Montag, 19. Januar 2004

Denken, singen und schreiben gegen Rechts

Heute Abend werden die Arbeiten aus dem Wettbewerb "denkmal" im Abgeordnetenhaus prämiert

Neele Illner 15 Jahre

Einmal im Jahr haben Schüler Gelegenheit ihr Engagement gegen Rechtsextremismus zu zeigen. Für den Wettbewerb "denkmal", haben Schüler von Berliner Schulen sich mit dem Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkrieges, aber auch mit Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in unser heutigen Gesellschaft auseinander gesetzt. Der Wettbewerb wurde vom Abgeordnetenhaus, anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Holocausts am 27. Januar, ausgerufen und wird von der Berliner Zeitung unterstützt. Sein Ziel ist es, das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu steigern, sie zu sensibilisieren und so einer Wiederholung der Schrecken des Dritten Reiches vorzubeugen.

Die Ergebnisse des Wettbewerbs werden heute Abend im Berliner Abgeordnetenhaus präsentiert. Im Rahmen der Kategorie "machmal" halfen Schüler der Knobelsdorff-Schule bei der Restauration der Gedenkstätte Mauthausen, eine Klasse der Königin-Luise-Stiftung führte Gespräche mit Zeitzeugen, andere forschten nach Schicksalen der Opfer der NS-Zeit.

Schüler der zehnten Klasse der Gustav-Freytag-Oberschule pflegten das Rosenbeet des Mahnmals für die Opfer von Gewaltherrschaft am Rathaus Reinickendorf. Es erinnert an die Vernichtung von Lidice, eines tschechischen Dorfes, das die Schüler für ihr Projekt auch besucht haben. Eine Gruppe Jugendlicher aus sieben Nationen realisierte unter professioneller Leitung ein Theaterstück über die Lage der ehemaligen Ost-Zwangsarbeiter.

In der Kategorie "schreibmal" verfassten Schüler zum großen Teil fiktive, aber auch auf wahren Begebenheiten beruhende Texte und Gedichte, in denen sie die Geschichte aufarbeiten und nach Gründen für den heutigen Fremdenhass Rechtsextremer suchen. Die besten Texte werden kommende Woche auf dieser Seite veröffentlicht. Sechs Gruppen haben sich in diesem Jahr im Bereich "singmal" engagiert - mit Musik, Liedern und Hörspielen zum Thema.

Heute ab 17 Uhr stehen die Türen des Abgeordnetenhauses für alle Interessierten offen. In einer Ausstellung können die Besucher die eingereichten Projektarbeiten sehen und mit den Schüler diskutieren. Um 18 Uhr finden die Abschlussveranstaltung und die Preisverleihung statt. Dort werden Projekte vorgestellt, Texte gelesen, Filme gezeigt, es wird musiziert und gesungen. Gewonnen haben alle, die beim Wettbewerb mitmachten. Henriette Hübner vom John-Lennon-Gymnasium und eine Schülergruppe vom OSZ Druck- und Medientechnik haben mit ihren Textbeiträgen außerdem einen Sonderpreis gewonnen - ein Praktikum in der Redaktion der Berliner Zeitung.

 

 

Montag, 19. Januar 2004

Ausgezeichnete Projekte

Die Ergebnisse aus dem Wettbewerb "denkmal" sind von Montag bis zum 27. Januar wochentags von 9 bis 18 Uhr im Casino des Abgeordnetenhauses zu sehen; Abgeordnetenhaus, Niederkirchnerstr. 5, Mitte.

Zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar erscheint kommenden Montag eine Jugend-und-Schule-Sonderseite mit den Gewinnertexten aus der Wettbewerbskategorie "schreibmal".

Heute findet im Abgeornetenhaus ab 18 Uhr die Abschlussveranstaltung und Preisverleihung von "denkmal" statt.

