die die Meldungen der Schulen sammelt. Am Donnerstag erst sei ihr ein typischer Fall erzählt worden: Ein Schüler hat einen anderen angespuckt, der spuckte zurück, es kam zur Rauferei.

Auch Waffen wie Messer oder Pistolen sind immer häufiger im Spiel - konkret in 55 der gemeldeten Fälle. Nur ganz selten kam es tatsächlich zu einer Verletzung, meist wollten die Schüler anderen mit den Waffen imponieren.

Häufig richtet sich die Gewalt gegen andere Schüler, nicht gegen Lehrer. Aber auch diese Form der Aggression hat zugenommen: 74- mal haben Lehrer sich bedroht gefühlt und dies gemeldet. Es könne davon ausgegangen werden, schreiben die Autoren des Berichts, dass es sich dabei um keine Bagatellen gehandelt habe, da es Lehrer erfahrungsgemäß Selbstüberwindung koste, zuzugeben, dass sie sich bedroht fühlen. Als Beispiel für einen "leichten Fall" wird ein Eintrag im Online-Gästebuch einer Schule genannt, in dem gedroht wurde, eine namentlich genannte Lehrerin zu töten. Als schwer eingestuft wird ein Vorfall in einem Ost-Berliner Bezirk, bei dem ein 15-jähriger Schüler vermummt in den Klassenraum rannte und ein Feuerzeug, das die Form einer Pistole hatte, auf seine Lehrerin richtete.

Erfreulich sei allenfalls der Rückgang der extremistisch und rechtsextremistisch motivierten Taten, sagte Staatssekretär Härtel. 27 wurden im Schuljahr 2002/2003 gezählt, zwei Jahre vorher waren es noch doppelt so viele. Meist handelt es um Beleidigungen oder Drohungen. Der Bericht erwähnt zum Beispiel ein anonymes Flugblatt, in dem Mädchen gewarnt wurden, in der Schule Kopftücher zu tragen.

Man habe auf die Zunahme der Gewalt reagiert, sagte Härtel. Im Februar wurden 15 Schulpsychologen eingesetzt. 1 300 Schüler haben sich bislang zu so genannten Konfliktlotsen ausbilden lassen und sollen mithelfen, dass ihre Mitschüler möglichst friedlich miteinander umgehen. Ebenso die Lehrer, die als Mediatoren eingesetzt wurden. An acht Schulen sind Schüler als Schulwegbegleiter aktiv. Sie sollen dafür sorgen, dass ihre Mitschüler sicher in die Schule kommen. Wirksam könne der Gewaltzunahme aber nur begegnet werden, wenn sich Ächtung von jeder Art der Gewalt in den Kollegien der Schulen durchsetze.

Innensenator Ehrhart Körting (SPD) will die Zusammenarbeit zwischen Polizei, Schulen und Jugendämtern verbessern, um Kriminalität zu verhindern. Das kündigte er im Abgeordnetenhaus an. Auch der Anteil ausländischer Jugendlicher an Gewalttaten solle nicht verschwiegen werden. Eine Untersuchung von jungen Gruppen-Gewalttätern habe ergeben, dass rund 44 Prozent von ihnen nicht-deutscher Herkunft waren.

Täter und Opfer

331 000 Schüler gehen auf 814 Schulen in Berlin. 32 000 Lehrer unterrichten sie.

Aus den Klassen 7 bis 10 wurden die meisten Fälle von Gewalt gemeldet: 267 von insgesamt 422. Danach folgen die Grundschulen mit 114 Fällen. In der Sekundarstufe II gab es 41 Fälle.

Bei den Grundschulen fiel außerdem auf, dass dort vergleichsweise häufig Waffen auftauchen. 14 Grundschüler wurden im vergangenen Schuljahr mit Messern (10 Fälle), Pistolen (3 Fälle) oder waffenähnlichen Gegenständen (1 Fall) erwischt.

Die Täter gehen meist auf die gleiche Schule wie ihre Opfer. In 75 Fällen aber ging die Gewalt von ehemaligen Schülern oder anderen Personen aus.

Die Opfer sind - ebenso wie die Täter - meist männlich. In 60 Prozent der Fälle waren es Schüler beziehungsweise Lehrer. Der Anteil der Schülerinnen und Lehrerinnen, die bedroht oder angegriffen werden, liegt bei einem Viertel und damit auf dem Niveau der vergangenen drei Jahre.

Außer Körperverletzungen und verbalen oder schriftlichen Drohungen registriert die Statistik noch Erpressung (also zum Beispiel die erzwungene Herausgabe von Handys), Raub (auch oft von Handys), Extremismus und Sachbeschädigungen.

 

 

Freitag, 28. November 2003

Kommentar

Kinder sind wie ihre Eltern

Peter Brock

Nicht mal 1,4 Promille aller Schüler werden in eine Schlägerei verwickelt. Diese Zahl ergibt sich, wenn man die gemeldeten Körperverletzungen mit der Zahl aller Schüler in Relation setzt und davon ausgeht, dass an jedem Fall zwei Schüler beteiligt sind. 1,4 Promille also. Das ist nicht viel. Manch Autofahrer hat nach einem Diskobesuch mehr Alkohol im Blut. Das ist die gute Zahl der Statistik.

