Dienstag, 20. Januar 2004
Petra Ahne
Es ist vielleicht
eine kühne Vermutung, dass im Abgeordnetenhaus selten so mitfühlend und
warmherzig geklatscht wurde wie am Montagabend. Ganz sicher aber gab es noch
nie Beifall für eine professionelle Sängerin. Es ist nämlich noch nie eine
aufgetreten - bis zum Montagabend. Da sang Marianne Rosenberg im Plenarsaal des
Abgeordnetenhauses ein Lied. Es heißt "Trauriger Stolz". Sie hat es
vor ein paar Jahren geschrieben, an dem Tag, an dem sie ihre Eltern in Frohnau
besuchte und sah, dass auf die Fassade ein Hakenkreuz geschmiert worden war. In
dem Lied fragt sie den unbekannten Täter, was für ein seltsamer Stolz das ist,
der ihn so etwas tun lässt. Es ist eine klagende, ruhige Melodie und Marianne
Rosenberg hatte, als sie das Lied vortrug, wenig mit der Schlagersängerin zu
tun, als die sie bekannt ist. Marianne Rosenberg ist Sinti - ihr Vater hat
Auschwitz überlebt, als einziges von elf Geschwistern.
Der Auftritt der Sängerin
war der Höhepunkt eines Abends, in dessen Verlauf der seriöse Plenarsaal nicht
nur zum Konzertsaal, sondern auch zum Theater geworden war. Im Abgeordnetenhaus
wurde - wie auch schon in den Jahren zuvor - der Abschluss des Projekts
"Denkmal" gefeiert. "Denkmal" ist eine Art Aufruf an
Jugendliche. Sie sollen sich mit Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und
dem Umgang mit der NS-Geschichte auseinander setzen. Sie können Ausstellungen
planen, Theaterstücke einstudieren, Geschichten schreiben. Schulklassen und
Projektgruppen können mitmachen. Die fast 40 Beiträge sind im Abgeordnetenhaus
ausgestellt - und einige wurden gestern auf der Bühne aufgeführt, auf der sonst
Berliner Politik versucht wird. Auf den Sitzen saßen nicht Abgeordnete, sondern
mehrere hundert Jugendliche. Ein paar von denen, die sonst hier ein- und
ausgehen, waren auch da: Parlamentspräsident Walter Momper, der offiziell zu
dem jährlichen Wettbewerb aufruft, die Grünen-Politiker Alice Ströver und
Volker Ratzmann und Ex-Kultursenator Christoph Stölzl.
Dank einer guten Lichtregie
kann man sagen, dass die kleine Arena, um die sich im Rund die
Abgeordneten-Sitzplätze gruppieren, durchaus als Bühne eignet. Sogar der
Auftritt der Metal-Band aus der Bach-Oberschule wirkte gar nicht fehl am Platz.
Der Sänger, mit Irokesenschnitt und Armeehose zum Lehrerschreck gestylt, röhrte
ins Mikrofon, die E-Gitarre gellte. Zwar folgte niemand der Aufforderung der
Band, nach vorn zu kommen, Christoph Stölzl ließ seine Hände jedoch recht
animiert im Takt des Schlagzeugs über seinen kleinen Tisch tanzen. Es folgten
kleine, eindringliche Szenen aus Theaterstücken zum Leben im
Nationalsozialismus, der Chor der jüdischen Oberschule sang, ein paar
Jugendliche erklärten ihre Projekte: Eine Klasse veranstaltet regelmäßig
Ländertage, bei denen je ein Schüler das Land vorstellt, aus dem seine Eltern
kommen; eine Kreuzberger Schule sorgt dafür, dass Metallplättchen vor
Wohnhäusern an ehemalige Bewohner erinnern, die in Konzentrationslagern
starben.
Still wurde es, als Petra
Rosenberg vortrat, Marianne Rosenbergs Schwester und Vorsitzende des
Landesverbandes der Sinti und Roma Berlin-Brandenburg. Sie sagte, sie haben
noch nie aus dem Buch "Das Brennglas" gelesen, in dem ihr Vater seine
Zeit in Auschwitz beschreibt. Sie habe sich bis jetzt nicht stark genug dafür
gefühlt, weil ihr Vater erst vor knapp drei Jahren gestorben ist. Dann las sie
vor, wie Otto Rosenberg, der, so lange er lebte, oft als Zeitzeuge auftrat,
nach Auschwitz gebracht wurde. Er hat im kindlich-ungläubigen Tonfall des
15-Jährigen geschrieben, der er damals war. Anschließend trat Marianne
Rosenberg auf. Als die beiden ganz in schwarz gekleideten Schwestern sich am
Schluss umarmten, wurde der Applaus nochmal sehr laut.
