Mittwoch, 25. Februar 2004

 

Fiasko für die Rechten

Von zwei Neonaziaufmärschen am Samstag in Hessen scheiterte einer vollständig an Antifa-Gegenwehr

Bis zu 500 Teilnehmer hatte das »Aktionsbündnis Mittelhessen« mit Unterstützung von »Freien Kameradschaften« und NPD-Parteigliederungen am Samstag in Gladenbach mobilisieren wollen. Doch zum großspurig angekündigten Aufmarsch fanden sich in der Kleinstadt lediglich etwa 100 Neonazis ein. Am Auftaktort ihrer Demonstration mußten sie dann auch gleichzeitig die Abschlußkundgebung abhalten, da sich die Polizei nicht in der Lage sah, einen Marsch in die Innenstadt durchzusetzen. Mehr als 250 Gegendemonstranten versuchten bereits ab zehn Uhr, zum Treffpunkt der Neonazis zu gelangen, um ihn zu besetzen. Als dies nicht gelang, wurde eine Straße in der Stadt besetzt und gegen 11.30 Uhr der nächste Durchbruchsversuch unternommen. Er scheiterte am massiven Einsatz der Polizei, die mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray vorging, was mehrere Verletzte forderte (siehe auch jW vom 23. Februar, Seite 6).

Rund 450 Menschen waren einem Aufruf von Gewerkschaften, Parteien und Kirchen gefolgt und demonstrierten auf dem Marktplatz friedlich gegen Rechtsextremismus. Bürgermeister Klaus-Peter Knierim erklärte indes, die Kundgebung richte sich ebenso gegen die linke Demonstration.

Am Nachmittag fuhren die Neonazis unter Polizeischutz nach Marburg, wo mehrere hundert Antifaschisten bereits den Neonazitreffpunkt besetzt hatten. So wichen Polizei und die nur noch rund 40 Nazis auf einen Parkplatz im nahegelegenen Gewerbegebiet aus. Die Antifaschisten der Region werteten ihre Aktionen als Erfolg, da es gelang, mehrere hundert Menschen zu Gegenaktionen zu mobilisieren und den »Kameraden« so einen Strich durch die Rechnung zu machen.

 

Mittwoch, 25. Februar 2004

 

Das Blutopfer

Mel Gibsons Jesus-Film: Streit um Antisemitismus-Vorwürfe

»Der Stein, den die Maurer verworfen hatten, ist zum Eckstein geworden«, heißt es in der Bibel. Aktuell gesprochen: Ein Film, den keine der großen US-amerikanischen Verleihfirmen in die Kinos bringen wollte, wird wahrscheinlich zum Kassenschlager und zum am meisten diskutierten Leinwandereignis des Jahres werden.

Für den konservativen Rabbi Daniel Lapin, den Vorsitzenden der Organisation Toward Tradition, ist es »der ernsthafteste und authentischste Bibelfilm, der je gedreht wurde«. Andere jüdische Organisationen – hauptsächlich die Anti-Defamation League, das American Jewish Committee und das Simon Wiesenthal Center in Los Angeles – verurteilen den Film als antisemitisch und warnen, daß er zu gewalttätigen Angriffen auf Juden führen werde.

Mel Gibsons »The Passion of the Christ« läuft heute, am Aschermittwoch, dem ersten Tag der katholischen Fastenzeit, in 2 800 amerikanischen Filmtheatern an. Große Erfolgsfilme, wie etwa der »Herr der Ringe«, werden in ungefähr 3 600 bis 3 700 Kinos gleichzeitig gestartet. Gibsons Film, den seine Produktionsfirma Icon zusammen mit dem relativ kleinen Verleih Newmarket Films herausbringt, liegt also gut im Rennen. Es wird damit gerechnet, daß das Jesus-Opus die 25 bis 30 Millionen Dollar, mit denen Gibson den Film aus seinem Privatvermögen finanziert hat, schon in der ersten Woche einspielen wird.

Ungewöhnlich für den Start eines US-Films: »The Passion of the Christ« läuft zunächst nur in ganz wenigen Kinos der Metropolen, dafür aber flächendeckend im sogenannten Bibelgürtel, im Süden und in der Mitte der USA. Hauptzielgruppe sind die Evangelikalen, also Fundamentalisten unterschiedlicher protestantischer Sekten. Die Zahl ihrer Anhänger wird in den USA auf 25 bis 50 Millionen geschätzt. Gibsons PR-Stab hat mit Vorabvorführungen des Films für Prediger und andere Multiplikatoren aus diesem Spektrum sowie mit dem großzügigen Versand von DVDs des Films an evangelikale Gemeinden solide Vorarbeit geleistet.

Der kommerzielle Erfolg des Films ist also sichergestellt. Eine offene Frage ist jedoch, ob Gibsons Passionsfilm in einer späteren Phase auch nicht ganz so streng religiös eingestellte Teile der amerikanischen Bevölkerung erreichen und in seinen Bann schlagen wird.


Konservativer als der Papst

Der 1956 geborene Mel Gibson ist u.a. bekannt durch die Filme »Mad Max« (1979 und 1981), »Braveheart« (1995) und »The Patriot« (2000), in denen er die Hauptrollen spielte. Für den von ihm produzierten Film »Braveheart«, in dem er auch Regie führte, bekam er zwei Oscars. Schon seit einer Lebenskrise vor etwa zwölf Jahren habe er einen Jesus-Film geplant, sagt Mel Gibson jetzt. Der Filmemacher gehört, ebenso wie sein 85jähriger Vater, der sogenannten traditionalistischen Strömung innerhalb des Katholizismus an. Diese Richtung hat sich, zunächst unter Führung des 1988 exkommunizierten, inzwischen verstorbenen französischen Erzbischofs Lefebvre, aus Protest gegen die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils – das in vier Sitzungen zwischen 1962 und 1965 stattfand – mehr oder weniger von der offiziellen katholischen Kirche gelöst. Die Traditionalisten haben sich seither in eine unüberschaubare Vielfalt von Sekten und autonomen Gemeinden aufgesplittert, deren Auffassungen zum Teil sehr weit auseinandergehen.

