Von zwei Neonaziaufmärschen am Samstag in Hessen scheiterte einer
vollständig an Antifa-Gegenwehr
Bis zu 500 Teilnehmer hatte das
»Aktionsbündnis Mittelhessen« mit Unterstützung von »Freien Kameradschaften«
und NPD-Parteigliederungen am Samstag in Gladenbach mobilisieren wollen. Doch
zum großspurig angekündigten Aufmarsch fanden sich in der Kleinstadt lediglich
etwa 100 Neonazis ein. Am Auftaktort ihrer Demonstration mußten sie dann auch
gleichzeitig die Abschlußkundgebung abhalten, da sich die Polizei nicht in der
Lage sah, einen Marsch in die Innenstadt durchzusetzen. Mehr als 250
Gegendemonstranten versuchten bereits ab zehn Uhr, zum Treffpunkt der Neonazis
zu gelangen, um ihn zu besetzen. Als dies nicht gelang, wurde eine Straße in
der Stadt besetzt und gegen 11.30 Uhr der nächste Durchbruchsversuch
unternommen. Er scheiterte am massiven Einsatz der Polizei, die mit
Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray vorging, was mehrere Verletzte
forderte (siehe auch jW vom 23. Februar, Seite 6).
Rund 450 Menschen waren einem Aufruf von Gewerkschaften, Parteien und Kirchen
gefolgt und demonstrierten auf dem Marktplatz friedlich gegen
Rechtsextremismus. Bürgermeister Klaus-Peter Knierim erklärte indes, die
Kundgebung richte sich ebenso gegen die linke Demonstration.
Am Nachmittag fuhren die Neonazis unter Polizeischutz nach Marburg, wo mehrere
hundert Antifaschisten bereits den Neonazitreffpunkt besetzt hatten. So wichen
Polizei und die nur noch rund 40 Nazis auf einen Parkplatz im nahegelegenen
Gewerbegebiet aus. Die Antifaschisten der Region werteten ihre Aktionen als
Erfolg, da es gelang, mehrere hundert Menschen zu Gegenaktionen zu mobilisieren
und den »Kameraden« so einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Mittwoch,
25. Februar 2004
Das Blutopfer
Mel Gibsons Jesus-Film: Streit um Antisemitismus-Vorwürfe
»Der
Stein, den die Maurer verworfen hatten, ist zum Eckstein geworden«, heißt es in
der Bibel. Aktuell gesprochen: Ein Film, den keine der großen US-amerikanischen
Verleihfirmen in die Kinos bringen wollte, wird wahrscheinlich zum
Kassenschlager und zum am meisten diskutierten Leinwandereignis des Jahres
werden.
Für den konservativen Rabbi Daniel Lapin, den Vorsitzenden der Organisation
Toward Tradition, ist es »der ernsthafteste und authentischste Bibelfilm, der
je gedreht wurde«. Andere jüdische Organisationen – hauptsächlich die
Anti-Defamation League, das American Jewish Committee und das Simon Wiesenthal
Center in Los Angeles – verurteilen den Film als antisemitisch und warnen, daß
er zu gewalttätigen Angriffen auf Juden führen werde.
Mel Gibsons »The Passion of the Christ« läuft heute, am Aschermittwoch, dem
ersten Tag der katholischen Fastenzeit, in 2 800 amerikanischen Filmtheatern
an. Große Erfolgsfilme, wie etwa der »Herr der Ringe«, werden in ungefähr 3 600
bis 3 700 Kinos gleichzeitig gestartet. Gibsons Film, den seine
Produktionsfirma Icon zusammen mit dem relativ kleinen Verleih Newmarket Films
herausbringt, liegt also gut im Rennen. Es wird damit gerechnet, daß das
Jesus-Opus die 25 bis 30 Millionen Dollar, mit denen Gibson den Film aus seinem
Privatvermögen finanziert hat, schon in der ersten Woche einspielen wird.
Ungewöhnlich für den Start eines US-Films: »The Passion of the Christ« läuft
zunächst nur in ganz wenigen Kinos der Metropolen, dafür aber flächendeckend im
sogenannten Bibelgürtel, im Süden und in der Mitte der USA. Hauptzielgruppe
sind die Evangelikalen, also Fundamentalisten unterschiedlicher
protestantischer Sekten. Die Zahl ihrer Anhänger wird in den USA auf 25 bis 50
Millionen geschätzt. Gibsons PR-Stab hat mit Vorabvorführungen des Films für
Prediger und andere Multiplikatoren aus diesem Spektrum sowie mit dem
großzügigen Versand von DVDs des Films an evangelikale Gemeinden solide
Vorarbeit geleistet.
Der kommerzielle Erfolg des Films ist also sichergestellt. Eine offene Frage ist
jedoch, ob Gibsons Passionsfilm in einer späteren Phase auch nicht ganz so
streng religiös eingestellte Teile der amerikanischen Bevölkerung erreichen und
in seinen Bann schlagen wird.
Konservativer als der Papst
Der 1956 geborene Mel Gibson ist u.a. bekannt durch die Filme »Mad Max« (1979
und 1981), »Braveheart« (1995) und »The Patriot« (2000), in denen er die
Hauptrollen spielte. Für den von ihm produzierten Film »Braveheart«, in dem er
auch Regie führte, bekam er zwei Oscars. Schon seit einer Lebenskrise vor etwa
zwölf Jahren habe er einen Jesus-Film geplant, sagt Mel Gibson jetzt. Der
Filmemacher gehört, ebenso wie sein 85jähriger Vater, der sogenannten
traditionalistischen Strömung innerhalb des Katholizismus an. Diese Richtung
hat sich, zunächst unter Führung des 1988 exkommunizierten, inzwischen
verstorbenen französischen Erzbischofs Lefebvre, aus Protest gegen die Reformen
des Zweiten Vatikanischen Konzils – das in vier Sitzungen zwischen 1962 und
1965 stattfand – mehr oder weniger von der offiziellen katholischen Kirche
gelöst. Die Traditionalisten haben sich seither in eine unüberschaubare
Vielfalt von Sekten und autonomen Gemeinden aufgesplittert, deren Auffassungen
zum Teil sehr weit auseinandergehen.