Dienstag, 20. Januar 2004
Andreas Kopietz und Jan
Thomsen
Die
Polizei bereitet eine neue Untersuchung zu Berliner Problemkiezen vor. Nachdem
eine erste Erhebung in der vergangenen Woche für massive interne Kritik gesorgt
hatte, sollen demnächst die sechs Polizeidirektionen nach einheitlichen
Maßstäben abgefragt werden. "Bei der neuen Erhebung werden harte und
weiche Indikatoren einbezogen", sagte ein leitender Beamter der Berliner
Zeitung. Zu den harten Indikatoren gehören nach seinen Worten die Zahl der
Straftaten, aber auch Sozialdaten zu Arbeitslosigkeit, Einkommen und Bildung.
Die weichen Indikatoren seien unter anderem Verwahrlosungstendenzen sowie das
Sicherheitsgefühl der Anwohner.
Die neue Studie, die
voraussichtlich im Februar begonnen werden soll, ist nach Einschätzung von
Beamten eine Folge jener Untersuchung über "problemorientierte
Kieze", die von Innensenator Ehrhart Körting (SPD) am vergangenen Montag
im Innenausschuss vorgestellt worden war. Anhand dieser Untersuchung hatte
Körting vor Verwahrlosungstendenzen und Ghettobildung angesichts schlecht
integrierter Ausländer gewarnt.
Uneinheitliche Maßstäbe
Erst auf entsprechende
Nachfragen hin hatten der Senator und Polizeipräsident Dieter Glietsch
eingeräumt, dass dabei keine einheitlichen Maßstäbe angelegt worden waren. Jede
Direktion war vielmehr aufgerufen, die aus ihrer Sicht problematischsten Kieze
zu nennen - und jede setzte dabei offenbar eigene Schwerpunkte. Dementsprechend
liegen jetzt allein vier Problemkieze in Spandau, während aus Kreuzberg nicht
ein einziges Problemgebiet gemeldet wurde. Dass sämtliche Ostbezirke in der
Untersuchung überhaupt nicht auftauchen, liegt gar daran, dass die
Polizeidienststellen dort nicht einmal gefragt wurden - das berichten zumindest
Beamte aus der zuständigen Direktion 6.
Mittlerweile sorgte die
Willkür, mit der die Polizeidirektionen ihre Angaben meldeten, bei
Sozialarbeitern, aber auch polizeiintern für massive Kritik. "Diese
Vorgehensweise vermittel kein objektives Bild über die Situation", sagte
der Landesvorsitzende des Bundes deutscher Kriminalbeamter (BdK), Lutz Hansen,
gestern. "Man hat Kellereinbrüche, Wertzeichenfälschung, Geiselnahmen und
anderes miteinander vermengt. Es ist aber auch wichtig zu wissen, ob außerhalb
dieser Statistik Erkenntnisse vorliegen."
Gerade im Ostteil der Stadt
kümmern sich Sozialarbeiter um ganz andere Probleme als im Kiezatlas
aufgeführt. "In jedem Ostbezirk gibt es Probleme mit rechtsextremen
Jugendlichen", sagt Timm Köhler vom Mobilen Beratungsteam gegen
Rechtsextremismus. "Es gibt Angst-Räume, also Gegenden, in denen Linke,
Migranten, Obdachlose und Andere Übergriffe befürchten müssen." Als
Beispiele nennt Köhler die Ortsteile Karow und Buchholz in Pankow, den Bahnhof
Schöneweide und Johannisthal in Treptow sowie in Hohenschönhausen den
Welse-Kiez und den Prerower Platz am Linden-Center. Dort sieht auch Mario
Gartner, der eine "Unabhängige Anlaufstelle für BürgerInnen"
gründete, eine hohe Dunkelziffer rechtsradikal motivierter Konflikte.
"Aber so etwas wird fast nie angezeigt - die Polizei erfährt davon gar
nichts", sagt Gartner.
Bereits die Gewalttaten, die
offiziell angezeigt werden, halten in den Ostbezirken die Polizei in Atem.
Besonders die hohe Jugenddelinquenz macht Sozialarbeitern und Behörden zu
schaffen: Sachbeschädigung, Graffiti und Raub werden immer wieder gemeldet.
"Abziehen" nennen Jugendliche das, was fast zum Volkssport geworden
ist: das Rauben von Handys oder Markenkleidung. Schwerpunkte dabei sind etwa
Springpfuhl und Marzahn Nord.
In der neuen Untersuchung,
für die wieder die Innenbehörde zuständig ist, dürften die bereits genannten
neun Problemkieze wieder auftauchen, sind sich Polizeibeamte sicher. "Wir
kommen aber bestimmt auf sechs bis acht weitere Gebiete, wo ähnliche Entwicklungen
im Gange sind", sagt Polizeidirektor Stefan Weis von der für Neukölln und
Kreuzberg zuständigen Direktion 5: "Zum Beispiel im Kreuzberger
Wrangelkiez."