Ein zentraler gemeinsamer Nenner ist das Festhalten am Ritual der Anfang der 70er Jahre abgeschafften Tridentiner Messe, die ausschließlich auf Lateinisch zelebriert wird. Weitgehend gemeinsam ist den Traditionalisten auch die Ablehnung der »ökumenischen« Bestrebungen des katholischen Mainstreams, also des Versuchs, unterschiedliche Sektoren des Christentums enger zusammenzuführen. Die Traditionalisten lehnen beispielsweise gemeinsame Gottesdienste mit Protestanten oder Angehörigen der orthodoxen Kirchen ab. Sie halten ausdrücklich am Grundsatz »Extra Ecclesiam Nulla Salus« fest, der seit dem 6. Jahrhundert von vielen Päpsten bekräftigt wurde, zuletzt von Pius XII (1939-1958). Zu deutsch heißt der Satz: Kein Heil außerhalb der Kirche. Soll heißen: Nur die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche – worunter viele Traditionalisten ausschließlich ihre eigene Sekte verstehen – rettet vor der ewigen Verdammnis. Die Versuche des Vatikans, einen Dialog mit nicht-christlichen Religionsgemeinschaften zu führen, werden als Verrat verhöhnt und beschimpft.

Ein radikaler Flügel der Traditionalisten sind die sogenannten Sedevacantisten. Sie sprechen allen oder einigen der Nachfolger von Pius XII die Legitimität ab. Dieser Minderheitsflügel zerfällt wiederum in zahlreiche Fraktionen, von denen einige sogar Gegenpäpste nominiert haben.

Ein erheblicher Teil der Traditionalisten vertritt einzelne rechtsextreme und antisemitische Auffassungen – oder bietet zumindest Hetzern eine offene Plattform. Der Vater von Mel Gibson beispielsweise, der mehrere Bücher publiziert hat, ist ein notorischer Holocaust-Leugner. Außerdem glaubt er, daß eine Verschwörung von Juden und Freimaurern den Vatikan beherrscht. Auch die offizielle Darstellung der Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 lehnt er ab.

Wo Mel Gibson selbst innerhalb des vielfältigen Spektrums der Traditionalisten steht, deren Anhängerschaft in den USA auf 50 000 bis 100 000 geschätzt wird, ist mit Blick auf seinen Film und die Vorwürfe des Antisemitismus selbstverständlich eine interessante Frage. Anscheinend kann dies aber niemand genau beantworten. Gibson gehört einer ganz kleinen Gruppe oder Gemeinde mit etwa 70 Mitgliedern an, die sich Holy Family nennt und der er eine Kirche in Malibu, in der Nähe von Los Angeles, gestiftet hat. Es ist bekannt, daß Gibson in »Moralfragen« wie Abtreibung, Verhütung und Homosexualität extrem konservative Ansichten vertritt.


Realistisch, aber nicht authentisch

»The Passion of the Christ« behandelt die letzten zwölf Stunden im Leben Jesu, von der Festnahme im Garten Gethsemane über die Verhandlungen im jüdischen Rat und vor dem römischen Statthalter Pilatus bis hin zu den Folterungen und zur Hinrichtung am Kreuz. Kurze Rückblicke auf einzelne Lebensstationen Jesu unterbrechen die Handlung, in deren Zentrum Qualen, Schmerzen und Demütigungen stehen, die mit einem Maximum an Brutalität und Realismus dargestellt sind. Blut fließt in Strömen und mischt sich mit dem Wein des Abendmahls, getreu des von den Traditionalisten verteidigten alten Glaubenssatzes, daß die Erlösung der Menschheit in erster Linie durch das Opferblut Christi – und nicht durch seine Auferstehung – herbeigeführt wird.

Der Film reduziert Jesus also im wesentlichen auf sein Leiden und Sterben, drängt sein Leben und seine Lehre an den Rand oder ignoriert sie. Diese Reduktion wird dadurch verstärkt und ins Extrem getrieben, daß im Film nur Lateinisch und Aramäisch – die mit dem Hebräischen und Arabischen verwandte Umgangssprache jener Zeit, in der auch der größte Teil des Talmud verfaßt ist – gesprochen wird. Mel Gibson wollte zuerst sogar völlig auf Untertitel verzichten, hat diese dann aber doch, wenn auch mit sehr sparsamen Texten, eingefügt.

Der seltsame Kunstgriff soll die Zuschauer in der Illusion bestärken, nicht ein von Mel Gibson inszeniertes Schauspiel zu sehen, sondern Zeuge der Ereignisse zu sein, so wie sie sich damals zugetragen haben. Denn das ist Gibsons Behauptung: Sein Film zeige die Geschichte exakt so, wie sie in den vier Evangelien geschildert wird. Aber erstens stimmen die vier Berichte durchaus nicht in sämtlichen Punkten überein. Und zweitens hat Gibson eine Reihe von Szenen erfunden oder aus zweifelhafter Literatur übernommen, die in keinem der vier Evangelien vorkommen. Er hat außerdem die Rolle der Mutter Gottes fast bis zur Allgegenwärtigkeit während sämtlicher Szenen ausgedehnt und den ebenso permanent herumspukenden androgynen Teufel frei erfunden.

