Mittwoch, 21. Januar 2004

Einig mit Martin Hohmann

Das "Unwort des Jahres 2003" ist "Tätervolk"

Stephan Speicher

Neben den "Wörtern des Jahres", die regelmäßig kurz vor Weihnachten präsentiert werden, gibt es einen zweiten, noch schlimmeren (weil moralisch ansprüchlicheren) Missbrauch der Sprachkritik, das "Unwort des Jahres". Mit großem Tuten wird beanstandet, was auf der Hand liegt, mal die "ethnische Säuberung", mal die "Rentnerschwemme", und öfters auch mal ungeschickte, aber harmlose Wendungen wie Hilmar Koppers "Peanuts". Die Auswahl trifft ein vierköpfiges Gremium von Sprachwissenschaftlern unter dem Vorsitz von Horst D. Schlosser, Professor in Frankfurt am Main, dazu kommen zwei wechselnde Prominente, vorzugsweise aus den Medien. Diese Rolle spielten diesmal Fred Breinersdorf und Reinhold Beckmann. Und deren Aufregung galt für das Jahr 2003 dem Wort "Tätervolk".

Anlass war der Gebrauch in der bekannten Rede des Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann. "Tätervolk" findet die Unwort-Jury schon grundsätzlich verwerflich, weil es den Vorwurf der Kollektivschuld erhebe. Und dies noch auf "die" Juden angewandt, wird als aktueller Beleg für den immer noch wirkenden Antisemitismus bezeichnet.

Die Rede von Hohmann war gewiss schäbig, das ist in dieser Zeitung mehrfach gesagt worden. Aber eines kann man Hohmann nicht vorwerfen: Freude an dem Wort "Tätervolk". Im Gegenteil lief seine krumme, undurchdachte, schlecht informierte Suada auf die Gleichsetzung deutscher und jüdischer Taten hinaus, gerade um zu schließen: "Daher sind weder ,die Deutschen noch ,die Juden ein Tätervolk." Hohmann und die Jury sind sich sprachlich (nicht politisch) also ganz einig. Und doch muss er noch mal dafür herhalten, der Unwort-Jury einen schönen Auftritt zu verschaffen.

Man wird da den medialen Effekt kalkuliert und weiteres nicht bedacht haben. Wie das Wort "Tätervolk" im Deutschen tatsächlich verwendet wird, dazu hatte der Jury-Vorsitzende Schlosser jedenfalls am Dienstag auf Befragen nichts zu antworten. Man habe sich erst am Sonnabend auf dieses Jahres-Unwort geeinigt, da könne er (Professor der Sprachwissenschaft) nicht jetzt schon die Belege nennen. Deshalb sei kurz nachgetragen: Die Belege des Mannheimer Instituts für deutsche Sprache, 23 insgesamt in allen Korpora geschriebener Sprache, weisen auf einen differenzierten Gebrauch in der geschichtspolitischen Debatte.

 

 

Mittwoch, 21. Januar 2004

Aktionsbündnis hat gewählt

Potsdam - Der evangelische Superintendent Heinz-Joachim Lohmann ist gestern mit großer Mehrheit zum neuen Vorsitzenden des Brandenburger Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit gewählt worden. Er stammt aus Rheinland-Pfalz, studierte Theologie in Frankfurt/M., Kiel, Basel, Heidelberg, wurde 1991 in Berlin zum Pfarrer ordiniert und war ab 1992 im Kirchenkreis Niederer Fläming tätig. Seit 2001 ist Lohmann Superintendent des Kirchenkreises Wittstock-Ruppin. Der 41-Jährige ist verheiratet und hat vier Kinder. ddp

 

 

Mittwoch, 21. Januar 2004

Warum "Tätervolk" ein richtiges Unwort ist

Von Eckhard Fuhr

Berlin - Es gibt Wörter, die niemals in redlich-aufklärerischer Absicht verwendet werden können, weil ihnen die Irreführung als propagandistisches Programm von vorneherein eingeschrieben ist. Sie sind immer falsch und nicht erst durch schlechten Gebrauch falsch geworden. "Tätervolk" ist ein solches Wort. Weil es im vergangenen Jahr die Anstoß erregende Vokabel im Skandal um den Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann war, hat die Frankfurter Jury, die über das "Unwort des Jahres" entscheidet, ein sprachpflegerisches Exempel statuiert, an dem es nichts zu deuteln gibt. "Grundsätzlich verwerflich" sei das Wort "Tätervolk", heißt es in der Begründung. Das bedeutet: Es gibt keinen Kontext, der das Wort legitimieren oder ihm eine Bedeutung geben könnte, die ein Erkenntnisgewinn wäre. Man kann es nur aus dem Wortschatz streichen.