Alle Projekte im Internet unter:

www.denkmal-berlin.de

 

 

Montag, 19. Januar 2004

Bänke, Bäume, Banden

Uwe Aulich

Wer im Beusselkiez wohnt, muss hart im Nehmen sein. "Ich fühle mich oft bedroht", sagt die Frau hinterm Tresen des Nachbarschaftstreffs in der Rostocker Straße 32. Angst habe sie manchmal, denn seit dem Sommer wurde schon vier Mal eingebrochen. Deshalb will sie ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. Zumal die Jugendlichen in dem Kiez sehr aggressiv seien, vor allem die ausländischen. "Es gibt zwei Gangs - in der einen sind 9- bis 12-Jährige, in der anderen 15- bis 17-Jährige", sagt die Frau. Immer wieder seien sie in den Treff gekommen, hätten Gäste angepöbelt, die Einrichtung demoliert und Geld gestohlen. "Am Besten, man lässt sie einfach tun, dann gehen sie irgendwann wieder."

Der Beusselkiez ist nicht erst ein sozialer Brennpunkt, seit Innensenator Ehrhart Körting (SPD) ihn vor einer Woche als Problemkiez eingestuft hat. Rund 12 500 Menschen leben dort, gut 36 Prozent haben keinen deutschen Pass. Jeder vierte Bewohner ist ohne Job. Die arabisch- oder türkischsprachigen Bewohner bleiben unter sich: Sie brauchen mittlerweile kein Deutsch mehr für das Leben im Kiez. Längst haben sie eigene Geschäfte - Supermärkte, Obst- und Gemüseläden und Reisebüros. Deshalb hat der Senat im Beusselkiez schon vor fünf Jahren Quartiersmanager eingesetzt. "Das Zusammenleben der Nationalitäten ist noch immer nicht so, wie wir uns das wünschen", sagt Quartiersmanagerin Susanne Sander.

Wie die Quartiersmanagerin weiß auch Abdallah Hajjir vom deutsch-arabischen Verein "Haus der Weisheit" angeblich nichts von Bandenkriminalität im Beusselkiez. Der Verein gibt Deutschkurse für Araber, aber auch Deutsche informieren sich dort über Kultur und Religion oder lernen Arabisch. "Natürlich gibt es Streitereien zwischen Nachbarn, Auslöser sind meist Missverständnisse. Und Disziplin, Ordnung und Sauberkeit sind für viele Fremdwörter", sagt Hajjir. Freizeitstätten für Jugendliche würden fehlen - und Treffpunkte. Dabei hat sich in dem Kiez schon viel getan: Drei Spielplätze sind neu entstanden, nach den Wünschen von Kindern und Eltern. Kreuzungen wurden so umgebaut, dass ältere Menschen besser über die Straße kommen. Bäume wurden gepflanzt, Bänke aufgestellt. Alles nur Äußerlichkeiten. Die Probleme zwischen den Menschen aber sind geblieben.

"Auf den neuen Bänken hat doch eine deutsche Oma gar keinen Platz, wenn sie vom Penny-Markt kommt und sich ausruhen will. Entweder sitzen da die Alkoholiker oder die Ausländer", sagt ein Mann, der an der Theke im Musik-Café sitzt. Zwar betonen die Deutschen in der Kneipe, sie seien nicht ausländerfeindlich, aber in vielen Worten ist die tiefe Abneigung gegen ihre türkischen und arabischen Nachbarn zu spüren: "Die dürfen doch alles. Die Senatsheinis sollten hier mal herziehen", sagt ein Mann.

Sylvia Bänsch aus der Ufnaustraße ist in dem Kiez aufgewachsen. "Früher gab es auch einen hohen Ausländeranteil. Aber wir haben miteinander Fußball gespielt und man konnte in Moabit richtig schick tanzen gehen", sagt sie. Heute sei das undenkbar. "Die Kriminalität hier ist heftig, ständig Prügeleien. Und wenn man was sagt, kriegt man ,Willst Du was auf die Schnauze als Antwort", sagt Sylvia Bänsch. Im Beusselkiez fühlt sie sich nicht mehr zu Hause. Sogar die neuen Spielplätze meidet sie mit ihrem kleinen Sohn. Denn oft liegen im Sand die Scherben von Bierflaschen, "die die Penner einfach dort zertöppert haben". Das stört auch Liane Kharroubi, "aber so schlimm ist die Ecke hier gar nicht". Vor einigen Jahren zog sie aus Frankfurt (Oder) her, sie ist mit einem Libanesen verheiratet. "Mittlerweile sieht es mein Mann aber kritisch, wenn seine Landsleute den Müll einfach auf die Straße schmeißen."