Auch die vorgebliche Authentizität der lateinischen und aramäischen Dialoge ist nur eine Täuschung. Verständigungssprache im gesamten östlichen Mittelmeerraum war damals nicht Latein, sondern Griechisch – die Sprache, in der auch das Neue Testament verfaßt ist. Für das im Film gesprochene »Straßenlatein«, das natürlich von der uns überlieferten Kunstprosa der Schriftsteller erheblich abwich, gibt es kaum Quellen. Es ist also ein Kunstprodukt, ein sehr subjektiver Versuch einer Rekonstruktion. Zudem weiß niemand genau, wie das damalige Latein ausgesprochen wurde. Ganz sicher aber nicht mit breitem amerikanischen Akzent, wie in Gibsons Film.

Kurz: Der Film wäre kaum weniger »authentisch«, wenn die Dialoge auf Mongolisch und Tscherkessisch geführt würden. Entscheidend ist: Man versteht von Anfang bis Schluß kein Wort und ist total den aufwühlenden, brutalen, zugleich höchst malerisch inszenierten Bildern unerträglich gesteigerter Schmerzen und Leiden ausgeliefert.

Gibsons Botschaft: Jesus ist aus Liebe zu uns für unsere Sünden gestorben. Nicht nur für die Sünden seiner Zeitgenossen, sondern zugleich für alle Generationen vor ihm und nach ihm. Das Blut Jesu wäscht uns von unseren Sünden rein, und ohne Jesu Opfertod gäbe es keine Vergebung der Sünden und keine Versöhnung mit Gott. Das entspricht der offiziellen Theologie sowohl der katholischen wie der protestantischen Kirchen.

Umso erstaunlicher ist, daß es in den drei Evangelien, die als weitgehend übereinstimmende Darstellung des Lebens Jesu gelten (Markus, Lukas und Matthäus) absolut keinen einzigen Hinweis auf dieses fragwürdige theologische Konstrukt gibt. Aussage ist dort vielmehr, daß der Mensch durch »Metanoia« – eigentlich »Umdenken«, in herkömmlichen Bibeln meist mit »Buße« übersetzt – dazu kommt, sich von Sünden frei zu machen. Also durch eigenes, selbstverantwortliches Handeln.

Das Bild von Jesus als »Lamm, das die Sünden der Welt trägt«, findet sich erst bei Johannes, im spätesten der vier Evangelien. Zum theologischen Gebäude hat es erst Paulus erweitert, dessen Anschauungen von der in den Evangelien überlieferten Lehre Jesu sehr weit entfernt waren. Paulus verdankt das Christentum die schauerliche Theorie der »Erbsünde« – wonach schon das ungeborene Kind sündhaft ist -, ebenso wie die nicht weniger perverse Anschauung, daß Erlösung nicht durch das eigene Handeln zu erreichen sei, sondern nur durch das Blutopfer Jesu.


Jüdische »Kollektivschuld«?

Am 9. März 2003, als noch nicht einmal die Dreharbeiten im süditalienischen Matera ganz abgeschlossen waren, erschien in der New York Times ein Artikel, der Äußerungen von Mel Gibsons Vater benutzte, um auf diesem Wege den Angriff auf den Film – über den zu diesem Zeitpunkt so gut wie nichts bekannt war – zu eröffnen.

Seit Juni 2003 greifen mehrere jüdische Organisationen der USA den Film als antisemitisch an, zunächst lediglich auf Grundlage eines vorläufigen Drehbuchs, das man sich auf nicht ganz regulären Wegen verschafft hatte. Die schärfste Polemik führt die Anti-Defamation League (ADL), eine eigens zur Bekämpfung des Antisemitismus geschaffene Filiale der internationalen Organisation B’nai B’rith. Den Angriffen schloß sich das American Jewish Committee (AJC) an, das den laizistischen Rechtszionismus repräsentiert und in den letzten Jahren eine starke internationale Aktivität entwickelt hat. Es gab jedoch schon früher Anzeichen dafür, daß die Kampagne gegen Gibsons Film in den Reihen des AJC umstritten war. Dort sieht man offenbar das Risiko, auf einem Nebenschauplatz einen nicht gewinnbaren Streit mit den Evangelikalen, den stärksten Verbündeten des Rechtszionismus und der Scharon-Regierung, zu entfesseln. Das Simon Wiesenthal Center, repräsentiert durch Rabbi Marvin Hier, legte von Anfang an eine differenzierte, auf Dialog und gegenseitiges Verständnis statt auf Wortkrieg orientierte Argumentation vor.

Die meisten jüdischen Organisationen der USA hielten sich aus dem Streit um den Film ganz heraus. Einige, wie die sehr konservative Gruppe Toward Tradition um den orthodoxen Rabbiner Daniel Lapin, kritisierten in offener und scharfer Form die Polemik gegen den Film: Die Angriffe seien nicht nur sachlich falsch und unberechtigt, sondern sie seien eine Beleidigung für die christlichen Mitbürger und gefährdeten das ausgezeichnete, freundschaftliche Verhältnis zwischen Christen und Juden in den USA. Wo es antisemitische Gewalttäter gebe, sei heute das Christentum nicht die Ursache dafür, sondern das Heilmittel dagegen. Nicht die Christen stellten heute, weltweit betrachtet, die Gefahr dar, sondern der Islam. Womit wir beim »neokonservativen« Hintergrund der Argumentation von Rabbi Lapin wären.