Karte:
Vor einer Woche legte Innensenator Ehrhart Körting (SPD) eine Karte mit neun
"Problemorientierten Kiezen in Berlin" vor.
Der Grund: Nach zahlreichen
Schlagzeilen über Ausländerkriminalität, Integrationsprobleme und
"Parallelgesellschaften", die ihre Konflikte ohne die Polizei regeln,
ließ die Innenverwaltung die Polizei-Direktionen nach entsprechenden
Problemkiezen abfragen.
Kieze: Alle Gebiete liegen
im Westteil: In Spandau die Wasserstadt, das Falkenhagener Feld, die
Wilhelmstadt und die Neustadt, in Mitte der Beussel- und der Soldiner Kiez, in
Charlottenburg der Kiez um den Klausenerplatz, außerdem der Norden Schönebergs
und Neuköllns.
Kriterien: Unklar blieb,
nach welchen Kriterien der Stab des Polizeipräsidenten die Problemkieze
definierte. Zwar ist in der Aufstellung die Häufigkeit so genannter
kiezbezogener Straftaten angegeben, doch in zwei Gebieten liegt die Deliktzahl
deutlich unter dem Berliner Durchschnitt.
Straftatenkatalog: Auch der
Katalog "kiezbezogener Straftaten" scheint zum Teil willkürlich.
Unter den knapp 40 Tatbeständen finden sich zwar Straßenkriminalität wie
Sachbeschädigung, Körperverletzung und Raub, aber auch kaum ortsgebundene
Delikte wie Wertzeichenfälschung oder Hehlerei.
Kein Bezug: Als einzige
Angabe zur Sozialstruktur nennt die Liste den Ausländeranteil: zwischen zwölf
Prozent in der Wilhelmstadt und 39 im Beusselkiez. Es gibt aber keinen Bezug
zwischen Ausländerquote und Kriminalität, denn manche Kieze mit hohem
Ausländeranteil erwähnt die Polizei gar nicht, etwa den Kreuzberger
Wrangelkiez.
Dienstag, 20. Januar 2004
Ich habe den Eindruck, dass es in der Gesellschaft einen ganz
massiven Antiislamismus gibt, der den Antisemitismus abgelöst hat. (taz, 6.
11. 03)
Vor wenigen Wochen überraschte der Ethnologe Werner Schiffauer mit dieser
These. Es ist ein brisanter Vergleich, der Assoziationen weckt und weitere
Fragen aufwirft: Gibt es tatsächlich einen militanten, gewalttätigen
Muslimenhass? Oder Theorien, die eine muslimische Weltverschwörung
konstruieren? Und auf welche Elemente des Antisemitismus beziehen sich die
Verfechter der These, die seit Jahren immer wieder einmal in die Debatte
eingebracht wird?
In Deutschland artikulierte sich der Judenhass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts unter anderem in Parteien, Vereinen und Verbänden mit antisemitischer Programmatik und einer zahlenmäßig großen Gefolgschaft quer durch alle gesellschaftlichen Schichten. Begleitet wurde der geordnete und der Alltagsantisemitismus von Mord, Pogromen und gewaltsamer Einschüchterung von Juden. Zwischen 1933 und 1945 mündete er in die Aberkennung ihrer bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und schließlich in ihre physische Vernichtung.
Nach der Gründung der Bundesrepublik war der organisierte Antisemitismus auf rechtsextreme Gruppen beschränkt. Virulent blieb allerdings der Alltagsantisemitismus. Niedergeschlagen hat sich das bis heute in hunderten von Friedhofsschändungen, Brandanschlägen auf die wenigen verbliebenen Synagogen, Angriffen auf Juden, Schmierereien und einer Flut von Hetzartikeln und -reden nicht nur im Milieu der äußersten Rechten. Bis heute stehen jüdische Einrichtungen und Repräsentanten deshalb aus gutem Grund unter permanentem Polizeischutz.
Eine vergleichbare Gefährdung muslimischen Lebens in Deutschland gibt es glücklicherweise bis heute nicht. Die über 2.000 Moscheen und muslimischen Gebetsräume brauchen nur in Ausnahmefällen Polizeischutz. Abgesehen von rechtsradikalen Kleinstgruppen gibt es keine Parteien oder Verbände mit einer antiislamischen Programmatik, keine Terrorangriffe auf Muslime. Und Übergriffe auf Moscheen lassen sich bislang noch an einer Hand abzählen.