An der Rede Hohmanns kann man fast unter Laborbedingungen beobachten, wie das Wort "Tätervolk" Denken und Sprechen kontaminiert. Hohmann sagte, darauf beruft er sich zur Verteidigung, dass weder Deutsche noch Juden ein "Tätervolk" seien. Aber bis er zu diesem Satz kommt, hat er verbrannte Erde hinter sich gelassen, angesichts derer die politisch korrekte Schlussfolgerung nur noch als besondere Perfidie erscheint.

Hohmann setzte ein Standardmotiv rechtsextremistischer Propaganda, die Behauptung nämlich, dass die Deutschen unter dem Verdikt leben müssten, ein "Tätervolk" zu sein, als objektive Tatsache voraus und inszeniert dann rhetorisch den Hinweis auf die Beteiligung von Juden an den bolschewistischen Verbrechen als Befreiungsschlag ausgleichender Gerechtigkeit. Wenn es erlaubt sei, die Deutschen als "Tätervolk" zu bezeichnen, müsse das auch für die Juden gelten - oder für keinen. Es ist aber nicht erlaubt und auch keineswegs üblich, die Deutschen als "Tätervolk" zu bezeichnen.

Die Vorstellung, die Nation werde in Schande gehalten, entspringt ungelüfteten Underdog-Ressentiments. Das gilt auch für den Reflex, den Juden im Gegenzug das "Tätervolk"-Etikett anzuhängen - wenn auch nur probeweise, so doch in bewährter und hinlänglich bekannter Weise.

Es ist egal, ob bei Hohmann Dummheit oder böse Absicht am Anfang standen. Als seine Rede beim "Tätervolk" angekommen war, konnte sie kein gutes Ende mehr nehmen.

 

 

Mittwoch, 21. Januar 2004

 

Ginsengbonbons gegen Nazis
Antifaschistische Aktionswoche vom 23. Januar bis zum 7. Februar 
 
Von Andreas Fritsche 
 
Die erste Antifaschistische Aktionswoche gab es vor fünf Jahren in Pankow. Sie war eine Reaktion auf den Einzug der Rechtsaußenpartei Republikaner ins Gartenhaus der ehemals jüdischen Garbáty-Villa. Mittlerweile räumten die Republikaner die Immobilie, und die Antifawoche weitete ihren Aktionsradius schrittweise bis ins Brandenburgische aus. Die diesjährige Aktionswoche unter dem Motto »No historical backspin« organisierten verschiedene Gruppen, darunter die Antifaschistische Jugendkoordination Nordost und die Naturfreundejugend. Los geht es am 23. Januar mit einem Konzert, bei dem unter anderen die Band »Ginsengbonbons« spielt. Das Programm (alle Angaben ohne Gewähr):