Die Kritik der ADL an Gibsons Film richtete sich zunächst gegen eine Stelle, wo die vor dem Amtssitz des römischen Statthalters versammelte Menschenmenge Pilatus auffordert, Jesus kreuzigen zu lassen, und dann ausruft: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!« Der Satz steht nur bei Matthäus, nicht in den drei anderen Evangelien. Er ist von den Christen beider Konfessionen jahrhundertelang benutzt worden, um »die Juden« als »Gottesmörder« zu diffamieren und eine jüdische »Kollektivschuld« zu konstruieren. In Wirklichkeit ist das bei Matthäus nicht gemeint, aber Tatsache bleibt, daß der Satz in diesem Sinn permanent mißbraucht wurde, daß er auf viele Juden verletzend wirkt und zur Erzeugung antijüdischer Stimmungen geeignet ist. Dies umso mehr, da Gibsons Passionsfilm völlig auf Emotionalisierung angelegt ist. Aufgrund der Kritik ließ Gibson sehr schnell mitteilen, er habe den Satz aus dem Film herausgeschnitten. Angeblich ist er zwar im aramäischen Ton immer noch enthalten, aber er wird nicht mehr als Untertitel angezeigt.

Ab diesem Zeitpunkt wurde deutlich, daß die ADL den Satz zwar als die am leichtesten angreifbare Schwachstelle gewählt hatte, daß sie aber grundsätzlich die Passionsgeschichte, so wie sie nicht nur in Gibsons Film, sondern im wesentlichen auch in den Evangelien erzählt wird, als antisemitisch interpretiert. Tatsächlich wird dort dem jüdischen Establishment jener Zeit, aber keineswegs den Juden schlechthin, eine maßgebliche Schuld an der Hinrichtung Jesu zugeschrieben. Die Angriffe der Evangelien auf die jüdische Obrigkeit finden ihr Vorbild in zahllosen Parallelstellen bei den Propheten des Alten Testaments. Auch der dem Matthäus-Zitat (»Sein Blut komme über uns ...«) zugrunde liegende Gedanke, historische Katastrophen – in diesem Fall die Zerstörung des Tempels durch die Römer 40 Jahre nach Jesu Hinrichtung – als Strafe für eigenes Fehlverhalten zu interpretieren, ist den alttestamentarischen Propheten geläufig.

Jesus und seine Anhänger waren gläubige, praktizierende Juden, vermutlich Ultraorthodoxe nach heutigem Verständnis, jedenfalls bestimmt keine Dissidenten oder gar Abtrünnige. Jesus Zielgruppe war erklärtermaßen ausschließlich »Gottes Volk Israel«. Das blieb auch nach seinem Tod zunächst die Orientierung seiner Schüler. Daß später auch Nichtjuden sich der Gemeinde anschlossen, löste eine Krise mit heftigen Diskussionen aus.

Woher wissen wir das? Mangels anderer Quellen ausschließlich aus den Evangelien, der Apostelgeschichte und den übrigen Schriften des Neuen Testaments. Hätte es bei den ersten Generationen der »christlichen« Gemeinde auch nur das geringste antijüdische Ressentiment gegeben, so wären die jüdischen Wurzeln selbstverständlich als anstößig empfunden und aus den Schriften getilgt worden. Aber selbst Paulus, der maßgeblich zur Zerstörung der Lehre Jesu beigetragen hat, betonte stolz nicht nur sein eigenes Judentum, sondern formulierte auch, daß das Volk Israel »Gottes erste Liebe« sei und bleibe.

Das Problem liegt nicht bei den ersten Generationen der »christlichen« Gemeinde. Sondern da, wo die Lehre eines besitzlosen Wanderpredigers, der im Kampf gegen das Establishment und gegen sinnentleerte Formalitäten sein Leben einsetzte und verlor, zu einer Staatsreligion der Reichen und Mächtigen entstellt wurde. Und da, wo aus einer Sekte innerhalb des Judentums eine Kirche wurde, die jahrhundertelang ungeheuerliche Verbrechen an den Juden beging oder verursachte.

Der Film von Mel Gibson wird zur Problematisierung und Aufklärung dieses Sachverhalts nichts beitragen. Er hat sich diese Aufgabe auch gar nicht erst gestellt. Es bleibt zu hoffen, daß er ein außerordentliches Kunstwerk ist – woran nach allen Berichten von Leuten, die ihn schon gesehen haben, nicht zu zweifeln ist – und daß er nicht allzu viel ideologischen Schaden anrichtet.

 

Mittwoch, 25. Februar 2004

 

Bei Neonazis auf dem Sofa

Der Dokfilm »No Exit«

Unsere Nazis, die unbekannten Wesen. In Franziska Tenners 100-Minuten-Dokfilm »No Exit« sitzen die sechs jungen Männer und Frauen der »Freien Kameradschaft Frankfurt (Oder)« mit verschränkten Armen auf einem dieser Riesenwohnzimmersofas und schlafen fast ein, während ihr verlegener Anführer eine sogenannte Schulung »über das Nationale« so hölzern wie nur möglich herunterleiert. Er ist 22, arbeitet als Versicherungsvertreter und singt manchmal Liedchen wie Frank Rennicke im Altersheim, wo immerhin noch jemand zuhört. Der sei halt NPD, ziemlich langweilig und blöd, sagen zwei »Kameraden« über ihn, zur Strafe wird er abgewählt. Der neue Chef ist 19, will sich mehr »ums Persönliche« kümmern, muß dann aber wegen Körperverletzung ins Gefängnis, und die »Freie Kameradschaft« löst sich auf.

Vorher fragt ihn jemand bei einer Flugblattaktion »gegen Kinderschänder«, wofür die »Kameradschaft« eigentlich stünde. »Schwierige Frage«, meint er und weiß es nicht. Aber daß er zufällig jemanden töten könnte, das weiß er – könnte ihm angeblich auch passieren. Normalerweise reicht ein einziger gemütlicher Polizist, um gegen die »Kameraden« zwei Minuten nach deren Erscheinen einen Platzverweis auszusprechen. Die Transparente, die sie umständlich zu Hause produzieren, sehen ihrer Meinung nach unmöglich aus, außerdem wird dabei auch noch der Teppich ruiniert. Präsentiert man dann abends eines auf menschenleerer Straße, weht es der Wind fast weg. Dieser »nationale Widerstand« ist verdammt verlorener Slapstick. Allerdings spricht keiner der Protagonisten im Film über Politik. Hat die Regisseurin einfach nicht interessiert.