Wenn es nur um Sauberkeit und den Hundekot auf den Straßen ginge, wäre Susanne Sander froh. "Wir wollen an die ausländischen Familien herankommen. Wir besuchen sie zu Hause, um sie für Deutschkurse zu interessieren. Um ihnen zu sagen, welche Bedeutung eine gute Schulbildung für ihre Kinder hat." Gelingt das nicht, das wissen die Quartiersmanager, wächst eine Generation von Verlierern heran.

 

 

Montag, 19. Januar 2004

Jugendliche werben für Toleranz und Verständigung

Von Uta Keseling

Wenn Ayla früher zu ihren Großeltern nach Westdeutschland fuhr, dann wusste sie: Das wird jetzt wieder schwierig. Auf der einen Seite die intensive Großelternliebe: Als einzige Enkelin stand Ayla natürlich im Mittelpunkt. Auf der anderen Seite diese Feindseligkeit: "Ein Kuckuck nimmt auch keine Dohle als Mann", hatte ihre Großmutter mal gesagt und meinte damit Aylas Eltern - ihr Vater ist deutsch, ihre Mutter türkisch. Das passte überhaupt nicht, meinten die deutschen Großeltern in Herne. Doch ihre Enkelin Ayla lebte in Kreuzberg fand das ganz normal.

Heute ist Ayla Gottschlich 21 Jahre alt, lebt immer noch in Kreuzberg und ist Studentin mit dem Berufswunsch Regisseurin. Ihr erster Film hat ihre eigene Geschichte zum Thema - Ausländerfeindlichkeit in der eigenen Familie. Damit gehört sie zu den Preisträgern des Wettbewerbs "denk!MAL", den das Abgeordnetenhaus Berlin ausgelobt hatte. Heute Abend werden die Teilnehmer mit einer Veranstaltung im Preußischen Landtag geehrt, auf der auch die Sängerin Marianne Rosenberg auftritt.

Anlass des Wettbewerbs ist der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar. Bis zu diesem Tag sind die Arbeiten, Projekte und Filme - darunter auch Aylas Video - im Abgeordnetenhaus zu sehen.

Parlamentspräsident Walter Momper (SPD) hatte die Berliner Jugendlichen aufgerufen, sich in Ausstellungen, Hör- und Theaterspielen, Gedichten und Artikeln sowie musikalisch zu an dem Wettbewerb zu beteiligen. Damit sollten neue und zeitgemäße Formen des Gedenkens entstehen, wie Schüler sich mit den NS-Verbrechen sowie neonazistischen Vorfällen, Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung auseinander setzen können.

Insgesamt haben rund 40 Teilnehmer und Jugendprojekte Beiträge eingereicht - vom Gedicht bis zur Theaterinszenierung. So spürte ein Geschichtskurs der Merian-Oberschule in Köpenick vergessene Gebäude und Plätze auf, wo sich nationalsozialistische Verbrechen gegen jüdische Menschen abgespielt hatten. Sie wandten sich an die Verantwortlichen, damit am ehemaligen jüdischen Friedhof und am ehemaligen Altersheim Gedenktafeln angebracht werden - und stießen auf wohlwollendes Interesse.

Schüler der 12. Klasse des Marzahner Leonard-Bernstein-Gymnasiums erforschten die Geschichte des ehemaligen Zigeunerlagers und befragten Einwohner dazu.

In Friedrichshain legten Schüler "Stolpersteine" zur Erinnerung an 14 jüdische Bewohner, die aus dem Gebäude des heutigen Erich-Fried-Gymnasium deportiert wurden.

Und an der Hector-Peterson-Oberschule ging ein Geschichtskurs der 10. Klasse den Schicksalen deportierter jüdischer Schülerinnen und Schüler sowie Lehrern nach und dokumentierte Kontakte mit deren Nachfahren.

Die Präsentation der Arbeiten ist zu besichtigen zu erleben im Abgeordnetenhaus, Niederkirchnerstraße 5, Berlin-Mitte, Eintritt frei. Eine Kurzbeschreibung aller eingereichten Projekte findet sich auch im Internet.