• 23. Januar, 20 Uhr, Konzert »under pressure!«, Kurt-Lade-Klub, Grabbeallee 33, Pankow
• 24. Januar, 13 Uhr, Führung durch die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen, Treffpunkt Haupteingang, Oranienburg
• 26. bis 30. Januar, Ausstellung: Die Notwendigkeit und Bedeutung der Benes-Dekrete, SBZ Krähenfuß, Hauptgebäude der Humboldt-Universität, Unter den Linden6, rechter Seitenflügel, Mitte
• 27. Januar, 17 Uhr, Dokumentarfilm »Ghetto Lodz«, Ehemaliges Jüdisches Waisenhaus (Betsaal), Berliner Str. 120/ 21, Pankow
• 27. Januar, 18 Uhr, Kundgebung und Lichterkette, Ehemaliges Jüdisches Waisenhaus, Berliner Str. 120/21 anschließend Andacht in der Kirche Alt-Pankow
• 27. Januar, 19 Uhr, Videoabend, JuZ Pogo, Belzig
• 28. Januar, 19 Uhr, Über Geschichtsrevisionismus in der deutschen Politik, SBZ Krähenfuß, Hauptgebäude der Humboldt-Universität, Unter den Linden 6, rechter Seitenflügel, Mitte
• 28. Januar, 19 Uhr, Veranstaltung zum rechtsextremen Märkischen Heimatschutz, Forum gegen Rassismus, Bernauer Str. 21, Oranienburg
• 28. Januar, 19 Uhr, »Nicht in meinem Namen! Geschichten von Mut und Widerstand während des III. Reiches.« Videointerviews mit vier antifaschistischen Widerstandskämpfern aus Berlin, Filmbeginn ca. 20 Uhr, Kurt-Lade-Klub, Grabbeallee 33, Pankow
• 29. Januar, 19 Uhr, Diskussion »Antiamerikanismus ist eine Spielart des Antisemitismus«, Referent: Uli Krug (Redaktion »Bahamas«), Kurt-Lade-Klub, Grabbeallee 33, Pankow
• 30. Januar, 19 Uhr, Veranstaltung zu deutschen AntifaschistInnen in der Résistance, anschließend Film und Gespräch mit Kurt Hälker, Kurt-Lade-Klub, Grabbeallee 33, Pankow
• 30. Januar, 19 Uhr, »Was ist Antifa?«, JuZ Pogo, Belzig
• 30. Januar, 20 Uhr, »Nationalbolschewismus in Russland«, FAU-Lokal, Straßburger Str. 38, Prenzlauer Berg
• 31. Januar 2004, 10 Uhr, Spaziergang zu ehemaligen Stätten jüdischen Lebens in Pankow, Treff am Ehemaligen Jüdischen Waisenhaus, Berliner Str. 120/21, Pankow
• 31. Januar, 22 Uhr, Soli-Konzert für Linke in Wittstock, Kirche von Unten (KVU), Kremmener Str. 9-11, Mitte
• 2. bis 6. Februar 2004 Ausstellung: Die Notwendigkeit und Bedeutung der Benes-Dekrete, Mittendrin, Schinkelstr. 15a, Neuruppin
• 1. Februar, 19 Uhr, Veranstaltung zur Situation in Oranienburg, La Casa, Wurzener Str. 8, Hellersdorf
• 3. Februar, 19 Uhr, Über Antisemitismus und Antizionismus, Kurt-Lade-Klub, Grabbeallee 33, Pankow
• 4. Februar, 20 Uhr, Widerstand im Nordosten Berlins 1933-1945, Kurt-Lade-Klub, Grabbeallee 33, Pankow
• 6. Februar, 19 Uhr, Gesellschaft für völkische Ideologie– die kleine Schwester deutscher Großmachtpolitik, Haus der Demokratie, Greifswalder Straße 4, Prenzlauer Berg
• 6. Februar, 22 Uhr, Party für linke Arbeit außerhalb Berlins, Kathedrale, Schliemannstr. 40, Prenzlauer Berg
• 7. Februar, 20 Uhr, Soli-Konzert, H.O.F. 23, Langhansstr. 23, Weißensee

www.antifawoche.de

 

 

 

Mittwoch, 21. Januar 2004

Friedrich Merz verteidigt Großvaters Ehre

NS-Bürgermeister als Vorbild: Grüner Volker Beck verlangt Distanzierung des Unions-Fraktionsvizechefs

BERLIN taz Unionsfraktionsvize Friedrich Merz hat die Rolle seines Großvaters im Dritten Reich verteidigt. Es möge zwar sein, dass der Bürgermeister Josef Paul Sauvigny "nach 1929 kurzzeitig Erwartungen mit den Nationalsozialisten verbunden" habe. Sauvigny amtierte bis 1937. Nach Merz Angaben in der Berliner Zeitung habe er sich in diesem Jahr frühzeitig pensionieren lassen, weil "die Nazis ihn angekotzt haben". Sauvigny war zu diesem Zeitpunkt 61 Jahre alt.

Merz habe seinen Großvater im Kommunalwahlkampf als "Vorbild" für die Union dargestellt, kritisierte Volker Beck, parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen-Bundestagsfraktion. Er forderte den Union-Fraktionsvize gestern auf, sich unmissverständlich von der politischen Vergangenheit seines Großvaters zu distanzieren.