Ein zentraler gemeinsamer Nenner ist das Festhalten am Ritual der Anfang der
70er Jahre abgeschafften Tridentiner Messe, die ausschließlich auf Lateinisch
zelebriert wird. Weitgehend gemeinsam ist den Traditionalisten auch die
Ablehnung der »ökumenischen« Bestrebungen des katholischen Mainstreams, also
des Versuchs, unterschiedliche Sektoren des Christentums enger
zusammenzuführen. Die Traditionalisten lehnen beispielsweise gemeinsame
Gottesdienste mit Protestanten oder Angehörigen der orthodoxen Kirchen ab. Sie
halten ausdrücklich am Grundsatz »Extra Ecclesiam Nulla Salus« fest, der seit
dem 6. Jahrhundert von vielen Päpsten bekräftigt wurde, zuletzt von Pius XII
(1939-1958). Zu deutsch heißt der Satz: Kein Heil außerhalb der Kirche. Soll
heißen: Nur die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche – worunter viele
Traditionalisten ausschließlich ihre eigene Sekte verstehen – rettet vor der
ewigen Verdammnis. Die Versuche des Vatikans, einen Dialog mit
nicht-christlichen Religionsgemeinschaften zu führen, werden als Verrat
verhöhnt und beschimpft.
Ein radikaler Flügel der Traditionalisten sind die sogenannten Sedevacantisten.
Sie sprechen allen oder einigen der Nachfolger von Pius XII die Legitimität ab.
Dieser Minderheitsflügel zerfällt wiederum in zahlreiche Fraktionen, von denen
einige sogar Gegenpäpste nominiert haben.
Ein erheblicher Teil der Traditionalisten vertritt einzelne rechtsextreme und
antisemitische Auffassungen – oder bietet zumindest Hetzern eine offene
Plattform. Der Vater von Mel Gibson beispielsweise, der mehrere Bücher
publiziert hat, ist ein notorischer Holocaust-Leugner. Außerdem glaubt er, daß
eine Verschwörung von Juden und Freimaurern den Vatikan beherrscht. Auch die
offizielle Darstellung der Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon
am 11. September 2001 lehnt er ab.
Wo Mel Gibson selbst innerhalb des vielfältigen Spektrums der Traditionalisten
steht, deren Anhängerschaft in den USA auf 50 000 bis 100 000 geschätzt wird,
ist mit Blick auf seinen Film und die Vorwürfe des Antisemitismus
selbstverständlich eine interessante Frage. Anscheinend kann dies aber niemand
genau beantworten. Gibson gehört einer ganz kleinen Gruppe oder Gemeinde mit
etwa 70 Mitgliedern an, die sich Holy Family nennt und der er eine Kirche in
Malibu, in der Nähe von Los Angeles, gestiftet hat. Es ist bekannt, daß Gibson
in »Moralfragen« wie Abtreibung, Verhütung und Homosexualität extrem
konservative Ansichten vertritt.
Realistisch, aber nicht authentisch
»The Passion of the Christ« behandelt die letzten zwölf Stunden im Leben Jesu,
von der Festnahme im Garten Gethsemane über die Verhandlungen im jüdischen Rat
und vor dem römischen Statthalter Pilatus bis hin zu den Folterungen und zur
Hinrichtung am Kreuz. Kurze Rückblicke auf einzelne Lebensstationen Jesu
unterbrechen die Handlung, in deren Zentrum Qualen, Schmerzen und Demütigungen
stehen, die mit einem Maximum an Brutalität und Realismus dargestellt sind.
Blut fließt in Strömen und mischt sich mit dem Wein des Abendmahls, getreu des
von den Traditionalisten verteidigten alten Glaubenssatzes, daß die Erlösung
der Menschheit in erster Linie durch das Opferblut Christi – und nicht durch
seine Auferstehung – herbeigeführt wird.
Der Film reduziert Jesus also im wesentlichen auf sein Leiden und Sterben,
drängt sein Leben und seine Lehre an den Rand oder ignoriert sie. Diese
Reduktion wird dadurch verstärkt und ins Extrem getrieben, daß im Film nur
Lateinisch und Aramäisch – die mit dem Hebräischen und Arabischen verwandte
Umgangssprache jener Zeit, in der auch der größte Teil des Talmud verfaßt ist –
gesprochen wird. Mel Gibson wollte zuerst sogar völlig auf Untertitel
verzichten, hat diese dann aber doch, wenn auch mit sehr sparsamen Texten,
eingefügt.
Der seltsame Kunstgriff soll die Zuschauer in der Illusion bestärken, nicht ein
von Mel Gibson inszeniertes Schauspiel zu sehen, sondern Zeuge der Ereignisse
zu sein, so wie sie sich damals zugetragen haben. Denn das ist Gibsons
Behauptung: Sein Film zeige die Geschichte exakt so, wie sie in den vier
Evangelien geschildert wird. Aber erstens stimmen die vier Berichte durchaus
nicht in sämtlichen Punkten überein. Und zweitens hat Gibson eine Reihe von
Szenen erfunden oder aus zweifelhafter Literatur übernommen, die in keinem der
vier Evangelien vorkommen. Er hat außerdem die Rolle der Mutter Gottes fast bis
zur Allgegenwärtigkeit während sämtlicher Szenen ausgedehnt und den ebenso
permanent herumspukenden androgynen Teufel frei erfunden.