Die schlechte lautet 66. Um so viele Prozente ist die Zahl der Fälle von Gewalt an Schulen im Vergleich zum vergangenen Schuljahr gestiegen. 66 also. Eine gewaltige Zahl.

Jeder kann frei wählen, welche Zahl er sich aussucht, ob er die Schulen als sicheren Hort bezeichnet oder als Brutstätte der Gewalt. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Die Schulen sind nicht gewalttätiger oder friedlicher als es die Gesellschaft ist. Also, kein Grund zur Panik, aber Anlass für Ursachenforschung. Dass meist Jungen prügeln, dass Statussymbole beliebte Erpressungsgegenstände sind, dass ethnische Unterschiede als Grund für Schläge gelten, das sollten Eltern nicht gering schätzen. Wer zu Hause das Gewinnen, und sei es nur beim Sport, als oberste Maxime ausgibt und für Verlierer nichts übrig hat, wer selbst undifferenziert über Ausländer schimpft und über Nachbarn lästert, die sich keinen Fünfer-BMW leisten können, muss sich nicht wundern, wenn seine Kinder nie lernen, gewaltfrei mit Konflikten umzugehen und dann eines Tages in der Statistik auftauchen.

 

 

Freitag, 28. November 2003

Gewalt an Berliner Schulen nimmt dramatisch zu

Zahl der Zwischenfälle um 66 Prozent gestiegen / Immer mehr Waffen an Grundschulen

Von Christa Beckmann und Hans H. Nibbrig

Berlin - An Berliner Schulen ist die Zahl der Gewalttaten drastisch gestiegen. Im Schuljahr 2002/03 sind 422 schwerwiegendere Zwischenfälle gemeldet worden, das waren 66 Prozent mehr als im Schuljahr zuvor. Das steht in dem gestern vorgestellten Bericht der Landeskommission "Berlin gegen Gewalt". Darin heißt es, dass 27 Straftaten an Schulen rechtsextremistisch motiviert gewesen seien, 9 weniger als 2001/02. Bildungssenator Klaus Böger (SPD) bezeichnete die Entwicklung insgesamt als "Besorgnis erregend".

Die in der Studie dabei erfassten Deliktarten reichen von Sachbeschädigung über Bedrohung und Körperverletzung bis Raub. Dabei wurden 204 Schüler zum Opfer, im Vorjahr waren es noch 112.

55-mal richtete sich die Gewalt der Täter gegen Lehrer (Vorjahr 28), in 19 Fällen traf es Schüler und Lehrer gleichzeitig. In dem Bericht heißt es, Konflikte in den Schulen seien im vergangenen Schuljahr "gefährlicher ausgetragen worden als in allen Vorjahren". Eine Ursache dafür ist die deutliche Zunahme der Zahl von mitgeführten oder benutzten Waffen auf 55. In den Statistiken fällt die Zunahme der Gewalt an den Grundschulen besonders auf. Dort ereigneten sich 95 der gemeldeten Vorfälle. Die Grundschule nimmt auch bei der Zahl der Waffen-Delikte (14) den vordersten Platz ein. Grundschüler, so heißt es in dem Bericht, bringen vor allem Messer mit auf den Schulhof und in den Unterricht. Die Landeskommission mit Spitzenvertretern aus den Senatsverwaltungen für Schule, Inneres und Justiz empfiehlt deshalb dringend, das Waffenverbot in den Schulordnungen der Grundschule festzuschreiben.

Bildungs-Staatssekretär Thomas Härtel verwies darauf, dass die Zahlen nicht automatisch einen Anstieg der tatsächlich verübten Gewalttaten an Schulen belegen. "Die Lehrer reagieren inzwischen sensibler und auch mutiger. Das heißt, heute werden viel mehr Vorfälle gemeldet als früher."

Seit Anfang des Jahres kümmern sich 15 Schulpsychologen um Gewaltprävention. Team-Koordinator Klaus Seifried sieht Gründe für die Gewaltbereitschaft und einen wachsenden Trend zur Bewaffnung nicht nur in einer zunehmenden Verrohung der Gesellschaft. Viele Eltern kümmerten sich auch zu wenig um ihre Kinder.

Die Täter sind überwiegend männlich, 345 Gewalttaten (81,8 Prozent) sind von Schülern begangen worden. Der Anteil der Schülerinnen beträgt nur 10,4 Prozent. Beim Rest der Fälle konnten die Täter nicht ermittelt werden.

 

 

Freitag, 28. November 2003

"Die meisten Lehrer sehen weg"

Mobbing und Gewalt - Zwei Opfer berichten über ihre Erfahrungen mit gewalttätigen Mitschülern

Von Christa Beckmann

Schule ist die Hölle gewesen für Ali. Jeden Morgen war ihm schlecht, wenn er nur daran gedacht hat. Daran, dass sie ihn wieder herumkommandieren würden: "Ey, Fetti, komm mal her". Dass sie ihn zum Essen holen in die Mensa schicken würden, wie jeden Mittag. Dass sie schon auf die Zigaretten warten würden, die er ihnen mitbringen musste. Dass sie ihm wieder seine Tasche wegnehmen würden. Sie, das sind drei seiner Klassenkameraden. Angeber, Wichtigtuer, Mobber.

