Samstag, 3. April 2004

Extremismus

Drei Jahren nach dem Start des Aussteigerprogramms für Rechtsextremisten hat Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) eine positive Bilanz gezogen. Bei einem 2001 eingerichteten Kontakttelefon des Verfassungsschutzes hätten sich 900 Anrufer gemeldet, 200 davon seien zum Ausstieg aus der rechten Szene bereit gewesen. "Dies hat zu einer erheblichen Verunsicherung und Schwächung der rechten Szene geführt." Das Programm werde fortgesetzt.

 

 

 

Samstag, 3. April 2004

"Die Schatten der Taten müssen bleiben"

Die Generationskonflikte gehen, Guido Knopp kommt: Es gibt derzeit, sagt Hannes Heer im taz-Gespräch, ein großes, unbegriffenes Fasziniertsein
von der Nazizeit. Der Historiker über die Deutschen als Täter und als Opfer und darüber, dass nur gespaltene Erinnerungen wirklich erwachsen sind

INTERVIEW STEFAN REINECKE

taz: Herr Heer, Sie behaupten, dass es eine erinnerungspolitische Wende gibt - zurück zu einem Bewusstsein, in dem die Deutschen von 1933 bis 1945 vor allem Opfer waren. Welche Indizien sprechen dafür?

Hannes Heer: Erinnern wir uns kurz, was war. In den 90ern machte das Buch von Christopher Browning über das Morden des Hamburger Polizeibataillons in Polen Furore; die Tagebücher von Victor Klemperer zeigten den Durchschnittsdeutschen in seiner Verblendung, seiner Feigheit, seinem Hass; Daniel Goldhagen präsentierte seine Thesen von den "willigen Vollstreckern", und die erste Wehrmachtsausstellung zeigte nicht nur die Verbrechen, sondern auf den selbst geknipsten Fotos auch die grinsenden Täter. In all diesen Arbeiten wurde die Volksgemeinschaft, wurden die normalen Deutschen ins Zentrum gerückt. Das ist jetzt vorbei. Man will das nicht sehen. Denken Sie an die Holocaust-Ausstellung 2001 im Deutschen Historischen Museum. Dort sah man namenlose oder gesichtslose Täter. Der gleiche Effekt in dem zeitgleich fertig gestellten Dokumentationszentrum auf dem Reichsparteitaggelände in Nürnberg: Die Nazis werden wie Desperados geschildert, die aus dem Nichts auftauchen, ohne dass die Paten der frühen und die Komplizen der späten Jahre auch nur erwähnt werden. Die neue Wehrmachtsausstellung fügt sich in diese Tendenz: statt der 1.400 Landserfotos, die an die Verantwortung von Millionen Soldaten erinnern, die gepflegten Porträts von 70 Generälen. Diese Wende ist eine Antwort auf das plötzlich und überscharf auftauchende Bild der Täter. Das war nicht nur neu, sondern vor allem ein Schock.

Ist das Bild nicht vielschichtiger? Es gab ja auch zuvor schon Täterforschung - etwa das Buch von Ulrich Herbert über den SS-Mann Werner Best.

Das Best-Buch ist ein wichtiger Beitrag gewesen, wie die in seiner Nachfolge entstandene Arbeit von Michael Wildt über das Reichssicherheitshauptamt. Aber das sind Studien zu Angehörigen der NS-Elite und zu Institutionen des Terrors. Da geht es nicht um den Täter als jedermann, um die "ganz normalen Männer". Studien mit diesem Blick auf die Täter sind in der Forschung in der Minorität.

Ist die erinnerungspolitische Landschaft damit vollständig? Nehmen wir als Symbol den Fall Martin Hohmann: Vor 30 Jahren hätte er wohl durchaus für die Mitte der Union gesprochen, heute wirft ihn Merkel aus der CDU-Fraktion und macht die Formel von der "Singularität des Holocausts" zur Parteilinie. Das war mal die Parole der Linken im Historikerstreit. Das zeigt doch, gewiss überfällig und zu spät, eine grundstürzende Veränderung.

Ich bewerte den Fall Hohmann ganz anders. Angesehene deutsche Verlage publizieren die These des Historikers Bogdan Musial vom "Tätervolk" der Juden in der Westukraine, die an ihrer Ermordung beim Einmarsch der Deutschen selbst die Schuld trugen. Jörg Friedrich hat enormen Erfolg mit seiner Analogie von Bombenkrieg und Holocaust - und die Rezensenten gehen milde drüber hinweg. Insofern würde ich eher sagen, dass Hohmann geopfert wurde, um weiter gehende Debatten zu beenden und die Fragen nach seinen Stichwortgebern gar nicht erst aufkommen zu lassen. Der Ausschluss Hohmanns deckt etwas anderes zu.

Aber das kollektiven Geschichtsbild hat sich verändert.