Denk!Mal

Der Wettbewerb und seine Teilnehmer stellen sich hier vor: www.denkmal-berlin.de

 

 

Sonntag, 18. Januar 2004

Angriff auf Rechtsextremisten

Ein 18-Jähriger ist am Freitag gegen 23.30 Uhr auf dem U-Bahnhof Hellersdorf von zwei Unbekannten zusammengeschlagen worden. Der offenbar zur rechten Szene gehörende Mann trug einen Schal mit der Aufschrift "Nahkampf" und "Taten sprechen mehr als tausend Worte". Die beiden Unbekannten raubten den Schal. Der 18-Jährige erlitt eine Zahnabsplitterung und Schürfwunden im Gesicht.

 

 

Montag, 19. Januar 2004

Landesverband der Schill-Partei zerlegt sich

Beim Parteitag von "PRO/Schill" tritt die Landesvorsitzende Anke Soltkahn zurück, die mit dem Bundeschef Mario Mettbach über Kreuz liegt. Sie fürchtet einen "Reinigungsprozess" und die Öffnung der Chaostruppe für Republikaner

Am rechten Rand des Parteienspektrums läuft in Berlin weiter nichts zusammen. Am Wochenende kam es auf dem Landesparteitag der als Schill-Partei bekannten Partei Rechtsstaatliche Offensive (PRO) zu schweren Verwerfungen. Die Landesvorsitzende Anke Soltkahn legte ihr Amt nieder. Soltkahn ist nicht einverstanden mit dem Kurs des Bundesvorsitzenden Mario Mettbach: Es gehe um "einen Reinigungsprozess, um die Schill-Getreuen aus der Partei zu vertreiben und aus der Schill-Partei eine Mettbach-Partei zu machen", klagte Soltkahn. Mario Mettbach ist Bau- und Verkehrssenator der CDU-FDP-Schill-Koalition in Hamburg. Er hat sich mit dem Parteigründer und ehemaligen Innensenator Ronald Schill überworfen und versucht, diesen aus der Partei zu drängen.

Auch der Geschäftsführer des Berliner Landesverbandes, Dieter Kreutz, legte sein Amt aus Protest gegen Mettbach nieder und trat sogar aus der Partei aus. Laut seinen Angaben haben zehn Parteimitglieder demonstrativ den Saal verlasse, als der Bundesvorsitzende eine Rede hielt. Kreutz: "Es ist einfach nur noch eine Farce."

Nach dem Abgang der Berliner Führung bestimmt Mettbach einen kommissarischen Vorstand, der aus Michael Laschewski, Wolf-Dieter Zupke und Olaf Busch besteht. Eine reguläre Sitzung dieses Gremiums soll im Februar stattfinden. Die abgetretene Landesvorsitzende Soltkahn warf ihren Nachfolgern vor, sie wollten die Partei nach rechts zu den Republikaner öffnen. Mettbach bestritt dies und verteidigte die von ihm eingesetzten Funktionäre: Mehrere Ortsverbände seien "massiv unzufrieden" mit Soltkahn gewesen. Es gebe keinen Streit um eine Öffnung nach Rechts.

In Berlin gründete sich erst 2002 ein Landesverband der Schill-Partei, die 2001 bei der Wahl zur Hamburger Bürgerschaft spektakulär erfolgreich war. Bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl im November 2001 war die Schill-Partei nicht angetreten. Im vergangenen Jahr eröffnete die Partei eine Geschäftsstelle in der Friedrichsruher Straße.

Nach der Entlassung Schills aus dem Hamburger Senat übten sich die Berliner in Solidarität mit dem Namensgeber ihrer Partei. Auch durch die Verwerfungen an der Bundesspitze sahen sie ihren Erfolg nicht gefährdet: "Ein mindestens zweistelliges Ergebnis einfahren", gab Soltkahn damals in einer unfreiwillig komischen Formulierung als Ziel ihres Landesverbandes an.

ROBIN ALEXANDER

 

 

Montag, 19. Januar 2004

NICHT DER OPA IST DAS PROBLEM, SONDERN DIE HALTUNG DES ENKELS

Der seltsame Stolz des Friedrich Merz

Für seinen Opa kann keiner was, auch Friedrich Merz nicht. Was aber einer über seine Vorfahren sagt, wie er sich zu ihnen und ihren Taten stellt, das steht jedem Menschen frei, auch jedem Politiker. Der CDU/CSU-Fraktionsvize hat sich mit seinen extremen Bemerkungen auf einer Parteiversammlung diese Freiheit genommen. Nun muss er damit leben, dass man ihn danach beurteilt.