Erstmals äußerte sich jetzt der Vorsitzende des lokalhistorischen Vereins Demokratische Initiative e. V. Hans-Günther Bracht. "Ob Sauvigny Vorreiter war, ist schwer zu sagen", sagt der Gymnasialdirektor, "aber zumindest hat er als Bürgermeister bis 1937 alles mitgemacht und alles gewusst, ob das Verhaftungen waren, ob das Verhöre waren, ob das Verschleppungen von Sozialdemokraten und Kommunisten in Konzentrationslager betraf."

Von einer Verwicklung Sauvignys in Verhaftungen ist bisher allerdings nichts bekannt. Bracht kritisierte Merz Verhalten: "Das kann passieren am Stammtisch, aber doch nicht in der Politik", sagte er der taz. " PAT

 

 

Mittwoch, 21. Januar 2004

"Alles mitgemacht"

Bürgermeister Sauvigny kannte das Unrecht im NS-Staat, sagen Lokalhistoriker

von PATRIK SCHWARZ
und MARTIN TEIGELER

Den Anfang machte ein 20-jähriger Zivildienstleistender bei der Arbeiterwohlfahrt. Nachdem die Lokalpresse kommentarlos das Lob von Friedrich Merz für die Arbeit seines Großvaters als Bürgermeister "bis 1937" wiedergegeben hatte, war es SPD-Mitglied Dirk Wiese, der im Stadtarchiv die Rede des Josef Sauvigny vom 1. Mai 1933 ausgrub.

"Mein Großvater ist kein Nationalsozialist gewesen", sagte Merz gestern der Berliner Zeitung. Das allerdings behauptet auch niemand. Hans-Günther Bracht, Direktor des Friedrich-Spee-Gymnasiums Rüthen, ist Vorsitzender der Demokratischen Initiative e. V., die seit über 15 Jahre zur Briloner Geschichte forscht. "Ob Sauvigny Vorreiter war, ist schwer zu sagen", meint der Lokalhistoriker, "aber zumindest hat er als Bürgermeister bis 1937 alles mitgemacht und alles gewusst, ob das Verhaftungen waren, ob das Verhöre waren, ob das Verschleppungen von Sozialdemokraten und Kommunisten in Konzentrationslager betraf." So heißt es etwa in der Sauerländer Zeitung vom 19. April 1933 unter der Rubrik "Verhaftungen": "Im Laufe des gestrigen Tages fanden in Brilon umfangreiche Vernehmungen von Personen statt, die im Verdachte kommunistischer Umtriebe bezw. der Mithilfe dazu standen. Insgesamt wurden 21 Personen vernommen, von denen 15 wieder freigelassen werden konnten; 6 von den Verhafteten wurden nachmittags mit Kraftwagen in das Konzentrationslager Werl überführt. Die ganze Aktion, die von der hiesigen Landjägerei in Verbindung mit Hilfspolizeimannschaften durchgeführt wurde, verlief reibungslos." Von einer persönlichen Verwicklung Sauvignys in Verhaftungen ist bisher allerdings nichts bekannt.

Entlastende Indizien gibt es nur in Bezug auf die Abschiedsfeier für Sauvigny. Die Aussage in der Sauerländer Zeitung vom 2. Juli 1937, er habe zwar seit 1917 amtiert, aber "erst durch die Maßnahmen des Dritten Reiches habe die Arbeit wieder Freude gemacht", stammt aus der Abschiedsrede des Oberstadtsekretärs, nicht wie in der taz vom Samstag, berichtet von Sauvigny selbst. Merz erklärte jetzt in der Berliner Zeitung, der Großvater habe sich frühzeitig pensionieren lassen, weil "die Nazis ihn angekotzt haben". Bracht hält das für denkbar. Für ihn zählen die vier Jahre davor.

 

 

Mittwoch, 21. Januar 2004

Ein flotter Farbenwechsel

Friedrich Merz Großvater traf auf der Maifeier 1933 genau den Ton, der auch von Nazis angeschlagen wurde. Der Festredner gab sich als eilfertiger Opportunist und offener Antidemokrat. Eine Analyse

BERLIN taz Am 1. Mai 1933 zeigt sich Josef Paul Sauvigny, Bürgermeister von Brilon, anlässlich seiner Festansprache zum "nationalen Feiertag der deutschen Arbeit" als offener Antidemokrat, Anhänger des Führerstaats und eilfertiger Opportunist.