Die zahlreichen rassistischen Gewalttaten der letzten fünfzehn Jahre galten, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen Muslimen und deren Organisationen als solche. Sie trafen rumänische Asylsuchende, katholische Mosambikaner, schwarze Briten, Angehörige konkurrierender jugendlicher Subkulturen, soziale Randgruppen und buddhistische Vietnamesen ebenso wie muslimische Türken oder christliche Araber.
Wenn der Zentralrat der Muslime, die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs und Werner Schiffauer dennoch behaupten, die Gewalttaten mit antiislamischem Hintergrund hätten zugenommen und die antisemitischen gar ersetzt, wäre es höchste Zeit, die Belege vorzulegen, um wirksame Strategien gegen die neue Herausforderung zu entwickeln. Solange diese fehlen, kann von einer Ablösung des Antisemitismus durch einen "Antiislamismus", besser einer Islamfeindlichkeit, keine Rede sein. Es seit denn, man betrachtet, wie Schiffauer, bereits das repressive Vorgehen des Staats gegen Organisationen wie Hisb ut-Tahrir oder dem Kalifatsstaat, die zum Judenhass und -mord aufriefen, als Islamfeindlichkeit.
Die These, Antiislamismus ersetze Antisemitismus, geht in der Regel mit der Bereitschaft einher, Handlungen und Äußerungen von Muslimen - und seien sie auch noch so verwerflich - mit einer großen Duldsamkeit und Toleranz zur Kenntnis zu nehmen. Wie das funktioniert, lässt sich unter anderem in einem Interview mit Navid Kermani zum "Islamischen Antijudaismus" nachlesen (taz, 26. 11. 03). Auf die Frage "Der malayische Premier Mahathir hat kürzlich beim Kongress islamischer Staaten eine israelfeindliche Rede gehalten. Ist dies ein Beispiel für antisemitische Tendenzen?", antwortet Kermani: "Den Eindruck kann man haben, wenn man die einzelnen Zitate sieht. Aber der Kontext der Rede ist anders: Mahathir, der kein Islamist ist, beklagt in der Rede schonungslos die Unterlegenheit und Rückständigkeit muslimischer Staaten." Was bedeutet dieses Aber?
Mahathir ist vielleicht kein Islamist, aber er ist mit Sicherheit ein Antisemit. Entsprechende Belege liefert seine Rede hinreichend. Darin heißt es: "Die Europäer haben 6 von 12 Millionen Juden getötet. Aber heute beherrschen die Juden diese Welt mittels ihrer Stellvertreter. Sie lassen andere für sich kämpfen und sterben." Oder: "Sie [die Juden] erfanden und fördern mit Erfolg Sozialismus, Kommunismus, Menschenrechte und Demokratie, damit es falsch erschiene, sie zu verfolgen, damit sie sich der gleichen Rechte erfreuen dürfen wie andere. Mit denen haben sie nun die Kontrolle über die mächtigsten Länder gewonnen, und sie, diese winzige Gemeinschaft, sind eine Weltmacht geworden."
Die Ausführungen Mahathirs, die eine jüdische Weltverschwörung konstruieren, lassen kein relativierendes Aber zu. Es ist in diesem Kontext irrelevant, wenn Mahathir ausführt, dass die muslimische Umma "mit Verachtung und Entehrung" behandelt wird. Im Kern bleibt der Antisemitismus, der nicht auf den radikalen Islamismus beschränkt ist.
Selbst hohe sunnitische Würdenträger vertreten in Bezug auf den Palästinakonflikt seit Jahren Positionen, die mit Antisemitismen durchsetzt sind. Bekannt ist vor allem Scheich Mohammed Sayyid Tantawi, immerhin die höchste muslimische Autorität der Al-Azhar-Universität in Kairo. Tantawi veröffentlichte bereits 1998 seine Schrift "Die Söhne Israels in Koran und Sunna". In dieser Hetzschrift erscheinen die Juden als ewige Feinde des Islam. Zur Begründung werden neben eigentümlichen Koraninterpretationen auch die "Protokolle der Weisen von Zion angeführt", die Tantawi als authentische jüdische Quelle anführt. Tatsächlich handelt es sich um eine Fälschung des zaristischen Geheimdienstes, auf das bis heute Neonazis und auch Islamisten seit Jahrzehnten rekurrieren.
Antisemitische Deutungsmuster haben sich seit Beginn der zweiten Intifada unter Muslimen epidemisch verbreitet. Wer Zweifel hegt, dem sei die im Jahr 2002 erschienene Studie "Muslim Antisemitism - A Clear and Present Danger" von Robert Wistrich, dem Autor des Standardwerkes "Der antisemitische Wahn", empfohlen. Auch in Westeuropa hat der Antisemitismus unter den Muslimen erheblich an Boden gewonnen, wie die in der kürzlich veröffentlichten Studie der Europäischen Beobachtungsstelle für Rassismus (EUMC) aufgelisteten Übergriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen belegen. Von vergleichbaren Angriffen europäischer Juden auf Muslime ist bislang noch nichts zu hören gewesen.