Auch die vorgebliche Authentizität der lateinischen und aramäischen Dialoge ist
nur eine Täuschung. Verständigungssprache im gesamten östlichen Mittelmeerraum
war damals nicht Latein, sondern Griechisch – die Sprache, in der auch das Neue
Testament verfaßt ist. Für das im Film gesprochene »Straßenlatein«, das
natürlich von der uns überlieferten Kunstprosa der Schriftsteller erheblich
abwich, gibt es kaum Quellen. Es ist also ein Kunstprodukt, ein sehr
subjektiver Versuch einer Rekonstruktion. Zudem weiß niemand genau, wie das
damalige Latein ausgesprochen wurde. Ganz sicher aber nicht mit breitem
amerikanischen Akzent, wie in Gibsons Film.
Kurz: Der Film wäre kaum weniger »authentisch«, wenn die Dialoge auf Mongolisch
und Tscherkessisch geführt würden. Entscheidend ist: Man versteht von Anfang
bis Schluß kein Wort und ist total den aufwühlenden, brutalen, zugleich höchst
malerisch inszenierten Bildern unerträglich gesteigerter Schmerzen und Leiden
ausgeliefert.
Gibsons Botschaft: Jesus ist aus Liebe zu uns für unsere Sünden gestorben.
Nicht nur für die Sünden seiner Zeitgenossen, sondern zugleich für alle
Generationen vor ihm und nach ihm. Das Blut Jesu wäscht uns von unseren Sünden
rein, und ohne Jesu Opfertod gäbe es keine Vergebung der Sünden und keine
Versöhnung mit Gott. Das entspricht der offiziellen Theologie sowohl der
katholischen wie der protestantischen Kirchen.
Umso erstaunlicher ist, daß es in den drei Evangelien, die als weitgehend
übereinstimmende Darstellung des Lebens Jesu gelten (Markus, Lukas und
Matthäus) absolut keinen einzigen Hinweis auf dieses fragwürdige theologische
Konstrukt gibt. Aussage ist dort vielmehr, daß der Mensch durch »Metanoia« –
eigentlich »Umdenken«, in herkömmlichen Bibeln meist mit »Buße« übersetzt –
dazu kommt, sich von Sünden frei zu machen. Also durch eigenes,
selbstverantwortliches Handeln.
Das Bild von Jesus als »Lamm, das die Sünden der Welt trägt«, findet sich erst
bei Johannes, im spätesten der vier Evangelien. Zum theologischen Gebäude hat
es erst Paulus erweitert, dessen Anschauungen von der in den Evangelien
überlieferten Lehre Jesu sehr weit entfernt waren. Paulus verdankt das
Christentum die schauerliche Theorie der »Erbsünde« – wonach schon das
ungeborene Kind sündhaft ist -, ebenso wie die nicht weniger perverse
Anschauung, daß Erlösung nicht durch das eigene Handeln zu erreichen sei,
sondern nur durch das Blutopfer Jesu.
Jüdische »Kollektivschuld«?
Am 9. März 2003, als noch nicht einmal die Dreharbeiten im süditalienischen
Matera ganz abgeschlossen waren, erschien in der New York Times ein Artikel,
der Äußerungen von Mel Gibsons Vater benutzte, um auf diesem Wege den Angriff
auf den Film – über den zu diesem Zeitpunkt so gut wie nichts bekannt war – zu
eröffnen.
Seit Juni 2003 greifen mehrere jüdische Organisationen der USA den Film als
antisemitisch an, zunächst lediglich auf Grundlage eines vorläufigen Drehbuchs,
das man sich auf nicht ganz regulären Wegen verschafft hatte. Die schärfste
Polemik führt die Anti-Defamation League (ADL), eine eigens zur Bekämpfung des
Antisemitismus geschaffene Filiale der internationalen Organisation B’nai
B’rith. Den Angriffen schloß sich das American Jewish Committee (AJC) an, das
den laizistischen Rechtszionismus repräsentiert und in den letzten Jahren eine
starke internationale Aktivität entwickelt hat. Es gab jedoch schon früher
Anzeichen dafür, daß die Kampagne gegen Gibsons Film in den Reihen des AJC
umstritten war. Dort sieht man offenbar das Risiko, auf einem Nebenschauplatz
einen nicht gewinnbaren Streit mit den Evangelikalen, den stärksten Verbündeten
des Rechtszionismus und der Scharon-Regierung, zu entfesseln. Das Simon Wiesenthal
Center, repräsentiert durch Rabbi Marvin Hier, legte von Anfang an eine
differenzierte, auf Dialog und gegenseitiges Verständnis statt auf Wortkrieg
orientierte Argumentation vor.
Die meisten jüdischen Organisationen der USA hielten sich aus dem Streit um den
Film ganz heraus. Einige, wie die sehr konservative Gruppe Toward Tradition um
den orthodoxen Rabbiner Daniel Lapin, kritisierten in offener und scharfer Form
die Polemik gegen den Film: Die Angriffe seien nicht nur sachlich falsch und unberechtigt,
sondern sie seien eine Beleidigung für die christlichen Mitbürger und
gefährdeten das ausgezeichnete, freundschaftliche Verhältnis zwischen Christen
und Juden in den USA. Wo es antisemitische Gewalttäter gebe, sei heute das
Christentum nicht die Ursache dafür, sondern das Heilmittel dagegen. Nicht die
Christen stellten heute, weltweit betrachtet, die Gefahr dar, sondern der
Islam. Womit wir beim »neokonservativen« Hintergrund der Argumentation von
Rabbi Lapin wären.