Nicht über den Privatmann Josef Paul Sauvigny hat Merz gesprochen, nicht über Kindheitserinnerungen an einen möglicherweise netten Opa. Der Politiker Friedrich Merz hat über den Politiker Sauvigny gesprochen, hat ihn als ein Vorbild angeführt - für sich und die CDU in seiner Heimatstadt Brilon im Sauerland. Nicht skeptisch oder gar kritisch hat er an dessen Amtsjahre bis zur Pensionierung auf dem Höhepunkt der Nazizeit 1937 erinnert, sondern unbekümmert stolz.

Was Lokalhistoriker über den Bürgermeister herausgefunden haben, belegt, dass Sauvigny Täter war, nicht Mitläufer: Von Anbeginn der Naziherrschaft hat er "den Führer" öffentlich gepriesen, kurz nach der Machtergreifung ließ er kraft seines Amtes zwei Wege umbenennen in "Adolf-Hitler-" und "Hermann-Göring-Straße", vier Jahre lang regierte er seine Stadt zur Zufriedenheit der NSDAP. Seine erste dokumentierte Rede von 1933 lässt kaum ein NS-Klischee über die frisch zerschlagene Demokratie und die Weimarer Parteien aus.

Ungeachtet dessen führt der Enkel im Jahr 2004 das Erbe des Großvaters an, um gut gelaunt dazu aufzurufen, das angeblich "rote Rathaus" der Stadt "zu stürmen". Merz stellt damit ohne Not einen fatalen Zusammenhang zwischen dem heutigen Kommunalwahlkampf und der NS-Zeit her. 1933 wurden tatsächlich und teilweise gewaltsam "rote Rathäuser" gestürmt. Schon Merz Großvater pries diese "nationale Revolution" der Nazis als "Sturm", der das Land von den "giftigen Dünsten" einer "missverstandenen Freiheit" reinige. Für die Verteidiger der Freiheit von Weimar war da gerade in Dachau das erste KZ eröffnet worden.

Ob Merz Haltung und Handeln seines Großvaters kennt? Von einem Politiker seines Formats kann man das erwarten. Anders als Merz Parteifreund Martin Hohmann - nun wegen Antisemitismus aus der Unionsfraktion ausgeschlossen - ist der frühere Fraktionsvorsitzende nicht Hinterbänkler, sondern sitzt im Reichstag und bei "Sabine Christiansen" stets ganz vorne.

Für seinen Opa kann keiner was. Nicht die NS-Vergangenheit des Großvaters ist darum das Problem, sondern die Haltung des Enkels. Der Fall Merz zeigt, dass man selbst nach allen NS-Debatten der letzten Jahre noch irritierend gleichgültig gegenüber der deutschen Geschichte sein kann. Dass Merz sich mutmaßlich zu Unrecht kritisiert glaubt, dass er seine Verweise auf die Erfolge des Großvaters für arglos hält, dass er im Treuebekenntnis zu seinem Vorfahr gar eine Tugend sehen mag, glaubt man ihm sofort. Doch gerade darin liegt begründet, was fassungslos machen kann: Da hat einer es bis zum Oppositionsführer im Deutschen Bundestag gebracht, hat vermutlich mehr Gedenkstunden für die Opfer des Nationalsozialismus mitgemacht als die meisten Historiker und verhält sich doch so, als hätte er von der schuldhaften Verstrickung der Funktionseliten im Dritten Reich noch nie etwas gehört. Mein Bürgermeister wars nicht, Adolf Hitler ist es gewesen.