Angesichts dieser Entwicklungen ist die These, der Antiislamismus habe den Antisemitismus ersetzt, verantwortungslos, da sie reale Gefährdungslagen verschleiert. Deutschland braucht keinen ideologisierten Wettbewerb von Minderheitengruppen, sondern nüchterne Analysen zum deutschen und islamisierten Antisemitismus sowie zum Ausmaß und Gefährdungspotenzial der Islamfeindlichkeit." MICHAEL KIEFER
EBERHARD SEIDEL
Eberhard Seidel war bis 2002 Leiter des taz-Inlandressorts.
Von ihm erschien kürzlich "Die schwierige Balance zwischen Islamkritik und
Islamphobie"
Michael Kiefer ist Islamwissenschaftler in Düsseldorf. Von ihm erschien 2002:
"Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften"
Dienstag, 20. Januar 2004
MÜNCHEN taz Die Polizei hat in München einen 86-jährigen Mann verhaftet, der als Kommandeur einer Spezialeinheit an mehreren Massakern gegen Ende des Zweiten Weltkriegs beteiligt gewesen sein soll. Wie die Münchner Staatsanwaltschaft gestern erklärte, befehligte der gebürtige Slowake Ladislav Niznansky eine slowakische Abteilung, die damals gemeinsam mit deutschen Truppen zur Bekämpfung von Partisanen eingesetzt wurde.
Im Januar 1945 ermordete diese Einheit in den slowakischen Orten Ostry Grun und Klak insgesamt 146 Menschen, darunter 70 Frauen und 51 Kinder. Außerdem soll Niznansky, damals 27 Jahre alt, im Februar 1945 die Erschießung von 18 jüdischen Zivilisten in der Gemeinde Ksina befohlen haben.
Der leitende Oberstaatsanwalt Christian Schmidt-Sommerfeld sagte der taz, Niznansky habe angeordnet, die Juden zu erschießen, die sich in Erdbunkern versteckt hätten. Dazu ließ er ein Hinrichtungskommando zusammenstellen. Unter den Opfern seien acht Frauen und sechs Kinder gewesen. Niznansky war zu jener Zeit laut tschechischen Zeitungsberichten auch Führungsmitglied des faschistischen "Edelweiß"-Verbandes in der Slowakei.
Nach dem Krieg tauchte Niznansky unter und lebte seit 1947 offensichtlich abwechselnd in Österreich und Deutschland. Zeitweilig arbeitete er als Reporter für den US-Radiosender "Radio Free Europe" in München, wahrscheinlich auch für andere Medien. Bislang sei Niznaskys Biografie nicht lückenlos zu recherchieren gewesen, teilte die Münchner Staatsanwaltschaft mit.
Der Verhaftete schweigt bislang. Sicher ist, dass Niznansky 1996 die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt. Später lebte er in einer Wohnung am Münchner Ostpark, wo er am Freitag auch verhaftet wurde. Bereits 1962 war Niznansky in Abwesenheit von einem Gericht im slowakischen Banská Bystrica zum Tode verurteilt worden.
Wegen dieser Verurteilung wandte sich das slowakische Justizministerium Anfang 2001 an die deutschen Behörden, nachdem bekannt geworden war, dass Niznansky in München lebt. Er bestritt gegenüber den deutschen Ermittlern jetzt alle Vorwürfe.
Daraufhin entsandte die Münchner Staatsanwaltschaft einen Vertreter nach Tschechien und in die Slowakei, der dort Archive und Gerichtsunterklagen einsehen und mehrere Zeugen befragen konnte. Diese Zeugenaussagen lieferten letztlich die Grundlage für die Festnahme des 86-Jährigen. Laut Oberstaatsanwalt Schmidt-Sommerfeld fand sich auch "ein Augenzeuge, der als Kind bei einem der Massaker mit dem Leben davongekommen ist" und der Niznansky identifizieren konnte.
Der mutmaßliche Kriegsverbrecher sitzt nun in München in Untersuchungshaft. Eine allzu lange Haft vor Prozessbeginn will die Staatsanwaltschaft allerdings nicht riskieren.
Bis zum Frühjahr soll bereits Anklage erhoben werden, sodass noch in diesem Jahr der Mordprozess vor dem Münchner Schwurgericht beginnen könnte. Schmidt-Sommerfeld schätzt den 86-Jährigen als verhandlungsfähig ein. Er sei in einem "altersentsprechend guten Gesundheitszustand".