* »No Exit«, Regie: Franziska Tenner, BRD 2003, 100 Minuten, ab Donnerstag in Berlin täglich 17 Uhr in der Brotfabrik, 17.30 Uhr im Kino in den Hackenschen Höfen (Sonntag: 11 Uhr)

 

Mittwoch, 25. Februar 2004

 

Viele Opfer und Zeugen schweigen

Chronologie rechtsextremer, rassistischer, antisemitischer Vorfälle in Berlin 2003 veröffentlicht

Drei Berliner Projekte gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus haben kürzlich eine Chronologie rassistisch und neonazistisch motivierter Gewalttaten und Verbalattacken in Berlin im Jahr 2003 vorgelegt. Die Zahl der Vorfälle in der Hauptstadt sei nach wie vor »erschreckend hoch«, so das Resümee der Vertreter des Antifaschistischen Pressearchivs und Bildungszentrum Berlin (apabiz), der Initiative »Tacheles reden! Gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus« und von »ReachOut – Opferberatung und Bildung gegen Rechtsextremismus und Rassismus«. Die Zusammenstellung führt insgesamt 66 Meldungen auf. Davon handelt es sich bei 42 um Gewalttaten. Die Dokumentation erhebe dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da viele Vorfälle nirgends gemeldet, viele Opfer und Zeugen schweigen würden. Sie kann – wie auch eine bundesweite Chronologie antisemitischer Vorfälle im Jahr 2003 – im Internet unter www.apabiz.de im pdf-Format heruntergeladen werden.

 

Mittwoch, 25. Februar 2004

 

Deutsch-amerikanische Freundschaft

Stefan Waxmann schlug sich mit der Promi-Masseurin Dr. Dot in New York. Es hieß, er sei ein Brandenburger Neonazi. Nicht nur das war ein Irrtum. Jetzt ist er frei

Anja Reich

NEW YORK, im Februar. Der Richter hat nicht viel zu sagen. Er sitzt im New Yorker Kriminalgericht hinter einem Pult, über ihm stehen die Worte "In God we trust". Den deutschen Mann, der vor ihm steht und auf sein Urteil wartet, beachtet er kaum. Er hat nur eine Frage an ihn. "Sind Sie mit der Einigung einverstanden, die Ihr Anwalt und die Staatsanwältin ausgehandelt haben." "Ja", sagt der Angeklagte, und die Dolmetscherin übersetzt. "Yes". Dann ist alles vorbei.

Stefan Waxmann, 34 Jahre alt, Glaser aus Frankfurt am Main, darf aus den USA ausreisen. Es ist kein richtiger Freispruch. Es ist ein Deal: Stefan Waxmann erklärt sich schuldig, Dorothy Stein geschlagen zu haben. Dafür muss er nicht sechs Monate lang in New York auf eine Gerichtsverhandlung warten. Es ist keine Rede mehr von Antisemitismus, es gibt keine Gefängnis- oder Geldstrafe, nur die Gerichtsgebühr von 160 Dollar muss er bezahlen.

Am gleichen Nachmittag wird Stefan Waxmann in eine Lufthansa-Maschine steigen und die Stadt verlassen. So endet eine Geschichte, die vor zwei Monaten in einer New Yorker Bar begann. Es ist die Geschichte eines antisemitischen Überfalls, der wohl keiner war, und es ist die Geschichte einer Freundschaft. Manchmal sind es kleine Begebenheiten, die ein Leben verändern. Für Joshua Gutman, 28jähriger Tischler aus Rhode Island, war es eine Winternacht in der Upper East Side. In dieser Nacht war er mit zwei Deutschen in einer Bar in der 2nd Avenue. "Wir standen um den Tresen herum und haben uns unterhalten", erinnert sich Gutman. "Plötzlich kam eine Frau auf uns zu und schrie etwas auf deutsch. Ich habe nicht verstanden, worum es ging. Ich habe nur gesehen, wie sie plötzlich auf einen der Deutschen eingeschlagen hat. "

Für ihn war es eine Verrückte, "wahrscheinlich betrunken". Er ahnte in diesem Moment nicht, dass er Zeuge eines Vorfalls geworden war, der später in den deutschen Zeitungen und vor Gericht als antisemitische Attacke bezeichnet wird. Dass Dorothy Stein, die Frau aus der Bar, behaupten wird, der Deutsche habe sie angemacht, weil sie einen Davidstern trug, sie Judensau genannt und geschlagen. Gutman, sagt, er habe keinen Davidstern gesehen, und geschlagen habe der Deutsche aus Notwehr.

Das sagt er auch der Polizei. Als sie am Tatort eintrifft und Stefan Waxmann festnimmt, schreit Gutman den Polizisten zu, Waxmann habe gar nichts gemacht. Aber es hilft nichts. Zum Schluss wird auch er festgenommen. Als die beiden Männer in Handschellen ins Gefängnis gebracht werden, fragt Waxmann den Amerikaner, was sie denn jetzt mit ihnen machen würden. "Halt einfach die Fresse", antwortet Gutman. So beginnt ihre Freundschaft. Zwei Monate lang muss der Deutsche in New York auf seine Verhandlung warten. Der Amerikaner wartet mit ihm.