Anfangs hat Ali noch versucht, sich zu wehren. Doch sie waren zu Dritt, und sie hatten Messer. "Ich habe einfach Angst gehabt", sagt der 15-Jährige. Seinen Eltern - die Mutter ist Deutsche, der Vater Türke - hat er nichts davon erzählt. "Das hätte den Ruf der Familie geschädigt." Außerdem war der Vater sowieso kaum zu Hause, ebenso wenig wie die Mutter. Sie ist mit der Suche nach einer Arbeitsstelle beschäftigt gewesen. Und die Lehrer? "Die haben nichts mitbekommen."

Schließlich ist Ali einfach nicht mehr hingegangen. Statt zu lernen hat er sich vormittags in Kaufhäusern oder auf Spielplätzen rumgedrückt. Bis der Anruf von der Schule kam.

Auch der Neubeginn an einer anderen Hauptschule scheiterte: "Ich war wieder Außenseiter." Die Schikanen ähnelten sich. "Fettes Schwein", "Esel" war noch das harmloseste, was er sich anhören musste. Also ging er auch dort nicht mehr hin.

Heute lernt Ali in einem Schwänzerprojekt, dass Schule auch ohne Angst funktionieren kann. Doch das Vertrauen wächst nur langsam. Seine Gefühle von damals hat er sich in Hip-Hop-Texten von der Seele geschrieben: "Wenn ich zur Schule gehe sind meine Gefühle unter der Gürtellinie, scheiß drauf, was ich später verdiene." Und er träumt davon, dass "die drei, die mich schikaniert haben, auch mal erfahren, was mobben ist." Die 15-jährige Anja weiß, was Ali durchgemacht hat. Ihr ist es ähnlich ergangen. Auch sie hat die Schule geschmissen, fast ein Jahr blieb die Hauptschülerin weg. "Mir war das alles zuviel mit der Gewalt." Weil sie nicht zusehen konnte, wie ihre Freundin gemobbt wurde, kam sie ins Visier einer Mädchengang. Sie wurde verprügelt. An ihrer Tür zu Hause prangte die Drohung: "Wir machen Dich fertig." Dass das keine leeren Drohungen sind, hat sie bei einem ihrer Freunde erlebt: "Mit 30 Leuten haben sie auf ihn eingetreten." Das Ganze geschah außerhalb des Schulgeländes. Aber auch auf dem Pausenhof werde bedroht erpresst und geprügelt, sagt Anja. "Und die meisten Lehrer sehen weg."

 

 

Freitag, 28. November 2003

 

Am Ort des Grauens stand ein Hochsitz für die Wildschweinjagd

Leipzig. "In der DDR", erklärt Kurt Goldstein, "haben wir den Fehler gemacht, uns wie Helden auf ein Podest stellen zu lassen." Ja, meint auch Volkhard Knigge, im Osten sei der kommunistische Widerstandskampf "überheroisiert" worden. Von "hohlem Pathos" spricht er, von jungen Menschen, die das nicht mehr hören wollten, "weil sie es lernen mussten wie im Konfirmandenunterricht".

Unsere Zeitung, der Deutschlandfunk und das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig haben am vergangenen Mittwoch erneut zu "Geschichte im Ost-West-Dialog" eingeladen. Es ist ein Abend der nachdenklichen Töne, und die spannende Diskussion geht weiter, als die Radiomikrofone längst abgeschaltet sind. Kurt Goldstein, 89, kam als Jude und Kommunist nach Auschwitz und Buchenwald, wurde später Rundfunkintendant der "Stimme der DDR". Volkhard Knigge, vier Jahrzehnte jünger, stammt aus dem Westen, leitet die Gedenkstätte Buchenwald. Er erzählt vom anfänglichen Unter-den-Teppich-Kehren in der Bundesrepublik, von der später einsetzenden Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bis in viele Familien hinein. "Das mussten wir uns erkämpfen", sagt er.

Die Frage nach den "totalitären Strukturen in der eigenen Gesellschaft" habe im Antifaschismus der DDR gefehlt, so wie der Tod in den KZ nur als Randthema ins kämpferische Geschichtsbild passen wollte. 1994 fand Knigge im Kleinen Lager von Buchenwald, jenem Bereich, in dem die meisten Kranken und Entkräfteten gestorben waren, einen Hochsitz für die Wildschweinjagd. Ein Stacheldrahtzaun, abgezweigt beim Grenzausbau, trennte ihn von der Gedenkstätte. "Ein kleines Geschäft zwischen den Parteisekretären von Erfurt und Suhl - der in Suhl saß näher an der innerdeutschen Grenze."

Mit Blick auf die Zukunft zeigt sich Kurt Goldstein zuversichtlich, kommt auf die ZDF-Suche nach den besten Deutschen zu sprechen. Die Geschwister Scholl als Widerstandskämpfer seien unter die ersten zehn gekommen, ebenso die Juden Einstein und Marx. Das, so Goldstein, sei Gradmesser dafür, "was sich in breiten Kreisen unserer Bevölkerung zum Guten verändert hat". Ihn habe der Antisemitismus sein "ganzes Leben lang begleitet - bis zu Herrn Hohmann. Es wird eine Zeit brauchen, um den Antisemitismus ganz zu überwinden." Als "Volk der Mörder" sieht Kurt Goldstein die Deutschen nicht. Schließlich hätten nicht alle auf Seiten der Nazis gestanden, erklärt er und führt sich auch selbst ins Feld. "Ich habe mich immer als Deutscher gefühlt."