Wenn alle Vorwürfe vor Gericht belegt werden können, wird Ladislav Niznansky das "Gefängnis wohl nicht mehr verlassen", sagte der Oberstaatsanwalt. Dem einstigen Faschistenführer wird Mord in 146 Fällen zur Last gelegt.
Niznanskys Verhaftung ist der zweite spektakuläre Erfolg, den die Justizbehörden in Deutschland, Tschechien und der Slowakei bei ihren gemeinsamen Ermittlungen gegen nationalsozialistische Kriegsverbrecher verbuchen können. Im Jahr 2001 war der frühere Aufseher eines Gestapo-Gefängnisses in Theresienstadt, Anton Malloth, wegen Ermordung eines Häftlings zu lebenslanger Haft verurteilt worden." JÖRG SCHALLENBERG
Dienstag, 20. Januar 2004
Jugendliche gedenken der Opfer des Nationalsozialismus
„Wer sagt, die Zeit heile alle Wunden, der irrt“, sagte Marianne Rosenberg. Sie
muss es wissen: Jahrelang erlebte sie, wie ihr Vater, der Sinto Otto Rosenberg,
der von den Nazis ins Konzentrationslager geworfen worden war, an seinen
Erinnerungen litt. Das Entsetzen über den neuen Rassismus in Deutschland war
ihr auch gestern anzumerken, als sie im Abgeordnetenhaus über den „Traurigen
Stolz“ der Neonazis sang.
Mit ihrem Auftritt passte die Sängerin perfekt ins Programm der Veranstaltung,
die den Abschluss des Jugendprojekts „denk!MAL“ feierte. Denn genau wie die
Sängerin suchten die über 500 Projektteilnehmer nach künstlerischen Mitteln, um
auf den alten und neuen Rassismus hinzuweisen. Initiiert hatte das Projekt der
Präsident des Abgeordnetenhauses Walter Momper.
Die Ergebnisse – Essays, Bildertafeln,
Musik- und Theaterstücke – wurden gestern Abend im Abgeordnetenhaus
vorgestellt. Die Frage „Warum gibt es Faschismus?“ stellten die einen im
gefühlvollen Popsong, die anderen mit ohrenbetäubenden Heavy-Metal-Klängen in
abgewetzten Lederjacken und mit tiefschwarz geschminkten Augen. Besonders
bewegte die Zuschauer der Beitrag einer türkisch-deutschen Teilnehmerin. Dabei
zeigte sie in dem Videofilm eigentlich nur eines: ihr eigenes, schwieriges
Leben mit den Vorurteilen. ase
Die Ergebnisse des Projekts „denk!MAL“ sind bis zum 27. Januar, montags bis
freitags, von 9 bis 18 Uhr im Casino des Abgeordnetenhauses (Niederkirchnerstr.
5) zu sehen.
Dienstag, 20. Januar 2004
Eigentlich müssten wir hier heute mehr als 500 Namen drucken. Namen von Jugendlichen, die sich für das Jugendgeschichtsprojekt denk!Mal mit dem Nationalsozialismus auseinander gesetzt und ihre engagierten Initiativen gegen Rassismus und Rechtsextremismus gestern im Abgeordnetenhaus vorgestellt haben. Parlamentspräsident Walter Momper hatte sie gestern eingeladen, ihre Arbeiten - Theaterstücke, Aktionen, Videofilme - zu präsentieren. Stellvertretend für die jungen Forscher bis 21 sei die 16-Jährige Marie Hörnig vom Max-Planck-Gymnasium in Mitte genannt. Schon seit fünf Jahren verwirklicht sie, zusammen mit sieben ihrer Mitschüler, an der Schule Projekte zum Thema Rassismus und gegen Gewalt, und opfert dafür einen Großteil ihrer Freizeit. Für das Jugendprojekt hat sich die Gruppe mit Zeitzeugen wie der Widerstandskämpferin Dora Kalb und mit Helga Luther, die im Frauen-KZ Ravensbrück inhaftiert war, getroffen. Die Gruppe (eine von 40) stellt mehrere Zeitzeugen mit Fotos und Interviews vor. "Wir wollen andere Klassen begeistern, Zeitzeugen einzuladen und sich mit ihnen zu befassen", begründet die 16-jährige Marie ihr Engagement. "Es ist sehr beeindruckend, die Menschen persönlich zu treffen und ihnen zuzuhören." Damit junge Leute, die diese Zeit nicht erlebt haben, erführen, was damals geschehen ist. "Das ist besser, als das Thema im Geschichtsunterricht herunterzurasseln oder nur im Fernsehen zu sehen", sagt Marie. Die Ausstellung im Parlament ist bis zum 27. Januar zu sehen.