Dorothy Stein ist in Berlin als Prominenten-Masseurin bekannt. Während sie der deutschen Presse sagt, sie wisse jetzt, wie hart es sein müsse, Jude zu sein, fotografiert der Jude Joshua Gutman mit seiner Kamera Waxmanns Verletzungen. Als die New Yorker Staatsanwaltschaft dem Deutschen den Pass abnimmt und der zum Jahreswechsel nicht nach Hause fahren kann, lädt ihn Joshua in sein Haus ein. Sie feiern Silvester und warten auf die nächsten Anhörungen.

Es gibt viele Anhörungen, und es ist fast jedes Mal das Gleiche. Die Dolmetscherin kommt zu spät, die Staatsanwältin ist nicht da, der Richter kennt sich nicht aus. Erst heißt es, Waxmann sei nur der leichten Körperverletzung angeklagt. Dann ist von einem Hassverbrechen die Rede, Mindeststrafe ein Jahr Gefängnis. Beim dritten Mal wird die Anklage zwar wieder runtergestuft, der Pass aber bleibt weg. Diesmal ist das Vergehen zu gering. "Deutschland", sagt der Richter, "wäre wegen so einer kleinen Sache nicht gezwungen, den Angeklagten für ein Verfahren wieder in die USA auszuliefern."

Es geht immer nur um den Ablauf des Verfahrens. Nie um die Geschehnisse der Nacht. Der Angeklagte muss keine Fragen beantworten, Zeugen werden nicht aufgerufen. Aber Gutman ist immer da, bei jeder Anhörung sitzt er im Zuschauerraum und wartet darauf, seine Aussage zu machen. Er würde dem Richter gerne sagen, dass Waxmann kein Rassist sei, dass er zwar die Frau geschlagen habe, aber dass sie es war, die angefangen habe.

Es ist schwer zu sagen, wann Joshua Gutman beschlossen hat, sich um Stefan Waxmann zu kümmern. Vielleicht war es im Polizeiauto. Vielleicht als die deutschen Boulevardzeitungen ihn und Waxmann zu Brandenburger Neonazis erklärten. Der Fall wurde immer größer und immer undurchschaubarer. Und Gutman fühlte sich irgendwie verantwortlich für diesen Deutschen. Er verstand nicht, wie es zu all diesen Behauptungen gekommen war und warum die deutschen Zeitungen sie für Neonazis hielten. Aber er begriff wohl, dass er wichtig war. Er hatte gesehen, was passiert war. Und er war Jude. Ein jüdischer Zeuge in einem antisemitischen Fall. Vielleicht die einzige Hoffnung.

In gewisser Weise waren die beiden Männer wohl Freunde in Not. Einmal, an einem Abend im Januar, saßen sie in einem New Yorker Hotel nebeneinander auf einer Couch. Zum Interview. Waxmann, klein und kräftig, mit dicker Brille. Gutman, groß und schlank. Waxmann sagt, die Sache sehe nicht gut aus. Gutman fällt ihm ins Wort, das sei alles eine riesige Ungerechtigkeit. Alle würden immer nur nach der Frau fragen, für ihn aber sei Waxmann ein Opfer.

Er sagt Wäxmänn. Mit langem Ä. Stefan Waxmann nennt ihn Josh.

Ist ihm denn klar, dass er als Jude ein wichtiger Zeuge ist?

Ja, sagt er kurz.

Erst am Ende des Gespräches kommt Gutman noch einmal auf das Thema zurück. "Ich muss Ihnen noch etwas gestehen", sagt er da. Er erzählt, dass nur sein Vater jüdisch sei, aber nicht seine Mutter. Er habe sich das aber nicht getraut zu sagen, aus Angst, dann als Zeuge nicht mehr so stark zu sein. Eine absurde Situation. Ein deutscher Glaser und ein jüdischer Tischler sitzen in New York auf einem Sofa. Deutsche Zeitungen schreiben, sie seien Neonazis. Und der Jude hat Angst, nicht jüdisch genug zu sein, um seinen Freund entlasten zu können.

An einem Tag im Februar, als alles vorbei ist, stehen zwei Männer auf dem Flughafen JFK. Sie reden nicht viel, sie stehen einfach da. Dann wird der Flug nach Frankfurt aufgerufen, und die beiden umarmen sich vielleicht ein bisschen länger, als man das sonst bei Männern sieht.

 

Mittwoch, 25. Februar 2004

 

15 Jahre Aussiedlerbetreuung
Harburg - Beim Roten Kreuz im Bünte-Treff an der Lühmannstraße 13 gab es gestern Blumen. Aus gutem Grund. Seit 15 Jahren gibt es die Aussiedlerberatung beim DRK Harburg. Und seit 15 Jahren wird sie von Alice Wysinski (45) geleitet. "Ich war damals erst wenige Monate in Deutschland und habe mich mutig beworben", sagt die gebürtige Polin. "Ich bin froh, dass ich die Stelle bekommen habe." Alice Wysinski sagte bei der Geburtstagsfeier im Bünte-Treff: "Den Mut, etwas anzupacken, wünsche ich mir von vielen der Aussiedler. Nur so werden sie auch etwas erreichen."

Auch Peter Sielaff, der stellvertretende DRK-Kreisvorsitzende, sprach das Thema Integration an. Fehlende Sprachkenntnisse sind ein Grund für Probleme, und die Arbeitslosigkeit ein anderer. Außerdem die Tatsache, dass deutsche Firmen die Produktion in Billigländer verlagern. Die Jobs fehlen hier.

Die Aussiedlerberatung des Roten Kreuzes hat einmal 1989 in der Brunsstraße begonnen und umfasste auch Beratungen in der Unterkunft in der Heimfelder Straße. Sie war später in der Friedhofstraße untergebracht und ist seit gut zwei Jahren im Bünte-Treff in der Siedlung "Op de Bünte". Das Interesse an der Stelle ist groß. Peter Sielaff rechnete vor, dass 3500 Aussiedler betreut worden seien.