Armin Görtz

 

 

Freitag, 28. November 2003

 

„Na klar bin ich rechtsradikal“
Warum viele Bernsdorfer mittags einen großen Bogen um die Mittelschule machen

Bernsdorf. Mittags machen viele Bernsdorfer einen großen Bogen um ihre Mittelschule. Der Grund: Seit langem triff sich vor den Toren der Schule eine Gruppe Jugendlicher in Bomberjacken und Springerstiefeln, die ihre Gesinnung nicht versteckt. „Na klar bin ich rechtsradikal“, sagt der junge Mann. Er senkt den Blick nicht. Es ist ihm auch nicht peinlich. Er steht zu seiner Meinung – breitbeinig in Springerstiefeln und mit „White Power“-Aufnäher auf der Bomberjacke. Mindestens seit dem Frühling sind die Älteren der Gruppe pünktlich zum Schulschluss da. Ein paar Mädchen aus der 8. Klasse haben sich wohl in die älteren Jungs verliebt, vermutet die Schulleitung. Die Jungs aber, die deutlich in der Mehrzahl sind, fühlen sich aus anderen Gründen zu den Älteren mit kurzen Haaren und Bomberjacken hingezogen: Der „Hass“ auf die Russlanddeutschen aus dem Wiednitzer Heim verbindet sie. Die Russen würden bevorzugt, sie seien arrogant, würden deutsche Mädchen anmachen und nur russisch sprechen, erklärt die Gruppe vor dem Schulhaus ihre Abneigung. „Solche gehören nicht in unsere Schule. Sie gehören nicht nach Deutschland“, sagen sie. Und Schlimmeres.

Dass diese Wut sich entlädt, liegt nahe. Prügeleien auf dem Schulgelände, von denen fremde Augenzeugen berichten, bestreitet die Gruppe. Außerhalb der Schule sieht das anders aus. Das gebe sie zu. Offenbar stehen sich beide Parteien aber in nichts nach. So erzählen die Jungs, dass vier von ihnen vorvergangenes Wochenende nachts von 30 Russlanddeutschen abgepasst und durch Bernsdorf gehetzt wurden. Von offizieller Seite werden die Verfolgungen und Prügeleien nicht bestätigt. Trotzdem ist das prinzipielle Problem bekannt. „Solange sich die Jugendlichen nicht gegen Bestimmungen, Verordnungen und Gesetze vergehen, haben sie das Recht, sich im öffentlichen Verkehrsraum zu bewegen“, sagt Bürgermeister Eberhard Menzel (PDS-Mandat). Genauso sieht das die Schulleitung. Ungeachtet dessen versucht sie mit Projekten gegen rechte Gesinnung und Aufklärung den Anfängen zu wehren.

„Ich finde es einen Skandal, dass da nicht eingeschritten wird“, sagt Pfarrerin Angelika Scholte-Reh. Niemand sei präsent, niemand fahre das Gewaltpotenzial runter. Das Problem werde ignoriert. Deshalb schlägt sie vor, dass Streetworker engagiert werden. In den nächsten Tagen soll auch dieser Vorschlag diskutiert werden. (TM)

 

 

 

Freitag, 28. November 2003

 

ZUR PERSON

Ingrid Häußler · Die Oberbürgermeisterin von Halle hat die Einwohner der Stadt aufgerufen, die Wehrmachtsausstellung zu unterstützen. Die Bürger sollten dem Demonstrationsaufruf der "Halleschen Initiative Zivilcourage" für Samstag folgen und gegen einen für denselben Tag geplanten Aufmarsch von Neonazis protestieren, heißt es in einem Schreiben der SPD-Politikerin. Zu der vor gut zwei Wochen in Halle eröffneten Wehrmachtsausstellung sind nach Angaben der Polizei für Samstag fünf Demonstrationen angemeldet. epd

 

 

 

Freitag, 28. November 2003

Thüringen

Feine Risse im Fundament

In Thüringen wächst die Demokratie-Verdrossenheit. Jeder Fünfte hätte nichts gegen eine Diktatur

Von Liane von Billerbeck

Es klingt nach einer guten Nachricht: Die Demokratie steht in Thüringen hoch im Kurs – jedenfalls bei den 18- bis 24-Jährigen. Zu diesem Befund kommt der Thüringen-Monitor, eine Untersuchung, die Politikwissenschaftler der Friedrich-Schiller-Universität Jena jetzt zum vierten Mal im Auftrag der thüringischen Landesregierung durchgeführt haben. Seit 2000 befragen sie jedes Jahr 1000 Wahlberechtigte nach ihren Einstellungen zur Politik im Allgemeinen und zu einem Schwerpunktthema. In den Vorjahren ging es um Rechtsextremismus, die politischen Ansichten Jugendlicher und die Rolle der Familie. In diesem Jahr wollten die Forscher wissen, wie es die Thüringer mit der Demokratie halten.