Die Kritik der ADL an Gibsons Film richtete sich zunächst gegen eine Stelle, wo
die vor dem Amtssitz des römischen Statthalters versammelte Menschenmenge
Pilatus auffordert, Jesus kreuzigen zu lassen, und dann ausruft: »Sein Blut
komme über uns und unsere Kinder!« Der Satz steht nur bei Matthäus, nicht in
den drei anderen Evangelien. Er ist von den Christen beider Konfessionen
jahrhundertelang benutzt worden, um »die Juden« als »Gottesmörder« zu
diffamieren und eine jüdische »Kollektivschuld« zu konstruieren. In
Wirklichkeit ist das bei Matthäus nicht gemeint, aber Tatsache bleibt, daß der
Satz in diesem Sinn permanent mißbraucht wurde, daß er auf viele Juden
verletzend wirkt und zur Erzeugung antijüdischer Stimmungen geeignet ist. Dies
umso mehr, da Gibsons Passionsfilm völlig auf Emotionalisierung angelegt ist.
Aufgrund der Kritik ließ Gibson sehr schnell mitteilen, er habe den Satz aus
dem Film herausgeschnitten. Angeblich ist er zwar im aramäischen Ton immer noch
enthalten, aber er wird nicht mehr als Untertitel angezeigt.
Ab diesem Zeitpunkt wurde deutlich, daß die ADL den Satz zwar als die am
leichtesten angreifbare Schwachstelle gewählt hatte, daß sie aber grundsätzlich
die Passionsgeschichte, so wie sie nicht nur in Gibsons Film, sondern im
wesentlichen auch in den Evangelien erzählt wird, als antisemitisch
interpretiert. Tatsächlich wird dort dem jüdischen Establishment jener Zeit,
aber keineswegs den Juden schlechthin, eine maßgebliche Schuld an der
Hinrichtung Jesu zugeschrieben. Die Angriffe der Evangelien auf die jüdische Obrigkeit
finden ihr Vorbild in zahllosen Parallelstellen bei den Propheten des Alten
Testaments. Auch der dem Matthäus-Zitat (»Sein Blut komme über uns ...«)
zugrunde liegende Gedanke, historische Katastrophen – in diesem Fall die
Zerstörung des Tempels durch die Römer 40 Jahre nach Jesu Hinrichtung – als
Strafe für eigenes Fehlverhalten zu interpretieren, ist den
alttestamentarischen Propheten geläufig.
Jesus und seine Anhänger waren gläubige, praktizierende Juden, vermutlich
Ultraorthodoxe nach heutigem Verständnis, jedenfalls bestimmt keine Dissidenten
oder gar Abtrünnige. Jesus Zielgruppe war erklärtermaßen ausschließlich »Gottes
Volk Israel«. Das blieb auch nach seinem Tod zunächst die Orientierung seiner
Schüler. Daß später auch Nichtjuden sich der Gemeinde anschlossen, löste eine
Krise mit heftigen Diskussionen aus.
Woher wissen wir das? Mangels anderer Quellen ausschließlich aus den
Evangelien, der Apostelgeschichte und den übrigen Schriften des Neuen
Testaments. Hätte es bei den ersten Generationen der »christlichen« Gemeinde
auch nur das geringste antijüdische Ressentiment gegeben, so wären die
jüdischen Wurzeln selbstverständlich als anstößig empfunden und aus den
Schriften getilgt worden. Aber selbst Paulus, der maßgeblich zur Zerstörung der
Lehre Jesu beigetragen hat, betonte stolz nicht nur sein eigenes Judentum,
sondern formulierte auch, daß das Volk Israel »Gottes erste Liebe« sei und
bleibe.
Das Problem liegt nicht bei den ersten Generationen der »christlichen«
Gemeinde. Sondern da, wo die Lehre eines besitzlosen Wanderpredigers, der im
Kampf gegen das Establishment und gegen sinnentleerte Formalitäten sein Leben
einsetzte und verlor, zu einer Staatsreligion der Reichen und Mächtigen
entstellt wurde. Und da, wo aus einer Sekte innerhalb des Judentums eine Kirche
wurde, die jahrhundertelang ungeheuerliche Verbrechen an den Juden beging oder
verursachte.
Der Film von Mel Gibson wird zur Problematisierung und Aufklärung dieses
Sachverhalts nichts beitragen. Er hat sich diese Aufgabe auch gar nicht erst
gestellt. Es bleibt zu hoffen, daß er ein außerordentliches Kunstwerk ist –
woran nach allen Berichten von Leuten, die ihn schon gesehen haben, nicht zu
zweifeln ist – und daß er nicht allzu viel ideologischen Schaden anrichtet.
Mittwoch,
25. Februar 2004
Bei Neonazis auf dem Sofa
Der Dokfilm »No Exit«
Unsere Nazis, die unbekannten Wesen. In
Franziska Tenners 100-Minuten-Dokfilm »No Exit« sitzen die sechs jungen Männer
und Frauen der »Freien Kameradschaft Frankfurt (Oder)« mit verschränkten Armen
auf einem dieser Riesenwohnzimmersofas und schlafen fast ein, während ihr
verlegener Anführer eine sogenannte Schulung »über das Nationale« so hölzern
wie nur möglich herunterleiert. Er ist 22, arbeitet als Versicherungsvertreter
und singt manchmal Liedchen wie Frank Rennicke im Altersheim, wo immerhin noch
jemand zuhört. Der sei halt NPD, ziemlich langweilig und blöd, sagen zwei
»Kameraden« über ihn, zur Strafe wird er abgewählt. Der neue Chef ist 19, will
sich mehr »ums Persönliche« kümmern, muß dann aber wegen Körperverletzung ins
Gefängnis, und die »Freie Kameradschaft« löst sich auf.