Der Mann, der so gerne Nationalstolzdebatten anzettelt, trägt ein Geschichts- und Familienbild in sich, auf das kein Deutscher stolz sein sollte. Von Unbedachtheit kann bei Merz Einlassungen zu Josef Sauvigny jedenfalls keine Rede sein. Nicht nur spontan, einmalig und zur Gaudi von 160 Parteifreunden berief sich der CDU-Politiker auf den Dritte-Reichs-Funktionär. Auch in einem persönlich autorisierten Interview mit einer Berliner Tageszeitung führte er im letzten September stolz die Amtsjahre des Großvaters an. Vorsichtig formuliert verrät Merz damit ein verblüffend ungebrochenes Traditionsbewusstsein, zumal als Repräsentant einer Partei, die zu Recht für sich reklamiert, mit der antidemokratischen Tradition der deutschen Rechten gebrochen zu haben. Gerade wenn einer wie Merz von Leitkultur redet und einen Mangel an nationalem Bewusstsein nach 68 beklagt, dann muss die Abgrenzung zum Nationalsozialismus umso unzweideutiger ausfallen. Tut sie das nicht - und Merz Einlassungen sprechen dagegen -, dann ist der Redner eine Blamage für das Parlament, in dem er Sitz und Stimme hat.

Für seinen Opa kann keiner was, aber gerade in Bezug auf das Dritte Reich gilt, dass deutsche Geschichte immer auch Familiengeschichte ist. Wie man sich zu ihr stellt - zumal öffentlich und als Verantwortungsträger - sagt mehr als alle Gedenkreden darüber aus, wo ein Politiker in seiner inneren Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit steht. Wenn man den Fall des Fraktionsvizes wohlwollend bewertet, kann man sagen, Friedrich Merz steht noch ganz am Anfang. Das Mindeste ist, dass er sich jetzt erklärt. " PATRIK SCHWARZ

 

 

Montag, 19. Januar 2004

Stress mit Neonazis

Grüne fragen nach Störung einer Antifa-Veranstaltung

buxtehude taz Das Verhalten des Buxtehuder Staatsschutzes beschäftigt nun die niedersächsische Landesregierung. Die Grünen-Landtagsabgeordneten Hans-Jürgen Klein und Hans-Albert Lennartz haben wegen der Auseinandersetzungen um die Begleitveranstaltungen zu der in der Halepaghen-Schule gezeigten Ausstellung "Neofaschismus in der Bundesrepublik Deutschland" eine Anfrage an die Landesregierung gestellt. In der vorigen Woche hatten Neonazis eine Veranstaltung der Schülerinitiative in der Volkshochschule (VHS) gestört. Als die SchülerInnen die Veranstaltung beenden wollten, um den "Kadern kein Forum" zu geben, forderte ein Staatsschutzbeamter sie auf, die Debatte doch zu führen (taz berichtete).

Man habe deeskalieren wollen, betont jetzt die Polizei. "Das war keine Hilfe", kritisiert eine jungeTeilnehmerin der Ini. "Wir hatten uns entschieden. Statt Unterstützung bekamen wir aber noch mehr Stress." Auch können die Schüler nicht nachvollziehen, warum die Polizei nur die VHS, nicht aber sie als Veranstalter vorab informierte.

Die Grünen wollen nun unter anderem wissen, welche Erkenntnisse über die rechte Szene im Landkreise Stade vorliegen. Auf ihrer Website feiern die Neonazis derweil die Aktion und veröffentlichen die Namen von SchülerInnen. "as

 

 

Montag, 19. Januar 2004

Jenseits ritualisierten Gedenkens

Unprätentiöser und nachhaltiger zur Erinnerung anregen als Mahnmale: Eine Ausstellung und eine Installation von Karin Guth dokumentieren den nationalsozialistischen Völkermord an den Hamburger Sinti und Roma

Der Zeitpunkt ist Zufall. Kurz nach der Ausstellung ihres Erinnerungsprojekts "Bornstraße 22" vor zwei Jahren hat Karin Guth begonnen, zu den Folgen zu recherchieren, die der nationalsozialistische Rassismus für die in Hamburg lebenden Sinti und Roma gehabt hat. Damals konnte sie nicht ahnen, dass pünktlich zur Präsentation der Ergebnisse ein Spiegel-Dossier einmal mehr einen Streit zwischen den verschiedenen Opfergruppen des NS herbeireden würde, ohne jeden äußeren Anlass. Deshalb passt der Termin jetzt ganz gut. Denn mit einem Projekt wie diesem lässt sich ganz unprätentiös zur Erinnerung anregen. Und statt einen Wettstreit der unterschiedlichen verfolgten Gruppen im NS zu beschwören, wird einfach am Beispiel einer dieser Gruppen ein Stück Geschichte rekonstruierbar gemacht.