Der erste Eindruck, durch die Anworten der 18- bis 24-Jährigen erweckt, wird schnell relativiert. Denn ein großer Teil dieser Altersgruppe wird dem ostdeutschen Bundesland verloren gehen, wenn sich die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht deutlich bessern. Und danach sieht es nicht aus. Experten sagen voraus, dass der Anteil Ostdeutschlands an allen Arbeitsplätzen in Deutschland weiter zurückgehen wird. Keine guten Aussichten. Die Folge: Fast jeder zweite junge Thüringer (47,5 Prozent) hält es für sicher oder für wahrscheinlich, dass er weggehen wird, um anderswo Arbeit oder Ausbildung zu finden. Thüringen würde damit genau die Generation verlieren, die die Demokratie stärken könnte.

Denn unter den 1000 Befragten des Thüringen-Monitors schätzen zwar etwa 80 Prozent grundsätzlich die Demokratie als Staatsform, ihr Demokratieverständnis ist aber noch immer mehrheitlich durch die DDR-Herkunft geprägt. Ein Ergebnis, dass Umfragen in anderen ostdeutschen Bundesländern bestätigen und das daher durchaus als repräsentativ gelten darf.

Das Urteil über die DDR fällt mit dem zeitlichen Abstand offenbar immer günstiger aus: 58Prozent der Befragten geben an, dass sie das Land ihrer Vergangenheit heute in eher rosigem Licht sehen – vor einem Jahr waren es noch deutlich weniger (48 Prozent). Vor allem Ältere, Frauen, Menschen ohne Abitur und Arbeitslose äußern sich zunehmend positiv über die DDR.

Die Zufriedenheit mit der real existierenden Demokratie hat sich dagegen weiter verschlechtert: Nur noch 33,5 Prozent sind mit der Staatsform so, wie sie sie erleben, zufrieden (2002: 37,5 Prozent), 45,6 Prozent sind unzufrieden (2002: 42,2 Prozent). Pluralismus und das Austragen politischer Differenzen gelten in Thüringen nicht gerade als Tugend, man schätzt in den neuen Ländern die Einmütigkeit. Drei Viertel der Befragten sehen die Aufgabe der Opposition vor allem darin, dass sie die Regierung unterstützt. Dass „Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Interessengruppen in unserer Gesellschaft dem Allgemeinwohl schaden“, glauben fast zwei Drittel.

Rechtsstaatlichkeit als Wert rangiert hingegen weit hinter der Verbrechensbekämpfung. Nur etwas weniger als 40 Prozent halten sie für eine Säule der Demokratie. Jeder Vierte liebäugelt gar mit der Rückkkehr zur „sozialistischen Ordnung“. Unter den rechtsextrem Eingestellten (23 Prozent der Befragten) ist es fast jeder Zweite. Diesen scheinbaren Widerspruch – die DDR, die sich als antifaschistischer Staat sah und heute trotzdem die Zuneigung der Rechtsextremen genießt – erklären die Jenaer Forscher damit, dass beides „gedankliche Gegenwelten zu einem in seinen Grundsätzen abgelehnten System“ seien. Jeder Fünfte kann sich inzwischen auch eine Diktatur vorstellen. 19,7 Prozent der Thüringer meinen, dass sie „im nationalen Interesse“ besser als die bestehende Demokratie sei. Es gehe jetzt darum, hart und energisch „deutsche Interessen gegenüber dem Ausland zu vertreten“. Solche nationalistischen Auffassungen haben im Vergleich zum Vorjahr zugenommen. Dazu passen die Einstellungen gegenüber Ausländern. Mehr als die Hälfte der Thüringer fürchten, dass die Bundesrepublik „durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maße überfremdet wird“ – obwohl der Ausländeranteil in Thüringen gerade mal 1,9 Prozent beträgt. Offenbar, so die Jenaer Forscher, sind es die „beschlossenen massiven Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme“, die „einen geeigneten Nährboden für eine sozio-ökonomisch motivierte Ausländerfeindlichkeit“ bieten. Erstmals seit Beginn der Umfrage vor vier Jahren schätzen die Thüringer ihre persönliche finanzielle Lage als schlechter ein. Das Gefühl, als Ostdeutsche für zweitklassig gehalten zu werden, nahm in allen Altersgruppen zu.

Nicht Rechtsstaatlichkeit oder Freiheit sind die Werte, nach denen die Demokratie beurteilt wird. Wie in allen neuen Bundesländern wird ihr Erfolg vor allem an den Leistungen des Sozialstaates gemessen. „Eine Demokratie, die große soziale Ungleichheit zulässt, ist eigentlich keine Demokratie mehr“, meinen immerhin 86,8 Prozent der Befragten.

Fazit: Die „feinen Risse im Verfassungsfundament“, schon im Vorjahr diagnostiziert, „haben sich verbreitert“.