Beim Roten Kreuz gibt es außerdem seit drei Jahren - vom Bund gefördert - das Projekt "Miteinander", das sich gegen Fremdenfeindlichkeit wendet und für junge Aussiedler Freizeitangebote (von der Ferienfahrt bis zum Ringen und Musizieren) anbietet. Die Förderung läuft jetzt aus. Doch Bedarf besteht weiter. DRK-Geschäftsführer Harald Krüger: "Ich hoffe, dass wir ein neues, aber ähnliches Projekt starten können. Die Anträge laufen, wir erwarten die Zusage im März." A.Br.

 

Mittwoch, 25. Februar 2004

 

Eine präzise Skizze - und steif wie ein Brett

Der Komiker Olli Dittrich spielt Joseph Goebbels

Von Hanns-Georg Rodek

Der Komiker Olli Dittrich steht in seinem 48. Lebensjahr. Dies ist jenes Alter, in dem sich von Berufs wegen lustige Menschen ernsthafte Gedanken machen, ob es das schon gewesen sein kann: midlife crisis der Gag-Kellner. Robin Williams etwa, der Anfang 50 ist, hat seit 1998 keine komische Rolle mehr gespielt. In Deutschland scheint die Nobilitierung des Possenreißers zum Menschendarsteller über eine bestimmte Rolle zu führen. Max Adalbert, Heinz Rühmann, Rudolf Platte, Harald Juhnke, alle erwarben sich die Epauletten der Seriosität als Wilhelm Voigt in Verfilmungen des "Hauptmanns von Köpenick".

Für den hochstapelnden Schuster ist Dittrich noch zu jung, aber seine Kreation - der Imbissphilosoph Dittsche - ist auf bestem Wege zu einer Figur aus dem Volke, wie jene, die Rühmann, Platte & Co. über Jahre als Trockenübungen für den Hauptmann verfeinerten. Anfangs war Dittsche Prolo, krawallend und grob, inzwischen zeichnet Dittrich seine Konturen viel feiner.

Auf der anderen Seite der Medaille Komik stand schon immer das Leiden. Wie viele Komiker haben begonnen, in der Schule Faxen zu machen, um nicht gehänselt zu werden? Make them laugh! Man betrachte Theo Lingen, den roboterhaft Reservierten, hinter dessen verschnupfter Schnöseligkeit und emotionaler Eiseskälte sich tiefe Unsicherheit ahnen lässt. Make them laugh! Danny Kaye hat diese Spaltung in Angst und Exhibitionismus wiederholt gespielt. Im "Doppelleben des Walter Mitty" oder in "Die Lachbombe". Make them laugh!

Das waren noch vordergründig Komödien, doch auch Kaye suchte mit zunehmendem Alter das dramatische Fach. Den Übergang bildete "Jakobowsky und der Oberst", Werfels Tragikomödie über den polnischen Juden, der mit einem antisemitischen Landsmann vor den Deutschen flieht. Einen ähnlichen (Wende-)Punkt erreichte Heinz Rühmann mit Kramers "Narrenschiff", als jüdischer Geschäftsmann, der sich 1933 der Illusion hingibt, dass es ihm unter Hitler nicht schlechter gehen werde.

Eine ganze Generation deutscher Komiker wurde - durch Emigration oder Ermordung - vom NS-Wahn beseitigt; auch deshalb hat sich früh der Komiker als Darsteller von Nazi-Opfern etabliert. Charlie Chaplin war im "Großen Diktator" Täter und Opfer gleichzeitig, und Bobby Watson, Sidney Miller und Peter Sellers gaben komische Film-Hitler - Privileg der Sieger, des Feindes Feldherrn durch den Kakao zu ziehen. Die Besiegten haben sich diese Lizenz zum Lachen 55 Jahre lang durch ernsthafte Vergangenheitsbewältigung erarbeitet. Erst mit "Goebbels und Geduldig" - mit einem doppelten Ulrich Mühe als Propagandaminister und dessen jüdischem Double - wurde das Tabu gebrochen.

Des Komikers Olli Dittrichs Goebbels ist ein weiteres Schrittchen auf dem Weg zur Normalisierung. Statt sich übers "Darf er das?" einen Kopf zu machen, sollte man über die Gabe von Komikern reden, ihre Opfer sehr genau beobachten zu können. Dittrich hat den Goebbels der Wochenschauen seziert und spielt ihn steif wie ein Brett. Es ist ein Zwei-Minuten-Auftritt in Jo Baiers Fernsehfilm "Stauffenberg", und dafür tut Olli Dittrich genau das Richtige mit seiner Motorik, Gestik und Stimme: kein psychologisierendes Porträt, sondern eine präzise Skizze. Das muss man können. Für Dittsche wie für Goebbels.

 

Mittwoch, 25. Februar 2004

 

Gegen Mauern in Europa

Berlin: Diskussionsveranstaltung über türkische und EU-Probleme aus kurdischer Sicht

Welches gesellschaftspolitische Ziel verfolgen eigentlich Linke in Europa beim Thema EU-Beitritt der Türkei? Diese Frage von André Brie, Europaabgeordneter der PDS, und viele andere diskutierten am Montag abend im Berliner Abgeordnetenhaus knapp 70 Teilnehmer einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Deutsch-Kurdischen Freundschaftsvereins. Faik Yagizay für die türkisch-kurdische Partei DEHAP, Nilüfer Koc für den kurdischen Volkskongreß KONGRAGEL und Yavuz Fersoglu, Landessprecher der PDS Hamburg, berichteten dazu über Positionen und Probleme aus kurdischer Sicht.