Seine Rede zeugt von der inneren Zerrüttung, in der sich die Partei Sauvignys, das katholische Zentrum, drei Monate nach der Nazi-Machtergreifung befand. Sauvigny greift die in der Zentrumspartei grassierenden Vorstellungen vom Führerstaat auf und spitzt sie zu. Wo bei ihm von der Weimarer Republik die Rede ist, regiert der Abscheu vor "dem alten Unrat", vor "Parteigezänk", vor dem "ewigen Führerwechsel". Jetzt, nachdem dieser Unrat durch den "nationalsozialistischen Frühlingssturm" weggefegt ist, gilt es, zum großen Befreiungswerk unter der Führung Adolf Hitlers auszuholen, der den "tatgewordenen Aufbauwillen" verkörpert".

Der Lokalpolitiker Sauvigny surft mit diesem Bekenntnis auf der Welle, die seit der Kanzlerschaft Brünings (1930-32) und dem Vorsitz des Prälaten Kaas die einst demokratisch orientierte Zentrumspartei überschwemmt hatte. Schon damals rechnete man mit dem "System" ab und suchte um Brüning einen rivalisierenden Führerkult zu begründen. Schon im März 1933 stimmte die Reichstagsfraktion unisono für das Ermächtigungsgesetz, das Hitlers Terror legalisierte. Wie die Deutsch-Nationalen war die Zentrumsführung der Meinung, Hitler ließe sich in eine konservativ eingefärbte Präsidialdiktatur einbinden. Eine Selbsttäuschung, die am 1. Mai 1933 auch für einen Konservativen leicht zu durchschauen gewesen wäre. Nicht für Sauvigny. Er hegt die Hoffnung, der "Frühlingssturm" werde sich legen, nachdem er "die Luft gereinigt hat". Danach gelte es, die Ärmel hochzukrempeln und "zähe Gründlichkeit" und "altpreußische Zucht" in Anschlag zu bringen, mithin die Tugenden, die angeblich den Hohenzollernstaat geprägt hatten. Hindenburg plus Hitler - der "Geist von Potsdam" wird uns erlösen.

Was hat Sauvigny zum "Tag der deutschen Arbeit" selbst zu sagen? Mit Ausblicken auf die künftige "Organisation der Arbeit", sprich das Schicksal der Gewerkschaften, hält er sich zurück. Schließlich waren die christlichen Gewerkschaften noch offizielle Mitveranstalter des 1. Mai, und die Zerschlagung der gesamten Gewerkschaftsbewegung begann erst einen Tag später. Sauvigny begnügt sich mit Lyrismen. Er schwärmt beim Anblick des "ganzen schaffenden Volkes [also der zwangsvereinten Kapitalisten und Arbeiter, C. S.], das sich ausruhend und in Ehrfurcht vor der deutschen Leistung die Hände reicht". Damit trifft Sauvigny genau den Ton der "Volksgemeinschaft", der von den Nazis angeschlagen wurde.

Wieso heißt der Zentrumsmann Sauvigny die Kundgebungsteilnehmer " im Auftrag der NSDAP willkommen"? Offenbar hat er es sehr eilig, die Farbe zu wechseln, denn das Zentrum löste sich erst im Juni 1933 auf. Er muss den Nazis als Altbürgermeister sehr vertrauenswürdig gewesen sein, denn das Gros der Zentrumsbürgermeister in Rheinland und Westfalen wurde zwischen Februar und Mai 1933 aus dem Amt gejagt. So erging es dem Parteifreund Sauvignys, einem gewissen Konrad Adenauer, Oberbürgermeister von Köln. Der taucht zum Zeitpunkt der Maifeier gerade zu den frommen Brüdern im Kloster Maria Laach ab, nachdem er Hitler 1932 keinen Rathausempfang gewährt und die Beflaggung der Deutzer Brücke zu dessen Ehren untersagt hatte. Sauvigny hingegen amtiert bis 1937, als er mit offiziellem Lob in den Ruhestand verabschiedet wurde. Damit zeichnet er auch noch verantwortlich für die Durchführung der Nürnberger Gesetze, die die deutschen Juden entrechteten und vogelfrei machten.