 

 

Freitag, 28. November 2003

Stefan Wogawa, Erfurt

 

»Reaktivierung nicht auszuschließen«

 

Polizeiaktion in Thüringen: Propagandamaterial von »Blood & Honour« sichergestellt

 

Bei einer Polizeiaktion gegen die Neonaziszene wurde am Dienstag in Thüringen Propagandamaterial der verbotenen Vereinigung »Blood & Honour Deutschland« sichergestellt. In Gera, Erfurt und Gotha durchsuchten mehr als 100 Polizeibeamte die Wohnungen von 19 Verdächtigen. Dabei fanden sie Schriftstücke, Daten- und Tonträger, darunter CDs mit indiziertem Inhalt, sowie Gewehrmunition und nach dem neuen Waffengesetz verbotene Butterfly-Messer. Auch in Sachsen-Anhalt und Niedersachsen wurden die Wohnungen von zwei Verdächtigen durchsucht. Es werde wegen des Verdachts der Produktion und des Vertriebs von Tonträgern mit rechtsextremistischem und volksverhetzendem Inhalt ermittelt, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Festgenommen wurde niemand.

Die in Großbritannien entstandene neonazistische Bewegung »Blood & Honour« war seit 1995 in Deutschland aktiv. Sie veranstaltete vor allem Konzerte, bei denen sie die Besucher in ihrem Sinne beeinflußte. Im November 2000 wurde sie verboten (siehe zum Thema auch jW vom 26.11.). Antifaschistische Initiativen machen seit langem auf das personelle und organisatorische Fortbestehen von »Blood & Honour« aufmerksam.

Im aktuellen Verfassungsschutzbericht des Freistaats wird erstmals darauf hingewiesen, daß »Reaktivierungsbestrebungen« der Vereinigung nicht auszuschließen seien. Die Landesregierung hatte auf parlamentarische Anfragen der Opposition dagegen stets geantwortet, ihr lägen keine Erkenntnisse vor.

 

 

 

Freitag, 28. November 2003

Thomas Rothschild

Alles in Butter?

REFLEXIONZu Martin Hohmann und dem Problem, das er hinterlässt

Nun hat die CDU/CSU-Fraktion des Bundestags Martin Hohmann also ausgeschlossen. Alles in Butter.

Alles in Butter? Ist damit auch nur ein Problem gelöst? Außer vielleicht einem Problem der Hygiene - für die CDU/CSU-Fraktion? Das aber betrifft nur die Mitglieder der Fraktion, allenfalls die CDU/CSU-Wähler. Was kümmert uns Andere der innere Zustand einer Partei, deren Politik wir, mit oder ohne Hohmann, für falsch halten? Da hat Angela Merkel für ihren Antrag weniger Zustimmung erhalten, als von ihr und ihren Anhängern erhofft, und schon spekuliert die Welt, ob das ein Misstrauensbeweis gegen die Parteivorsitzende, der Anfang ihres Endes sei. Schön und gut. Erstaunlich bleibt nur, wie sehr sich die Repräsentanten jener Parteien, von denen man mit größerem oder geringerem Recht annehmen darf, dass sie in Opposition zur CDU stehen, Sorgen machen um die gebeutelte Dame, wann immer sie innerhalb ihrer eigenen Partei oder bei der CSU auf Widerstand stößt. Als wäre das kleinere Übel nicht immer noch ein Übel.

Dieser kaum verhohlenen Sympathie über die Parteigrenzen hinaus steht die Bereitschaft gegenüber, dem politischen Gegner stets verdächtige Motive zuzutrauen oder gar zu unterstellen, wenn es gilt, die eigene Position vorteilhaft zu profilieren. Mit ein wenig gutem Willen könnte man es für denkbar halten, dass sich zumindest einige Gegner des Fraktions- und des wohl bevorstehenden Parteiausschlusses von der Überlegung leiten ließen, dass die haarsträubenden Ansichten eines Hohmann innerhalb der Partei zu neutralisieren wären, während sie eine nicht kontrollierbare Gewalt erlangen könnten, wenn Hohmann nun wegen seines Ausschlusses zum Märtyrer wird. Dies erschiene ja, wenn man über politische Wirkung und nicht nur über Hygiene nachdenkt, immerhin als eine mögliche Erwägung.

Machen wir uns nichts vor. In der CDU gibt es, wie auch in den anderen Parteien, bis in die obersten Ränge Menschen mit antisemitischen, nationalistischen, chauvinistischen oder extrem reaktionären Einstellungen. Auch Sozialdemokraten werden nicht müde, sich an jene ranzuschmeißen, die darauf stolz sein wollen, dass sie Deutsche sind. Was aber bedeutet das? Was hieße es, wenn jemand von sich sagte: "Ich bin stolz darauf, ein Mann zu sein." Doch offensichtlich, dass er froh ist, keine Frau zu sein. Wer auf etwas stolz ist, wozu er nichts beigetragen hat, impliziert die Minderwertigkeit der Alternativen. Wer darauf stolz sein will, dass er Deutscher ist, sagt damit, dass er sich freut, kein Türke, Russe oder Eskimo zu sein. Warum nur? Hohmanns Herzensergießungen sind die konsequente Weiterführung der Aufwertung nationalistischen Fühlens und Denkens, die alle Parteien nach 1989 betrieben - und diese Folge war vorhersehbar. Robert Jungk warnte bereits vor Jahren vor einer "Napoleonisierung Hitlers". Hohmann weist den Weg dorthin über eine vorläufige Hitlerisierung Napoleons.