Vorher fragt ihn jemand bei einer Flugblattaktion »gegen Kinderschänder«, wofür
die »Kameradschaft« eigentlich stünde. »Schwierige Frage«, meint er und weiß es
nicht. Aber daß er zufällig jemanden töten könnte, das weiß er – könnte ihm
angeblich auch passieren. Normalerweise reicht ein einziger gemütlicher
Polizist, um gegen die »Kameraden« zwei Minuten nach deren Erscheinen einen
Platzverweis auszusprechen. Die Transparente, die sie umständlich zu Hause
produzieren, sehen ihrer Meinung nach unmöglich aus, außerdem wird dabei auch
noch der Teppich ruiniert. Präsentiert man dann abends eines auf menschenleerer
Straße, weht es der Wind fast weg. Dieser »nationale Widerstand« ist verdammt
verlorener Slapstick. Allerdings spricht keiner der Protagonisten im Film über
Politik. Hat die Regisseurin einfach nicht interessiert.
* »No Exit«, Regie: Franziska Tenner, BRD 2003, 100 Minuten, ab Donnerstag in
Berlin täglich 17 Uhr in der Brotfabrik, 17.30 Uhr im Kino in den Hackenschen
Höfen (Sonntag: 11 Uhr)
Mittwoch,
25. Februar 2004
Viele Opfer und Zeugen schweigen
Chronologie rechtsextremer, rassistischer, antisemitischer
Vorfälle in Berlin 2003 veröffentlicht
Drei Berliner Projekte gegen
Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus haben kürzlich eine Chronologie
rassistisch und neonazistisch motivierter Gewalttaten und Verbalattacken in
Berlin im Jahr 2003 vorgelegt. Die Zahl der Vorfälle in der Hauptstadt sei nach
wie vor »erschreckend hoch«, so das Resümee der Vertreter des
Antifaschistischen Pressearchivs und Bildungszentrum Berlin (apabiz), der
Initiative »Tacheles reden! Gegen Rechtsextremismus, Rassismus und
Antisemitismus« und von »ReachOut – Opferberatung und Bildung gegen
Rechtsextremismus und Rassismus«. Die Zusammenstellung führt insgesamt 66
Meldungen auf. Davon handelt es sich bei 42 um Gewalttaten. Die Dokumentation
erhebe dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da viele Vorfälle nirgends gemeldet,
viele Opfer und Zeugen schweigen würden. Sie kann – wie auch eine bundesweite
Chronologie antisemitischer Vorfälle im Jahr 2003 – im Internet unter
www.apabiz.de im pdf-Format heruntergeladen werden.
Mittwoch,
25. Februar 2004
Anja Reich
NEW YORK, im Februar. Der Richter hat
nicht viel zu sagen. Er sitzt im New Yorker Kriminalgericht hinter einem Pult,
über ihm stehen die Worte "In God we trust". Den deutschen Mann, der
vor ihm steht und auf sein Urteil wartet, beachtet er kaum. Er hat nur eine
Frage an ihn. "Sind Sie mit der Einigung einverstanden, die Ihr Anwalt und
die Staatsanwältin ausgehandelt haben." "Ja", sagt der
Angeklagte, und die Dolmetscherin übersetzt. "Yes". Dann ist alles
vorbei.
Stefan
Waxmann, 34 Jahre alt, Glaser aus Frankfurt am Main, darf aus den USA
ausreisen. Es ist kein richtiger Freispruch. Es ist ein Deal: Stefan Waxmann
erklärt sich schuldig, Dorothy Stein geschlagen zu haben. Dafür muss er nicht
sechs Monate lang in New York auf eine Gerichtsverhandlung warten. Es ist keine
Rede mehr von Antisemitismus, es gibt keine Gefängnis- oder Geldstrafe, nur die
Gerichtsgebühr von 160 Dollar muss er bezahlen.
Am
gleichen Nachmittag wird Stefan Waxmann in eine Lufthansa-Maschine steigen und
die Stadt verlassen. So endet eine Geschichte, die vor zwei Monaten in einer
New Yorker Bar begann. Es ist die Geschichte eines antisemitischen Überfalls,
der wohl keiner war, und es ist die Geschichte einer Freundschaft. Manchmal
sind es kleine Begebenheiten, die ein Leben verändern. Für Joshua Gutman,
28jähriger Tischler aus Rhode Island, war es eine Winternacht in der Upper East
Side. In dieser Nacht war er mit zwei Deutschen in einer Bar in der 2nd Avenue.
"Wir standen um den Tresen herum und haben uns unterhalten", erinnert
sich Gutman. "Plötzlich kam eine Frau auf uns zu und schrie etwas auf deutsch.
Ich habe nicht verstanden, worum es ging. Ich habe nur gesehen, wie sie
plötzlich auf einen der Deutschen eingeschlagen hat. "
Für
ihn war es eine Verrückte, "wahrscheinlich betrunken". Er ahnte in
diesem Moment nicht, dass er Zeuge eines Vorfalls geworden war, der später in
den deutschen Zeitungen und vor Gericht als antisemitische Attacke bezeichnet
wird. Dass Dorothy Stein, die Frau aus der Bar, behaupten wird, der Deutsche
habe sie angemacht, weil sie einen Davidstern trug, sie Judensau genannt und
geschlagen. Gutman, sagt, er habe keinen Davidstern gesehen, und geschlagen
habe der Deutsche aus Notwehr.
Das
sagt er auch der Polizei. Als sie am Tatort eintrifft und Stefan Waxmann
festnimmt, schreit Gutman den Polizisten zu, Waxmann habe gar nichts gemacht.
Aber es hilft nichts. Zum Schluss wird auch er festgenommen. Als die beiden
Männer in Handschellen ins Gefängnis gebracht werden, fragt Waxmann den
Amerikaner, was sie denn jetzt mit ihnen machen würden. "Halt einfach die
Fresse", antwortet Gutman. So beginnt ihre Freundschaft. Zwei Monate lang
muss der Deutsche in New York auf seine Verhandlung warten. Der Amerikaner
wartet mit ihm.