In summa: Merz hätte besser daran getan, über diesen Vorfahren zu schweigen. "CHRISTIAN SEMLER

 

 

Mittwoch, 21. Januar 2004

Keine Reaktion

Die taz bat Friedrich Merz vorgestern schriftlich um eine Stellungnahme:
"Warum berufen Sie sich öffentlich auf die Rolle Ihres Großvaters als Bürgermeister von Brilon bis 1937?
War Josef Paul Sauvigny in Ihrer Einschätzung Demokrat?
Warum hat er nach Ihrer Auffassung über die Machtergreifung der Nazis hinaus bis 1937 im Dritten Reich als Bürgermeister amtiert?
Gibt es aus Ihrer Sicht Entlastendes, was bei der Beurteilung von Josef Paul Sauvigny berücksichtigt werden sollte?"


Merz antwortete nicht. Stattdessen nannte der Politiker in der "Berliner Zeitung" die Berichterstattung über seinen Fall "ein ziemlich übles Machwerk". PAT

 

 

Mittwoch, 21. Januar 2004

"Deutsches Blut zur Tat"

Die Rede des Briloner Bürgermeisters Josef Paul Sauvigny, kurz nach Hitlers Machtergreifung, am 1. Mai 1933. Eine Dokumentation

[…] Nach einem flott gespielten Marsch der Musikkapelle nahm Herr Bürgermeister Sauvigny das Wort zu folgender Begrüßungsansprache:

"Das neu geformte Deutschland feiert heute seinen ersten Nationalfeiertag. Frühlingshaft, wie der erste Mai, und der Schmuck unserer festlichen Straßen, jung und kraftvoll wie die Scharen seiner jugendlichen Träger, so steht das neue Reich vor uns. Noch brausen die Stürme der nationalen Revolution über es hinweg. Diese Frühlingsstürme, die alten Unrat hinwegfegten, die die Wolken verjagen, die uns bisher die Sonne rauben wollten. Dieser Sturm, der so manchem hart ankommen mag, er wird sich legen, nachdem er die Luft gereinigt hat von allen giftigen Dünsten, die sich in Jahren mißverstandener Freiheit und ohnmächtiger Selbstzerfleischung angesammelt hatten.

Dann erst wird die schwere Arbeit beginnen, die harte, entsagungsschwerste Arbeit des endlichen Wiederaufstieges. Doch während bisher sich deutsche Kraft und deutsches Aufbaustreben zerspalten und verbluten am Parteigezänk und ewigen Führerwechsel, ist es heute ein Wille, der uns eint, eine Kraft, die uns leitet, ein Führer, der uns ruft, vergessend des Parteihasses von gestern, hat das große Sammeln begonnen, die Einigung aller Deutschen, deutschen Blutes zur gemeinsamen Tat, deren Sinnbild der heutige Festtag ist.

[…]

Es ist nicht die Schönheit unseres Vaterlandes, die uns auf der Welt die Geltung verschafft, die wir fordern. Es ist nicht die Größe vergangener Jahrhunderte, die die anderen Völker vergessen haben. Das, was die Völker der Welt uns zu Freunden wirbt oder zu Feinden zwingt, das ist die Qualität der deutschen Arbeit, die aus ungebrochenem Lebenswillen ihre Impulse schöpft, die in deutscher Verstandesleistung ihre Qualität besitzt, die in zäher Gründlichkeit und altpreußischer Zucht ihre unnachahmliche Ausführung erhält. Diese gemeinsame deutsche Arbeit zu feiern, haben wir uns hier zu erhebend großer Zahl vereint.

Im Auftrage der National-Sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei heiße ich Sie alle auf das herzlichste willkommen. Ich wünsche, daß Sie von aller Arbeit ruhend, ihr zu Ehre ein Massenversöhnendes, aufbaubereitendes Fest begehen. Ich fordere Sie alle auf, wenn der Festesjubel verrauscht ist, aufzustehen zur großen Tat, vereint mit Hand anzulegen an das große Befreiungswerk, zu dem wir alle aufgerufen sind, damit deutscher Arbeitswille wieder Raum, deutsche Arbeitsleistung wieder Lohn und deutsche Kultur wieder einen Boden findet. Gott gebe uns allen seinen Segen dazu. Ich bitte Sie sich zu erheben und mit mir einzustimmen in den Ruf: Das arbeitende deutsche Volk, sein ehrwürdiger Reichspräsident, die Verkörperung deutscher Treue, der Kanzler Hitler, sein tatgewordener Aufbauwille, sie leben hoch, hoch, hoch!" […]