Dienstag, 20. Januar 2004
Kripo ermittelt wegen Landfriedensbruch
57 Straftaten und nur 19 Unfälle / Dafür wieder Randale an
der Kamenzer Shell-Tanke: Polizeiaufgebot räumt auf
Von Ina Förster
Viele Autofahrer
fahren im Winter besonders vorsichtig aus Angst vor Glätte und Rutschgefahr.
Wahrscheinlich ist das auch der Grund für die wenig registrierten Unfälle in
der letzten Woche. Nur 19 Mal krachte es im Kamenzer Polizeirevier (im Schnitt
ereignen sich sonst über 30 Unfälle!). Zwei Menschen kamen dabei zu Schaden,
schwer verletzt wurde zum Glück keiner davon. Zu den zwei Leichtverletzten
gehört unter anderem eine Kraftfahrerin, die am Sonntagvormittag gegen 11.26
Uhr von Cunnersdorf nach Bernbruch unterwegs war. Aus unerklärlichen Gründen
kam sie nach Links von der Straße zum Steinbruch ab und verriss durch schnelles
Gegensteuern das Lenkrad dermaßen, dass sie infolgedessen ins Schleudern kam
und ihre Fahrt unfreiwillig an einem Straßenbaum endete. Durch den Aufprall
ging die Fensterscheibe an der Kraftfahrertür zu Bruch und die Autofahrerin
erlitt mehrere Schnittverletzungen in Gesicht, Arm und Halsbereich.
Viel mehr hatte die
Polizei am Wochenende wieder Fälle von Sachbeschädigungen und
Körperverletzungen zu bearbeiten. Wie den einer Disco-Schlägerei in
Kamenz-Jesau Sonntagmorgen um 2.50 Uhr, wobei ein später flüchtiger junger Mann
mit Meißner-Autokennzeichen einen anderen Gast schlimm zurichtete. Der
Geschädigte verlor im Handgemenge beide Schneidezähne und erlitt Kopf- sowie
Nasenbeinverletzungen. In Höhe des Landratsamtes konnten die Polizeibeamten den
Täter wenig später unter dem Vorwand einer allgemeinen Verkehrskontrolle
stellen, da andere Discobesucher sich das Kennzeichen des Übeltäters gemerkt
hatten. Laut und aggressiv ging es ebenfalls am Sonnabendabend, gegen 22.30 Uhr
an der Shell-Tankstelle in Kamenz zu, als sich ungefähr 20 Jugendliche – zum
großen Teil im stark alkoholisierten Zustand – am Flaschenwerfen und
Randalieren versuchten.
Außerdem wurden
deutlich ausländerfeindliche Parolen laut. Die Polizei reagierte nach dem
Bekanntwerden des Vorfalls mit einem Großaufgebot an Funkstreifenwagen, Beamten
und sogar extra angeforderten Polizeihunden. Von zwölf Randalierern wurden die
Personalien aufgenommen; die meisten von ihnen sind ohnehin bereits einschlägig
bekannt. Auch im Bereich der rechts orientierten Szene. Die Kriminalpolizei
ermittelt nun weiter wegen Landfriedensbruch.
Dienstag, 20. Januar 2004
Humor ist,
wenn der »Führer« spricht
Maulhelden-Festival im Berliner Tempodrom wird zur Polis der Rand- und
Widerständigen
Von Tom
Mustroph
Die Gespenster der Nachbarschaft halten Einzug ins Tempodrom. In dem nur wenige
100 Meter von der einstigen Reichskanzlei errichteten Betonzelt tauchte zur
Eröffnung des Gipfeltreffens der Wortkunst-Akrobaten aus nah und fern mit Adolf
Hitler der wohl wirkungsmächtigste Orator deutscher Zunge auf. Und das gleich
drei Mal. Zunächst las Serdar Somuncu aus »Mein Kampf«. Das hatte seinen Reiz,
weil der Mann in Istanbul geboren wurde und noch immer türkischer Staatsbürger
ist. Herrenrassenfantasien erhalten da eine besondere Note, auch weil Somuncu
erklärt, dass zur »arischen Rasse« ja auch »der Perser« gehöre, nicht aber jene
nordische Mixtur aus »Alemannen, Schwaben, Bajuwaren, Hunden und Katzen«.
Letzteres ist natürlich original Somuncu. Ohnehin erheiterten mehr die
Kommentare des Vorlesers als die hochgradig redundanten Passagen aus dem einst
zehn Millionen Mal in deutschen Haushalten verbreiteten Wälzer. So lägen die
Rechte für den Text beim bayrischen Finanzministerium. In deutscher Sprache dürfe
er nicht verbreitet werden, aber die englische Übersetzung komme bei Random
House heraus. Der Verlag gehört zu Bertelsmann, hat Somuncu herausgefunden.