Dorothy
Stein ist in Berlin als Prominenten-Masseurin bekannt. Während sie der
deutschen Presse sagt, sie wisse jetzt, wie hart es sein müsse, Jude zu sein,
fotografiert der Jude Joshua Gutman mit seiner Kamera Waxmanns Verletzungen.
Als die New Yorker Staatsanwaltschaft dem Deutschen den Pass abnimmt und der
zum Jahreswechsel nicht nach Hause fahren kann, lädt ihn Joshua in sein Haus
ein. Sie feiern Silvester und warten auf die nächsten Anhörungen.
Es
gibt viele Anhörungen, und es ist fast jedes Mal das Gleiche. Die Dolmetscherin
kommt zu spät, die Staatsanwältin ist nicht da, der Richter kennt sich nicht
aus. Erst heißt es, Waxmann sei nur der leichten Körperverletzung angeklagt.
Dann ist von einem Hassverbrechen die Rede, Mindeststrafe ein Jahr Gefängnis.
Beim dritten Mal wird die Anklage zwar wieder runtergestuft, der Pass aber
bleibt weg. Diesmal ist das Vergehen zu gering. "Deutschland", sagt
der Richter, "wäre wegen so einer kleinen Sache nicht gezwungen, den
Angeklagten für ein Verfahren wieder in die USA auszuliefern."
Es
geht immer nur um den Ablauf des Verfahrens. Nie um die Geschehnisse der Nacht.
Der Angeklagte muss keine Fragen beantworten, Zeugen werden nicht aufgerufen.
Aber Gutman ist immer da, bei jeder Anhörung sitzt er im Zuschauerraum und
wartet darauf, seine Aussage zu machen. Er würde dem Richter gerne sagen, dass
Waxmann kein Rassist sei, dass er zwar die Frau geschlagen habe, aber dass sie
es war, die angefangen habe.
Es
ist schwer zu sagen, wann Joshua Gutman beschlossen hat, sich um Stefan Waxmann
zu kümmern. Vielleicht war es im Polizeiauto. Vielleicht als die deutschen
Boulevardzeitungen ihn und Waxmann zu Brandenburger Neonazis erklärten. Der
Fall wurde immer größer und immer undurchschaubarer. Und Gutman fühlte sich
irgendwie verantwortlich für diesen Deutschen. Er verstand nicht, wie es zu all
diesen Behauptungen gekommen war und warum die deutschen Zeitungen sie für
Neonazis hielten. Aber er begriff wohl, dass er wichtig war. Er hatte gesehen,
was passiert war. Und er war Jude. Ein jüdischer Zeuge in einem antisemitischen
Fall. Vielleicht die einzige Hoffnung.
In
gewisser Weise waren die beiden Männer wohl Freunde in Not. Einmal, an einem
Abend im Januar, saßen sie in einem New Yorker Hotel nebeneinander auf einer
Couch. Zum Interview. Waxmann, klein und kräftig, mit dicker Brille. Gutman,
groß und schlank. Waxmann sagt, die Sache sehe nicht gut aus. Gutman fällt ihm
ins Wort, das sei alles eine riesige Ungerechtigkeit. Alle würden immer nur
nach der Frau fragen, für ihn aber sei Waxmann ein Opfer.
Er
sagt Wäxmänn. Mit langem Ä. Stefan Waxmann nennt ihn Josh.
Ist
ihm denn klar, dass er als Jude ein wichtiger Zeuge ist?
Ja,
sagt er kurz.
Erst
am Ende des Gespräches kommt Gutman noch einmal auf das Thema zurück. "Ich
muss Ihnen noch etwas gestehen", sagt er da. Er erzählt, dass nur sein
Vater jüdisch sei, aber nicht seine Mutter. Er habe sich das aber nicht getraut
zu sagen, aus Angst, dann als Zeuge nicht mehr so stark zu sein. Eine absurde
Situation. Ein deutscher Glaser und ein jüdischer Tischler sitzen in New York
auf einem Sofa. Deutsche Zeitungen schreiben, sie seien Neonazis. Und der Jude
hat Angst, nicht jüdisch genug zu sein, um seinen Freund entlasten zu können.
An
einem Tag im Februar, als alles vorbei ist, stehen zwei Männer auf dem
Flughafen JFK. Sie reden nicht viel, sie stehen einfach da. Dann wird der Flug
nach Frankfurt aufgerufen, und die beiden umarmen sich vielleicht ein bisschen
länger, als man das sonst bei Männern sieht.
Mittwoch,
25. Februar 2004
15 Jahre Aussiedlerbetreuung
Harburg - Beim Roten
Kreuz im Bünte-Treff an der Lühmannstraße 13 gab es gestern Blumen. Aus gutem
Grund. Seit 15 Jahren gibt es die Aussiedlerberatung beim DRK Harburg. Und seit
15 Jahren wird sie von Alice Wysinski (45) geleitet. "Ich war damals erst
wenige Monate in Deutschland und habe mich mutig beworben", sagt die
gebürtige Polin. "Ich bin froh, dass ich die Stelle bekommen habe."
Alice Wysinski sagte bei der Geburtstagsfeier im Bünte-Treff: "Den Mut,
etwas anzupacken, wünsche ich mir von vielen der Aussiedler. Nur so werden sie
auch etwas erreichen."
Auch Peter Sielaff, der stellvertretende
DRK-Kreisvorsitzende, sprach das Thema Integration an. Fehlende
Sprachkenntnisse sind ein Grund für Probleme, und die Arbeitslosigkeit ein
anderer. Außerdem die Tatsache, dass deutsche Firmen die Produktion in
Billigländer verlagern. Die Jobs fehlen hier.
Die Aussiedlerberatung des Roten Kreuzes hat einmal 1989 in
der Brunsstraße begonnen und umfasste auch Beratungen in der Unterkunft in der
Heimfelder Straße. Sie war später in der Friedhofstraße untergebracht und ist
seit gut zwei Jahren im Bünte-Treff in der Siedlung "Op de Bünte".