Aus dem Artikel "Das Volksfest der nationalen Arbeit in Brilon", erschienen in der "Sauerländer Zeitung", Ausgabe vom 3. Mai 1933

 

 

 

Mittwoch, 21. Januar 2004

Brutaler Angriff auf Techno-Fan

Prozess gegen rechten Schläger

Neuruppin. Im Prozess um die brutale Attacke gegen einen Techno-Fan in Quitzöbel (Prignitz) hat der Angeklagte ein Geständnis abgelegt. Er habe in angetrunkenem Zustand mehrfach auf das 23-jährige Opfer eingetreten, bedauere den Vorfall aber, ließ der Angeklagte zum Prozessauftakt am Dienstag von seinem Verteidiger verlesen. Dem 26-Jährigen aus Perleberg, der sich selbst der rechten Szene zurechnet, wird versuchter Mord vorgeworfen. Er soll das Opfer mehrfach mit Springerstiefeln gegen Oberkörper und Gesicht getreten haben. Der Angegriffene erlitt unter anderem ein Schädelhirntrauma.

Der Übergriff hatte am Rande eines Dorffestes Anfang August 2003 stattgefunden, auf das der Angeklagte mit einer Gruppe Gleichgesinnter gegangen war. Laut Staatsanwaltschaft griff er den jungen Mann an, weil dieser sich als Fan der bei Rechtsradikalen verpönten Techno-Musik zu erkennen gab. Der Täter habe den Tod des Opfers billigend in Kauf genommen. Mehrere Zeugen bestätigten vor Gericht diese Version. Der Angeklagte selbst wies das zurück und erklärte, dass sein Angriff ein Racheakt gewesen sei. Der Schläger war noch am Tatort festgenommen worden. Der Prozess wird am 27. Januar fortgesetzt. Mit dem Urteil wird für den 29. Januar gerechnet. dpa

 

 

Mittwoch, 21. Januar 2004

UNWORT DES JAHRES

Hohmann lobt Jury-Entscheidung für "Tätervolk"

Martin Hohmann kann's nicht lassen. Der aus dem Bundestag ausgeschlossene Abgeordnete hat die Entscheidung der Frankfurter Jury als "gute Wahl" gelobt, den Begriff "Tätervolk" zum Unwort des Jahres zu küren. Der CDU-Mann hatte seiner Partei und Fraktion mit seiner umstrittenen Rede mächtig zugesetzt.

Frankfurt/Main - Die bei der Goethe-Universität angesiedelte unabhängige Jury gab am Dienstag in Frankfurt am Main das "Unwort des Jahres" bekannt. Mit "Tätervolk" sei ein Begriff gewählt worden, der schon "grundsätzlich verwerflich" sei. Er mache "jeweils ohne jede Ausnahme ein ganzes Volk für die Untaten kleinerer oder größerer Tätergruppen verantwortlich, erhebt also den Vorwurf einer Kollektivschuld", sagte Jury-Sprecher Horst Dieter Schlosser.

Hohmann lobte die Entscheidung. Die Bezeichnung "Tätervolk" sei ein ungerechtfertigter Kollektivvorwurf gegenüber einem Volk. Einen solchen Vorwurf lehne er ab. Dies habe er auch in seiner umstrittenen Rede vom 3. Oktober 2003 getan.

Vor allem durch diese Ansprache wurde das Wort "Tätervolk" über die Maßen bemüht. Hohmann hatte in seinem Heimatort Neuhof unter anderem über die Beteiligung von Juden an der kommunistischen Revolution in Russland referiert. Dabei fiel auch der Begriff "Tätervolk". Hohmann sagte dazu am Dienstag, der Kernsatz seiner Rede sei gewesen: "Daher sind weder die Deutschen noch die Juden ein Tätervolk." Hohmann sitzt derzeit als fraktionsloser Abgeordneter im Bundestag. Gegen ihn läuft ein Parteiausschlussverfahren.