Karin Guth, Initiatorin und alleinige Organisatorin des Projekts, setzt mit der Installation "Die nationalsozialistische Verfolgung Hamburger Sinti und Roma" das künstlerisch-dokumentarische Verfahren fort, mit dem sie bereits an diejenigen Hamburger Juden erinnert hat, die zwangsweise in dem von den Nazis Judenhaus genannten Gebäude in der Bornstraße untergebracht waren, bevor sie in die Lager des Ostens deportiert wurden. Ähnlich wie damals hat Guth aus intensiven Interviews mit Überlebenden ein Stück Hamburger Geschichte destilliert.

Die Installation ist ausdrücklich zum Betreten und zum Anfassen gedacht. Eine hohe Wand trennt die zweigliedrige Einrichtung. Auf ihrer einen Seite hat Guth vor Blümchentapete zwei grüne Sitzmöbel um einen Tisch gruppiert, auf ihm ein paar Fotoalben. In ihnen sind die biografischen Geschichten einzelner Hamburger Sinti - damals lebten kaum Roma in Hamburg - zu betrachten. Den Text hat sie zwischen erstaunlich vielen privaten Fotos aus mehreren Jahrzehnten Lebenszeit aufs Transparentpapier der Alben gedruckt. Die anheimelnde Atmosphäre wird nachhaltig gebrochen durch den Tapetenaufdruck: Eintragungen aus den Deportationslisten.

Bereits im Mai 1940, lange vor der ersten Deportation jüdischer Hamburger, ging ein Transport mit dem Großteil norddeutscher Sinti und Roma nach Polen. Den Seitenaufdrucken der Wand lassen sich die groben Fakten der Verfolgung und Vernichtung entnehmen, aber auch Fälle einer fortgesetzten Diskriminierung und Gängelung derjenigen, die aus den Lagern heimkehren konnten, durch Hamburger Beamte und britische Besatzungsorgane.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Wand hat Guth einen "Täterraum" reinszeniert. An einem Schreibtisch lassen sich in dicken Ordnern die Erlasse, Behördenschreiben und Namenslisten einsehen, die für die als "Zigeuner" stigmatisierten Menschen aus Hamburg so folgenschwer gewesen sind. Hier zieren Fotos von Polizeikollegen und Schäferhunden die Wand. Weil sie die zeitgenössischen Dokumente und ihre Sprache nicht unkommentiert lassen wollte, hat Guth sie abschnittweise kritisch zusammengefasst.

Diesmal hat Guth ihre Erinnerungsinstallation mit einer großen Ausstellung gerahmt. Denn über die Deportationen, den Einsatz als Zwangsarbeiter und die Ermordung von insgesamt 500.000 europäischen Roma und Sinti ist - anders als über diejenige der Juden - bis heute wenig bekannt. Zur Verfügung gestellt hat die Stellwände über den Völkermord das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Roma und Sinti. Zu sehen ist beides seit dem vergangenen Freitag im Leo-Lippmann-Saal der Finanzbehörde am Gänsemarkt. "JANA BABENDERERDE

Ausstellung: Mo-Fr 10-18 Uhr, Sa + So 12-18 Uhr, Leo-Lippmann-Saal, Finanzbehörde, Gänsemarkt 36, bis 8.2.; Vortrag von Wolfgang Wippermann, "Die Sinti und Roma im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg": Sa, 17.1., 16 Uhr, Ausstellungsraum; Film "Ein einzelner Mord" (über die Ermordung von Anton Reinhardt): So, 18.1., 19 Uhr, Metropolis; weitere Filme und Veranstaltungen siehe Flyer

 

 

Montag, 19. Januar 2004

 

Hoher Besuch und ein Lob
Thierse trägt sich ins Goldene Buch der Stadt ein
Von Frank Oehl

Die 43. Kamenzer Lessingtage wurden am Sonnabend im Ratssaal eröffnet, diesmal mit besonders vieler Prominenz. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) trug sich ins Goldene Buch der Stadt ein und lobte in seiner viel beachteten Rede den Kamenzer Bürgermeister Arnold Bock (PDS) für sein Engagement gegen intolerante Gewalt.