Das Interesse an der Stelle ist groß. Peter Sielaff rechnete vor, dass 3500
Aussiedler betreut worden seien.
Beim Roten Kreuz gibt es außerdem seit drei Jahren - vom
Bund gefördert - das Projekt "Miteinander", das sich gegen
Fremdenfeindlichkeit wendet und für junge Aussiedler Freizeitangebote (von der
Ferienfahrt bis zum Ringen und Musizieren) anbietet. Die Förderung läuft jetzt
aus. Doch Bedarf besteht weiter. DRK-Geschäftsführer Harald Krüger: "Ich
hoffe, dass wir ein neues, aber ähnliches Projekt starten können. Die Anträge
laufen, wir erwarten die Zusage im März." A.Br.
Mittwoch,
25. Februar 2004
Von Hanns-Georg Rodek
Der
Komiker Olli Dittrich steht in seinem 48. Lebensjahr. Dies ist jenes Alter, in
dem sich von Berufs wegen lustige Menschen ernsthafte Gedanken machen, ob es
das schon gewesen sein kann: midlife crisis der Gag-Kellner. Robin Williams
etwa, der Anfang 50 ist, hat seit 1998 keine komische Rolle mehr gespielt. In
Deutschland scheint die Nobilitierung des Possenreißers zum Menschendarsteller
über eine bestimmte Rolle zu führen. Max Adalbert, Heinz Rühmann, Rudolf
Platte, Harald Juhnke, alle erwarben sich die Epauletten der Seriosität als
Wilhelm Voigt in Verfilmungen des "Hauptmanns von Köpenick".
Für den
hochstapelnden Schuster ist Dittrich noch zu jung, aber seine Kreation - der
Imbissphilosoph Dittsche - ist auf bestem Wege zu einer Figur aus dem Volke,
wie jene, die Rühmann, Platte & Co. über Jahre als Trockenübungen für den
Hauptmann verfeinerten. Anfangs war Dittsche Prolo, krawallend und grob,
inzwischen zeichnet Dittrich seine Konturen viel feiner.
Auf der anderen
Seite der Medaille Komik stand schon immer das Leiden. Wie viele Komiker haben
begonnen, in der Schule Faxen zu machen, um nicht gehänselt zu werden? Make them laugh! Man betrachte Theo Lingen, den roboterhaft Reservierten, hinter dessen
verschnupfter Schnöseligkeit und emotionaler Eiseskälte sich tiefe Unsicherheit
ahnen lässt. Make them laugh! Danny Kaye hat diese Spaltung in Angst und
Exhibitionismus wiederholt gespielt. Im "Doppelleben des Walter
Mitty" oder in "Die Lachbombe". Make
them laugh!
Das waren noch
vordergründig Komödien, doch auch Kaye suchte mit zunehmendem Alter das
dramatische Fach. Den Übergang bildete "Jakobowsky und der Oberst",
Werfels Tragikomödie über den polnischen Juden, der mit einem antisemitischen
Landsmann vor den Deutschen flieht. Einen ähnlichen (Wende-)Punkt erreichte
Heinz Rühmann mit Kramers "Narrenschiff", als jüdischer
Geschäftsmann, der sich 1933 der Illusion hingibt, dass es ihm unter Hitler
nicht schlechter gehen werde.
Eine ganze Generation
deutscher Komiker wurde - durch Emigration oder Ermordung - vom NS-Wahn
beseitigt; auch deshalb hat sich früh der Komiker als Darsteller von
Nazi-Opfern etabliert. Charlie Chaplin war im "Großen Diktator" Täter
und Opfer gleichzeitig, und Bobby Watson, Sidney Miller und Peter Sellers gaben
komische Film-Hitler - Privileg der Sieger, des Feindes Feldherrn durch den
Kakao zu ziehen. Die Besiegten haben sich diese Lizenz zum Lachen 55 Jahre lang
durch ernsthafte Vergangenheitsbewältigung erarbeitet. Erst mit "Goebbels
und Geduldig" - mit einem doppelten Ulrich Mühe als Propagandaminister und
dessen jüdischem Double - wurde das Tabu gebrochen.
Des Komikers Olli
Dittrichs Goebbels ist ein weiteres Schrittchen auf dem Weg zur Normalisierung.
Statt sich übers "Darf er das?" einen Kopf zu machen, sollte man über
die Gabe von Komikern reden, ihre Opfer sehr genau beobachten zu können.
Dittrich hat den Goebbels der Wochenschauen seziert und spielt ihn steif wie
ein Brett. Es ist ein Zwei-Minuten-Auftritt in Jo Baiers Fernsehfilm
"Stauffenberg", und dafür tut Olli Dittrich genau das Richtige mit
seiner Motorik, Gestik und Stimme: kein psychologisierendes Porträt, sondern
eine präzise Skizze. Das muss man können. Für Dittsche wie für Goebbels.
Mittwoch,
25. Februar 2004
Gegen Mauern in Europa
Berlin: Diskussionsveranstaltung über türkische und
EU-Probleme aus kurdischer Sicht
Welches gesellschaftspolitische Ziel verfolgen eigentlich
Linke in Europa beim Thema EU-Beitritt der Türkei? Diese Frage von André Brie,
Europaabgeordneter der PDS, und viele andere diskutierten am Montag abend im
Berliner Abgeordnetenhaus knapp 70 Teilnehmer einer Veranstaltung der
Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Deutsch-Kurdischen Freundschaftsvereins. Faik
Yagizay für die türkisch-kurdische Partei DEHAP, Nilüfer Koc für den kurdischen
Volkskongreß KONGRAGEL und Yavuz Fersoglu, Landessprecher der PDS Hamburg,
berichteten dazu über Positionen und Probleme aus kurdischer Sicht.