"Die Verbindung des Begriffs, wie Hohmann ihn gebrauchte, mit 'den' Juden' zumal, ist ein aktueller Beleg für den immer noch wirkenden Antisemitismus", heißt es in der einstimmig gefallenen Entscheidung der Jury. "Bereits im religiösen, antijudaistischen Ursprung dieser Einstellung wurde das Volk der Juden kollektiv für den Tod Jesu Christi verantwortlich gemacht und sogar als 'Gottesmörder' gebrandmarkt." Schlosser sagte: "'Tätervolk' ist aber keine Erfindung von Herrn Hohmann." Wann das Wort zum ersten Mal verwendet wurde, konnte die Jury jedoch nicht ausmachen.

Sprachwissenschaftler lobten die Wahl des diesjährigen Unworts. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, sagte lächelnd zu der Entscheidung: "Keine Einwände". Der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, Prof. Klaus Reichert, hält die Wahl des Unworts für "sehr gut, weil es unsäglich ist, wenn man ein ganzes Volk zu Tätern stempelt". Ganz besonders "unsäglich dumm" sei es auch gewesen, die Juden oder die Israelis insbesondere zu einem Tätervolk zu machen. "Sozusagen eine Analogie zwischen den Deutschen und den Israelis aufzumachen; überhaupt nur an eine Vergleichbarkeit zu denken", sagte Reichert. Der CDU-Politiker habe das Wort sicher nicht geprägt, "aber es ist durch ihn in Umlauf gekommen".

Auf dem zweiten Platz rügten die Juroren den Begriff "Angebotsoptimierung" als Beschönigung für die Verringerung von Dienstleistungen. So sei die Stilllegung von Bahnstrecken oder der Abbau von Briefkästen als Optimierung angepriesen worden. "Das Wort Optimierung entlarvt sich inzwischen generell als Verschleierung bloßen Profitdenkens", kritisierte Schlosser. Auf Platz drei landete der Begriff "Abweichler". Mit diesem Wort seien Bundestagsabgeordnete diskriminiert worden, die es "gewagt" hätten, ihre im Grundgesetz verankerte Pflicht zur Gewissensentscheidung über einen Fraktions- oder Koalitionszwang zu stellen.

Die sechs Sprachexperten hatten bei der 13. Entscheidung für das Unwort des Jahres zwischen 1160 und damit ungewöhnlich vielen verschiedenen Vorschlägen die Wahl. 2270 Einsender hatten ihr Votum abgegeben, das sei die zweithöchste Beteiligung überhaupt. In die engere Wahl seien auch "Bildungsgutscheine" gekommen, die "neueste Erfindung, die Misere an den Hochschulen zu beschönigen". Außerdem sei 2003 der Begriff "Reform" stark entwertet worden, kritisierte die Jury. Mit 198 Nennungen sei dieses Wort am häufigsten als Unwort vorgeschlagen worden, häufig in Zusammensetzungen wie "Gesundheits-", "Hartz-" oder "Rentenreform".

Die bisherigen "Unwörter":

1993: "Überfremdung"
(Scheinargument gegen den Zuzug von Ausländern)

1994: "Peanuts"
(Der ehemalige Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Hilmar Kopper, geringschätzig über die offenen Handwerkerrechnungen in Höhe von rund 50 Millionen Mark im Zusammenhang mit der Pleite des Bauunternehmers Jürgen Schneider)

1995: "Diätenanpassung"
(Beschönigung der Diätenerhöhung im Bundestag)

1996: "Rentnerschwemme"
(falsches, Angst auslösendes Naturbild für einen sozialpolitischen Sachverhalt)

1997: "Wohlstandsmüll"
(Umschreibung arbeitsunwilliger und -unfähiger Menschen des früheren Verwaltungspräsidenten von Nestlé, Helmut Maucher)

1998: "sozialverträgliches Frühableben"
(zynisch wirkende Ironisierung des Ex-Präsidenten der Bundesärztekammer Karsten Vilmar)

1999: "Kollateralschaden"
(Verharmlosung der Tötung Unschuldiger als Nebensächlichkeit, Nato-offizieller Terminus im Kosovo-Krieg)

2000: "National befreite Zone"
(zynisch heroisierende Umschreibung einer Region, die von Rechtsextremisten terrorisiert wird)

2001: "Gotteskrieger"
(Kein Glaube an einen Gott gleich welcher Religion kann einen Krieg oder gar Terroranschläge rechtfertigen)

2002: "Ich-AG"
(Beleg für zunehmende Versuche, schwierige soziale und sozialpolitische Sachverhalte mit sprachlicher Kosmetik schönzureden)