Eine »privilegierte Partnerschaft«, wie sie die CDU/CSU der Türkei jetzt anbietet, gebe es zwischen Deutschland und der Türkei seit 50 Jahren, machte Yavuz Fersoglu deutlich. Für die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft, das Bagdad-Bahn-Projekt (neuerdings von Bahn-Chef Mehdorn wieder aufgewärmt) und die Allianz deutscher Machtpolitik im Orient mit dem osmanischen Regime und später der kemalistischen Türkei hätten die Kurden viele Jahre teuer bezahlt.

Seine Forderung, »keine Mauern um Europa« zu errichten, bekräftigte er mit Argumenten, die ein Eintreten für den Beitritt der Türkei auch für Linke wichtig mache. Ein Beitritt der Türkei in die EU mache aus vier Millionen türkischen und kurdischen Migranten in der EU gleichberechtigte EU-Bürger, richte sich gegen christlich-abendländischen Rassismus, könne helfen bei der Lösung der kurdischen Frage, stärke die Demokratie und zivile Institutionen in der Türkei und stärke die kulturelle Vielfalt in der EU.

André Brie warnte vor der Instrumentalisierung der kurdischen Frage. Während die EU in ihren offiziellen Dokumenten weiterhin selbst das Wort »Kurden« meide, um die Türkei zu schonen, machten sich nun ausgerechnet die CDU/CSU und andere konservative Kräfte in der EU zu (Schein-)Sprechern für kurdische Anliegen. Die Absicht, mit allen Mitteln die Türkei aus der EU fern zu halten, sei unübersehbar.

Nilüfer Koc kritisierte, die europäische Großmachtpolitik der Vergangenheit habe viel zu der jetzigen Situation der Kurden im Mittleren Osten beigetragen, Europa stehe deshalb in der historischen Verantwortung. Die EU solle nicht nur gegenüber der Türkei, sondern auch gegenüber den Kurden sensibel sein. Der Beitrittsprozeß der Türkei sei bisher nur ein Prozeß von zwei Seiten: Der EU und der türkischen Regierung. Die Kurden als dritte Kraft würden ignoriert. Die Kurden wollten nicht länger Spielball fremder Machtpolitik sein. Das Angebot von André Brie, in der nächsten Legislaturperiode gemeinsam mit interessierten Vertretern anderer Fraktionen im EU-Parlament ein Hearing zur Türkei und zur kurdischen Frage durchzuführen, wurde deshalb beifällig registriert.

Große Hoffnungen setzt die kurdische Linke offenbar auf die kommenden Kommunalwahlen in der Türkei. Nur durch eine breite Basisbewegung in der Türkei, so Nilüfer Koc, Yavuz Fersoglu und Faik Yagizay, könne eine Demokratisierung der Türkei gelingen. Reformen von oben seien weitgehend auf dem Papier geblieben, würden nicht umgesetzt und gingen ihnen auch nicht weit genug. Mehr Rechte für die Frauen, Stärkung der Kommunen, Ausbau der zivilen Institutionen seien einige der wichtigen Ziele des Parteienbündnisses, mit dem die DEHAP zu diesen Wahlen antritt. Am Ende, da waren sich die kurdischen Teilnehmer einig, müssen auch grundlegende Änderungen der türkischen Verfassung stehen: eine Überwindung des kemalistischen Dogmas von der »türkischen« Türkei, die Überwindung von Zentralismus, die Ausschaltung des Militärs aus der türkischen Politik.

Das Publikum nahm diese Hoffnungen mit Skepsis auf. Alle alten Männer und Mächte seien immer noch an den Schalthebeln, die Struktur des Regimes unverändert, die kurdische Seite mache sich illusionäre Hoffnungen.

Akzeptiert wurde von den anwesenden Kurden die Kritik, daß die türkisch-kurdische Migrationszene in Europa sich zu wenig an der hiesigen Debatte um den EU-Beitritt beteilige. Die vier Millionen Migrantinnen und Migranten aus der Türkei – kurdische wie türkische – mischten sich zu wenig in die hiesige Politik ein, auch auf der Linken. Nötig sei mehr türkisch-kurdisch-deutscher Dialog, um den Beitrittsprozeß zu begleiten, aber auch, um gemeinsame linke gesellschaftspolitische Ziele in diesem Beitrittsprozeß zu artikulieren, gegen die EU wie das Regime in der Türkei gleichermaßen – darin waren sich alle einig.

 

Dienstag, 24. Februar 2004

 

 - aus Österreich

Rassismus-Eklat durch israelischen Vize-Minister

 

Der israelische Vize-Verteidigungsminister Seev Boim hat Palästinensern einen "genetischen Defekt" bescheinigt und damit einen Eklat ausgelöst. Während einer Gedenkfeier für die 37 Opfer eines Attentats auf einen israelischen Bus durch palästinensische Selbstmordattentäter 1978 sagte Boim, ein "genetischer Defekt" würde die Palästinenser dazu bringen, Juden zu töten.

Abgeordnete linker Parteien im israelischen Parlament nannten die Äußerung "rassistisch" und forderten Boim auf, sie zurückzunehmen. "Das ist reiner Rassismus, das ist verrückt", sagte der Oppositionspolitiker Avshalom Vilan. "Wie ist es möglich, dass ein offizieller Vertreter der Regierung 60 Jahre nach der Shoah derartige rassistische Äußerungen machen kann?"

Der Abgeordnete Yehiel Hasan, der wie Boim der Likud-Partei von Ministerpräsident Ariel Sharon angehört, pflichtete dem Vize-Minister dagegen bei: "Ich denke, er hat vollkommen Recht. Seit hunderten von Jahren bringen die Araber die Juden um (...). Sie haben das im Blut, das ist etwas Genetisches. Anders kann man es nicht erklären."