Dennoch: die politische Klasse in Deutschland und übrigens auch die kommentierende Zunft der Journalisten ist im Schnitt (also nicht in jeder einzelnen Person!) sensibler gegenüber antisemitischen und nationalsozialistischen Relikten als die Gesamtheit der Bevölkerung - und sei es aus Kalkül, weil sie die Reaktionen im Ausland genauer beobachtet. Wer wissen will, wie die Mehrheit des von allen Seiten umworbenen "Volkes" denkt, studiere die Leserbriefe und die anonymen Umfragen zu Hohmann. Die 21 Prozent, die in der CDU/CSU-Fraktion dem Antrag von Angela Merkel eine Absage erteilten, wären da eine Traumzahl. Im "Volk" sprechen sich bis zu 90 Prozent für Hohmann aus. Gewiss: aus sehr unterschiedlichen Gründen. Nicht alle, die sich zu Gunsten Hohmanns äußern, teilen seine Ansichten. Viele solidarisieren sich da nur mit einem, dem man, wie es ihnen scheint, den Mund verbietet. Freilich: auch bei diesen kann man nicht davon absehen, was Hohmann vertritt. Es ist ja in den vergangenen Jahren nicht gerade aufgefallen, dass es zu Massenprotesten gekommen wäre, wenn man Linke zum Kuschen brachte. Revolutionärer Eifer für das freie Wort gehört nicht gerade zu den hervorstechenden Merkmalen der jüngeren deutschen Geschichte.

Hier aber liegt das Problem: im subjektiven Gefühl eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung, dass man hierzulande bestimmte Ansichten nicht äußern dürfe, die Hohmann stellvertretend ausgesprochen habe. Nicht ein Hohmann in der CDU oder im Bundestag ist das Problem, sondern die verbreitete Stimmung unter jenen, die bei den nächsten Wahlen über die Zusammensetzung des Bundestages befinden. Diese Stimmung wurde aber durch den Mehrheitsbeschluss der CDU/CSU-Fraktion eher bestärkt als bekämpft. Kein Problem gelöst. Nix in Butter.

Dächte man an die Lösung des Problems, an politische Wirkung, statt an Hygiene, dann müsste man alles vermeiden, was Hohmann auch nur den Anschein eines zu Unrecht gerügten Opfers verleiht. Man dürfte nicht die Spur einer Evidenz zulassen, dass Hohmann auf Grund eines äußeren Drucks, aus parteipolitischem Opportunismus abgemahnt wurde. Das setzte freilich eine genaue kritische Analyse seiner Rede voraus, und die kann die CDU nicht leisten. Sie müsste dafür über ihren eigenen Schatten springen. Denn die Rede enthält jenseits der überall zitierten Passagen eine ganze Reihe von Implikationen, die auf den Konsens nicht nur der CDU, sondern der im westlichen Nachkriegsdeutschland stabilisierten öffentlichen Meinung treffen. Hohmanns Rede ist äußerst raffiniert komponiert - und insofern sind die Entschuldigungsversuche des Autors in der Tat bloße Rhetorik, die den Anhängern augenzwinkernd signalisieren sollte: man hat mich zu dieser Geste gezwungen. Nichts in dieser Rede ist Hohmann unterlaufen. Nichts daran ist ein Versehen.

Der Legende von Hohmann als Märtyrer leistet es leider auch Vorschub, wenn man ihn um eines Effekts willen oder aus Schlamperei falsch zitiert. Hohmann hat die Juden nicht als "Tätervolk" bezeichnet. Seine Argumentationskette ist weitaus infamer. Er setzt an mit der unbewiesenen Behauptung, dass "trotz der allseitigen Beteuerungen, dass es Kollektivschuld nicht gebe", im Kern der Vorwurf bleibe: "die Deutschen sind das ›Tätervolk‹". Bemerkenswert ist neben der puren Ausspielung einer Unterstellung gegen die "allseitigen Beteuerungen" der bestimmte Artikel. Bereits hier wird den Deutschen eine angeblich von außen zugeschriebene negative Einmaligkeit attestiert, die natürlich im Weiteren zurückgewiesen werden soll.

Nach einem längeren Exkurs kehrt Hohmann zu einer Frage zurück, die er selbst, die Reaktionen vorausahnend und einkalkulierend, als "provozierend" bezeichnet: "Gibt es auch beim jüdischen Volk, das wir ausschließlich in der Opferrolle wahrnehmen, eine dunkle Seite in der neueren Geschichte oder waren Juden ausschließlich die Opfer, die Leidtragenden." Wieder der beiläufige bestimmte Artikel. Wo Deutsche und Juden einander gegenüber gestellt werden sollen, kommen Armenier und Kurden, Vietnamesen und Bosnier nicht vor.

Wiederum nach einer längeren Passage, welche, mit Berufung auf Thesen von Johannes Rogalla von Bieberstein und von Henry Ford, die nach Hohmanns eigenen (und zutreffenden) Worten "für unsere Ohren der NS-Propaganda vom ›jüdischen Bolschewismus‹ ähneln", den Anteil von Juden an revolutionären Bewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts berechnet, kommt Hohmann zu dem Schluss, man könne "mit einer gewissen Berechtigung ... nach der ›Täterschaft‹ der Juden fragen", die "Juden mit einiger Berechtigung als ›Tätervolk‹ bezeichnen". Das würde "der gleichen Logik folgen, mit der man Deutsche als Tätervolk bezeichnet" - was "man" zwar nicht tut, was aber Hohmann zuvor suggeriert hat, um jetzt die übereinstimmende Logik behaupten zu können. Und nun folgt die geschickte rhetorische Volte. In Wirklichkeit seien weder "die Deutschen" noch "die Juden" ein Tätervolk. Beide Kollektive haben für Hohmann den gleichen Status. Darauf läuft es hinaus. Wer behauptet, Hohmann habe die Juden als "Tätervolk" qualifiziert, lügt und setzt den Redner mit seinen durchaus skandalösen Thesen scheinbar ins Recht.