Einmal im Jahr schaut Kamenz über den provinziellen Tellerrand besonders weit hinaus. Dann gibt sich Prominenz ein Stelldichein im Ratssaal, wo die Lessing-Tage eröffnet werden. Diesmal sind es die 43., die noch dazu auf ein Jubiläumsjahr fallen. Wohl auch deshalb konnten die Organisatoren mit Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse (SPD) ein besonders hohes Tier für die Eröffnungsrede gewinnen.

Und auch diesmal ging es wieder um allzu Menschliches. Der Kulturwissenschaftler und Germanist Thierse war am Sonnabend gegen 18.30 Uhr – leicht verspätet – in der Kreisstadt eingetroffen und musste zunächst einen protokollarischen Sprint hinlegen. Zum einen durch das Lessing-Museum und schließlich in das Bürgermeisterzimmer, wo die Eintragung ins Goldene Buch der Stadt anstand. „Lessing verdient es nicht, im Archiv zu verschwinden“, mahnte der Bundestagspräsident im Blitzlichtgewitter und lobte die Stadt für die Anstrengung, im Verbund mit anderen dieses Lessing-Jahr zu begehen. „Damit der Aufklärer immer wieder ins Bewusstsein vor allem der jungen Leute gerückt wird.“

Denn: Gegen diffuse Ängste vor einer vermeintlichen „Überfremdung“ helfe vor allem Aufklärung. Diese Grundthese seiner Rede hat der gut informierte Staatsmann auch mit einem Lob in Richtung Lessingstadt verbunden. Thierse erinnerte an die Ausschreitungen vor einem Jahr, die in dem schweren körperlichen Angriff gegen Seyfettin A. durch ausländerfeindliche Jugendliche gipfelten. In manchen Medien sei Kamenz schon als Hochburg der Neonazis bezeichnet worden. „Sie, Herr Bürgermeister, haben das Problem nicht geleugnet, verdrängt, heruntergespielt, sondern haben couragiert gehandelt, Zeichen gesetzt.“

Thierse nannte den ins Leben gerufenen Kriminalpräventivrat einen richtigen Weg, die Bürger zu mobilisieren. Sich der Gefahr des Rechtsextremismus entgegenzustellen, sei nicht nur Sache aller Bürger, sondern geradezu Pflicht. Dass die Schläger vom 3. Januar erst am Mittwoch vom Landgericht verurteilt wurden, erwähnte Thierse nicht. Das Beispiel passte trotzdem.

Um Zeitkritisches und Allzumenschliches ging es nach Thierses Festvortrag auch im kulturellen Teil der Eröffnungsveranstaltung. Genauer gesagt: Lessings Gedanken darüber wurden in Musik und Tanz gestaltet. Gesungen von Bassbariton Florian Hartfiel – 1973 in Dresden geboren und Enkel von Theo Adam – erklangen unter anderem musikalische Kostbarkeiten, die seit Jahrzehnten im Depot des Lessing-Museums schlummern. Bei dem Liederzyklus „Wein und Liebe“ handelt es sich um Lessing-Texte, die von August Harder (1774 - 1813) vertont wurden.

Im Kontrast zu diesen romantischen Klängen – und etwas gewöhnungsbedürftig – stand dann der Ausdruckstanz von Tadashi Endo, einem 1947 im Peking geborenen Japaner. Er ist der Begründer des Butoh-Ma, einer Verbindung östlicher und westlicher Theater- und Tanztradition, und interpretierte ein Lessingsches Gedicht über die menschliche Glückseligkeit auf seine ganz besondere Ausdrucks-Weise. Zeitgenössisch ging es dann auch noch einmal mit Florian Hartfiel weiter. Er brachte mit Liana Bertok am Klavier kompositorische Arbeiten von Hubert Kross zu Gehör, der unter dem Titel „Les-s(w)ing“ versucht, Fabeln und Sinngedichten in einer vom Jazz beeinflussten musikalischen Sprache nahe zu kommen.

Ein interessanter Auftakt der Lessing-Tage und damit des Lessing-Jahres. Bereits am Donnerstag wird der Reigen der Veranstaltungen fortgesetzt. Anlässlich des 275. Geburtstages des Dichters wird dann unter anderem 19 Uhr im sanierten Malzhaus die 5. Jahresausstellung „LeidenschaftVernunft“ eröffnet.