Verdienen, nein, verdienen tun die Gütersloher aber nichts daran. Alles Geld
werde jüdischen Organisationen gespendet. Und der bayrische Staat nutze die
Einnahmen, um gegen rechtsextreme Propaganda vorzugehen.
Possierliche Anekdoten konnte der fast kahlschädlige und bartlose Schauspieler
auch von Vortragsreisen erzählen. So seien Skinheads, die mal so auf Nazi tun
wollten, von den wilden Assoziationen des Textes oft abgeschreckt, während
andere sich wunderten, was da alles drin stehe. Erschreckt habe er mal ein
Auditorium bei einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die alten
Damen hätten sich in karierte Kostüme geworfen und andächtig gewartet. »Na,
habt ihr euch wieder schön gemacht für euren Adolf?«, hat er sie da gefragt.
Virtuos, mit beachtlichem pantomimischen Talent, aber nie eitel, wälzte sich
Somuncu in der tabuisierten Schlammgrube.
Wesentlich schwächer, weil furchtbar authentisch und sehr pädagogisch
aufgebaut, war Pip Uttons Auftritt als GröFaZ der letzten Stunden. Mit
Bärtchen, Locke und in senfbraune Uniform gehüllt, forderte er in englischer
Sprache die letzten Getreuen zum Durchhalten auf. Ganz schlecht schließlich
eine Führerrede zur Verkehrssicherheit im Rahmen der auch in diesem Jahr
musikalisch hervorragenden, aber leider in eine provinzielle Moderation
eingebetteten Zertrümmerung eines Opel Kadett von »Auto Auto«.
Verwunderte anfangs das kabarettistische Interesse an der so sorgsam
bewältigten Vergangenheit, so lieferte der formidable Sprachkünstler Georg
Schramm den Schlüssel zum Verständnis. Zuletzt war der langfristige Aufenthalt
von deutschen Truppenkontingenten im Ausland eben im Dritten Reich eine
Selbstverständlichkeit. Schramm trat als Oberstleutnant der Bundeswehr auf und
schwadronierte mit einer Flasche Bier in der Hand über die Moral der Truppe.
Die Jungs würden da diszipliniert. Man sage ihnen, auf wen sie schießen sollten.
Rechtsradikale Tendenzen gebe es kaum. Die Übergriffe würden mit
Baseballschlägern ausgeführt; die gehörten nicht zur Ausrüstung der Truppe.
Den Eindruck, dass die dritte Auflage des Maulhelden-Festivals ungleich
politischer wird als seine Vorgänger, unterstrich letztendlich Reverend Billy.
Im Habitus eines Fernsehpredigers ruft der Schauspieler Bill Talen zum
Konsumboykott auf. In den USA hat ihn das auf Augenhöhe mit der
Anti-Globalisierungs-Ikone Michael Moore gebracht. Hier zu Lande, wo Konsum noch
nicht als erste Bürgerpflicht ausgerufen ist und man mit festem Glauben allein
keine Wahlen gewinnen kann, wirkte die Prediger-Show ein wenig deplatziert.
Aufmerksamkeit konnte Reverend Billy dennoch erregen. Vor seinem Auftritt im
Tempodrom hatte er in den Potsdamer-Platz-Arkaden den Konsumverzicht gepredigt.
Streikende Studenten stimmten begeistert zu. Die Geschäftsleute verstanden
keinen Spaß und ließen den Reverend polizeilich abführen. Vielleicht
konstituiert sich ja ausgerechnet im Verein mit Maulhelden eine relevante
politische Kraft.
Noch bis zum 24.01.
Dienstag, 20. Januar 2004
"Tätervolk"
ist Unwort des Jahres
Der vor allem in der Hohmann-Affäre überanstrengte Begriff
"Tätervolk" ist zum Unwort des Jahres 2003 erkoren worden.
Frankfurt/Main
- Die bei der Goethe-Universität angesiedelte unabhängige Jury gab am Dienstag
in Frankfurt am Main ihre Entscheidung bekannt. Damit sei ein Begrif gewählt
worden, der schon "grundsätzlich verwerflich" sei, sagte ein
Jury-Sprecher.
Vor
allem in der Affäre um den hessischen CDU-Politiker Martin Hohmann im Herbst
letzten Jahres wurde der Begriff "Tätervolk" über die Maßen bemüht.
Mit
dem "Unwort des Jahres" werden sprachliche Missgriffe in der
öffentlichen Kommunikation bezeichnet, die "sachlich grob unangemessen
sind und möglicherweise sogar die Menschenwürde verletzen". Die Juroren
hatten aus 2215 Zuschriften mit 1160 verschiedenen Vorschlägen einen Begriff
auszuwählen.