Dass weder "die Juden", noch "die Deutschen" ein Tätervolk seien, leitet Hohmann mit einem "daher" aus dem Befund ab, dass "die Juden, die sich dem Bolschewismus und der Revolution verschrieben hatten, ... zuvor ihre religiösen Bindungen gekappt" hatten, wie auch die meisten Nationalsozialisten ihre christliche Religion abgelegt hätten und "zu Feinden der christlichen und der jüdischen Religion geworden" seien. Die Gottlosen seien das wahre Tätervolk des vergangenen Jahrhunderts. Kein Wort vom bis heute geltenden Konkordat zwischen Hitler und dem Vatikan, kein Wort von der Hilfe der katholischen Kirche bei der Flucht führender Nationalsozialisten vor den Alliierten.

Aber niemand hat sich nach Bekanntwerden von Hohmanns Rede über die Kriminalisierung von Agnostikern empört. Der begründete Verdacht von Antisemitismus führte letzten Endes zum Ausschluss aus der Fraktion. Die Denunziation von "Gottlosen" als "Tätervolk" bleibt ungerügt. Schließlich beruft sich auch die "christlich-jüdische Versöhnung" auf die gemeinsamen religiösen Wurzeln. Für die Erben der Aufklärung, für die Verfechter der Vernunft, seien sie christlicher oder jüdischer Herkunft, gibt es da keine Chance. Ihnen kann man alles zutrauen. Sie können sich, in Hohmanns Worten, "souverän über das göttliche Gebot ›Du sollst nicht morden‹ hinwegsetzen". Gläubige haben da, wie uns die Geschichte von den Kreuzzügen bis zu Irland und Israel belehrt, sehr viel größere Hemmungen.

Den deutschen Außenminister erregte an Hohmanns Rede am meisten, dass er die Juden den Deutschen gegenüberstelle, deutsche Juden somit nicht als Deutsche betrachte. Dass es die Unterscheidung zwischen deutschen Christen und Juden nicht geben soll, ist gut gemeint, bleibt aber ein frommer Wunsch, jedenfalls im gegebenen Zusammenhang. Juden hatten nun mal nicht die gleiche Chance wie andere Deutsche, KZ-Aufseher zu werden, aus Gründen, die auch Frauen die Chancengleichheit bei der Begehung von Kriegsverbrechen vorenthalten. Weder die Juden, noch die Frauen sind bessere Menschen, aber ihre Diskriminierung wirkt - tatsächlich und im Bewusstsein der Nachkommen - weiter, über mehr als eine oder zwei Generationen. Doch abgesehen davon: wo bleibt Joschka Fischers gerechter Zorn, wenn der deutschjüdische Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr, Michael Wolffsohn, in der Zeitschrift des Bundestages ein kollektives "Wir", das "die Juden" bezeichnet, der "deutschen Öffentlichkeit" gegenüberstellt, wenn er sich "als Teil des ›Jüdischen Volkes‹" unter Deutschen, die gegen den Irak-Krieg der USA sind, in der "Inneren Emigration" fühlt, also ebenso wie die Gegner der Nationalsozialisten, die während des Dritten Reichs in Deutschland geblieben waren?

Juden wissen genau wie Farbige, Türken oder Rollstuhlfahrer, dass sie als "anders" wahrgenommen werden und dass dieses "Andere" meist negativ besetzt ist. Diese Tatsache wegzuretuschieren wäre der gleiche verhängnisvolle Fehler wie die Leugnung der Zustimmung, die Hohmann bei vielen Deutschen erfährt. Hohmanns "Leitspruch" - "Gerechtigkeit für Deutschland, Gerechtigkeit für Deutsche" - hat, wenn man ihn nur einen Augenblick nüchtern betrachtet, keinerlei Grundlage in der politischen Realität. Deutschland und die Deutschen sind in der Welt geachtet wie kaum je zuvor in der Geschichte. Aber er stößt auf ominöse Ressentiments, wenn ausgerechnet die Juden als Erste nach dem Ausschluss Hohmanns aus Fraktion und Partei rufen. Ob dieser Ausschluss zielführend war und bleiben wird, muss die CDU entscheiden. Wenn Juden Hohmanns tatsächlichen Anhängern in der Fraktion dienen und dazu beitragen wollen, dass er als Opfer erscheint, dann mögen sie sich lautstark zu Wort melden. Gegen Dummheit ist auch bei Juden kein Kraut gewachsen.

Weniger Rhetorik, weniger Hygiene, ernsthaftere Auseinandersetzung und vor allem: Reflexion über die Wirkung bei jenen, die man erst überzeugen muss - das wäre eine Perspektive. Damit hätten wir, die wir nicht der CDU/CSU angehören, ein paar Probleme weniger.