Eine »privilegierte Partnerschaft«, wie sie die CDU/CSU der Türkei jetzt
anbietet, gebe es zwischen Deutschland und der Türkei seit 50 Jahren, machte
Yavuz Fersoglu deutlich. Für die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft, das
Bagdad-Bahn-Projekt (neuerdings von Bahn-Chef Mehdorn wieder aufgewärmt) und
die Allianz deutscher Machtpolitik im Orient mit dem osmanischen Regime und
später der kemalistischen Türkei hätten die Kurden viele Jahre teuer bezahlt.
Seine Forderung, »keine Mauern um Europa« zu errichten, bekräftigte er mit
Argumenten, die ein Eintreten für den Beitritt der Türkei auch für Linke
wichtig mache. Ein Beitritt der Türkei in die EU mache aus vier Millionen
türkischen und kurdischen Migranten in der EU gleichberechtigte EU-Bürger,
richte sich gegen christlich-abendländischen Rassismus, könne helfen bei der
Lösung der kurdischen Frage, stärke die Demokratie und zivile Institutionen in
der Türkei und stärke die kulturelle Vielfalt in der EU.
André Brie warnte vor der Instrumentalisierung der kurdischen Frage. Während
die EU in ihren offiziellen Dokumenten weiterhin selbst das Wort »Kurden«
meide, um die Türkei zu schonen, machten sich nun ausgerechnet die CDU/CSU und
andere konservative Kräfte in der EU zu (Schein-)Sprechern für kurdische
Anliegen. Die Absicht, mit allen Mitteln die Türkei aus der EU fern zu halten,
sei unübersehbar.
Nilüfer Koc kritisierte, die europäische Großmachtpolitik der Vergangenheit
habe viel zu der jetzigen Situation der Kurden im Mittleren Osten beigetragen,
Europa stehe deshalb in der historischen Verantwortung. Die EU solle nicht nur
gegenüber der Türkei, sondern auch gegenüber den Kurden sensibel sein. Der
Beitrittsprozeß der Türkei sei bisher nur ein Prozeß von zwei Seiten: Der EU
und der türkischen Regierung. Die Kurden als dritte Kraft würden ignoriert. Die
Kurden wollten nicht länger Spielball fremder Machtpolitik sein. Das Angebot
von André Brie, in der nächsten Legislaturperiode gemeinsam mit interessierten
Vertretern anderer Fraktionen im EU-Parlament ein Hearing zur Türkei und zur
kurdischen Frage durchzuführen, wurde deshalb beifällig registriert.
Große Hoffnungen setzt die kurdische Linke offenbar auf die kommenden
Kommunalwahlen in der Türkei. Nur durch eine breite Basisbewegung in der
Türkei, so Nilüfer Koc, Yavuz Fersoglu und Faik Yagizay, könne eine
Demokratisierung der Türkei gelingen. Reformen von oben seien weitgehend auf
dem Papier geblieben, würden nicht umgesetzt und gingen ihnen auch nicht weit
genug. Mehr Rechte für die Frauen, Stärkung der Kommunen, Ausbau der zivilen
Institutionen seien einige der wichtigen Ziele des Parteienbündnisses, mit dem
die DEHAP zu diesen Wahlen antritt. Am Ende, da waren sich die kurdischen
Teilnehmer einig, müssen auch grundlegende Änderungen der türkischen Verfassung
stehen: eine Überwindung des kemalistischen Dogmas von der »türkischen« Türkei,
die Überwindung von Zentralismus, die Ausschaltung des Militärs aus der
türkischen Politik.
Das Publikum nahm diese Hoffnungen mit Skepsis auf. Alle alten Männer und
Mächte seien immer noch an den Schalthebeln, die Struktur des Regimes unverändert,
die kurdische Seite mache sich illusionäre Hoffnungen.
Akzeptiert wurde von den anwesenden Kurden die Kritik, daß die
türkisch-kurdische Migrationszene in Europa sich zu wenig an der hiesigen
Debatte um den EU-Beitritt beteilige. Die vier Millionen Migrantinnen und
Migranten aus der Türkei – kurdische wie türkische – mischten sich zu wenig in
die hiesige Politik ein, auch auf der Linken. Nötig sei mehr
türkisch-kurdisch-deutscher Dialog, um den Beitrittsprozeß zu begleiten, aber
auch, um gemeinsame linke gesellschaftspolitische Ziele in diesem
Beitrittsprozeß zu artikulieren, gegen die EU wie das Regime in der Türkei
gleichermaßen – darin waren sich alle einig.
Dienstag, 24. Februar 2004
- aus Österreich
Der
israelische Vize-Verteidigungsminister Seev Boim hat Palästinensern einen
"genetischen Defekt" bescheinigt und damit einen Eklat ausgelöst.
Während einer Gedenkfeier für die 37 Opfer eines Attentats auf einen
israelischen Bus durch palästinensische Selbstmordattentäter 1978 sagte Boim,
ein "genetischer Defekt" würde die Palästinenser dazu bringen, Juden
zu töten.
Abgeordnete
linker Parteien im israelischen Parlament nannten die Äußerung
"rassistisch" und forderten Boim auf, sie zurückzunehmen. "Das
ist reiner Rassismus, das ist verrückt", sagte der Oppositionspolitiker
Avshalom Vilan. "Wie ist es möglich, dass ein offizieller Vertreter der
Regierung 60 Jahre nach der Shoah derartige rassistische Äußerungen machen
kann?"
Der Abgeordnete Yehiel Hasan, der wie Boim der Likud-Partei von
Ministerpräsident Ariel Sharon angehört, pflichtete dem Vize-Minister dagegen
bei: "Ich denke, er hat vollkommen Recht. Seit hunderten von Jahren
bringen die Araber die Juden um (...). Sie haben das im Blut, das ist etwas
Genetisches. Anders kann man es nicht erklären."