Es hat sich ein gewisser Konsens herausgebildet. Gegen das Holocaust-Denkmal hat heute niemand mehr etwas, auch kein prominenter CDUler. Allerdings möchte man dann auch ein Vertriebenenzentrum. Der Konsens hat also einen hohen Preis.

Ist das wirklich ein Preis? Wir sind uns einig, dass Erika Steinbach und die Vertriebenenverbände falsche, gestrige Ideen vertreten. Aber die Frage bleibt: Welche Erinnerung an deutsche Opfer ist möglich? Und wie? Wer das tabuisiert, produziert eine abgespaltene Erinnerung.

Die Linke hat immer auf die Ursachen geschaut und gefragt: Wer war schuld? Die Nazis, die deutsche Volksgemeinschaft. Das greift bestimmt zu kurz. Man muss, wo ein Einzelner oder eine Gruppe zum Opfer wurde, auch Raum für Trauer schaffen. Gefährlich wird es aber, wenn man die Bombardierung von Dresden und die Opfer beschreibt - und ausblendet, dass dies für den "Juden" Klemperer die Befreiung war. Oder über den Feuersturm in Hamburg redet und nicht wahrnimmt, dass sich Hamburger Juden im KZ Theresienstadt gefreut haben, als sie davon hörten, weil sie wussten, dass der Krieg bald vorbei ist. Wenn man den Deutschen Victor Klemperer - den Deutschen, denn zum Juden ist er erst gemacht worden - aus dieser Beschreibung einfach ausklammert, so wie es Jörg Friedrich tut, dann bedient man sich der Terminologie der Nazis und denkt wie sie. Und man darf nicht über das Leiden der Deutschen im Krieg und Nachkrieg reden, ohne zu erwähnen, was Nazideutschland in Europa zuvor angerichtet hat.

Hannah Arendt hat 1950 präzise beschrieben, wie die Deutschen damals ihr eigenes Leid benutzt haben, um den Mord an den Juden und ihre Schuld zu verdrängen. Das war die Mechanik - aber eben die vor 50 Jahren. Und heute? Ist dieses mechanische Entweder-oder, das die antideutsche Linke ja nur umgedreht hat, aus der historischen Distanz und angesichts des Generationswechsels nicht einfach vorgestrig?

Ich plädiere ja nicht für dieses Entweder-oder. Ich bin nicht dafür, die alte Frontlinie - hier Verschweigen der Taten und da die Verurteilung - weiter zu befestigen, weil dabei die Trauer auf der Strecke bleibt. Trotzdem: Nehmen wir noch mal den sensationellen Erfolg des Buches "Der Brand". Jörg Friedrich arbeitet mit einem Begriff aus den 50er-Jahren und im Grunde aus der NS-Zeit mit dem Begriff "uns Deutsche", der ausschließt, wer politisch oder rassisch nicht hineinpasst: Die Kommunisten, die Juden, alle, die widerständig waren, kommen nicht vor. Dieses Buch kaufen auch viele Jüngere - insofern kann ich Ihren Optimismus betreffs des Generationswechsels nicht teilen.

Was folgt denn aus Ihrer Kritik an Friedrich? Die Antwort müsste ein Buch eines "linken" Historikers über den Bombenkrieg sein. Oder?

Dies Buch müsste jemand schreiben, der genau ist und der sich immer bewusst ist, dass wir eine "gespaltene Erinnerung" haben.

Schauen wir auf Bücher wie Günter Grass "Im Krebsgang" , Uwe Timms "Am Beispiel meines Bruders" und auch auf den Erfolg von Jörg Friedrichs "Brand". Sind das nicht auch Reaktionen darauf, dass die Linke, die sich ja erinnerungspolitisch die Diskurshoheit erkämpft hatte, das Thema "Deutsche als Opfer" beiseite geschoben hatte? Kommt da etwas zur Sprache, was lange in die Ecke gestellt war?

Das berührt wieder die Frage der Mechanik: Ende der 60er entstand kollektiv auf das Verdrängen und Umdeuten der Älteren die scharfe Frage nach den Verantwortlichen. In der Überreaktion auf das Schweigen und Lügen war wenig Raum dafür, auch Deutsche als Opfer zu sehen. Davon ist wahrscheinlich ein Rest bis heute im Bewusstsein geblieben.

Wichtiger scheint mir etwas anderes, etwas, was man an der ersten Wehrmachtsausstellung ablesen konnte. Ich glaube, dass diese Ausstellung die Mauer zwischen der großen Geschichte, für die niemand verantwortlich war, und der Familiengeschichte durchlässiger gemacht hat. Über alle Parteien hinweg - etwa in der Bundestagsdebatte zur Ausstellung - und auch generationsübergreifend wurde Geschichte als Familiengeschichte verstanden. Das war von den Machern gar nicht beabsichtigt, aber die Ausstellung hat geholfen, diesen Raum zu öffnen.

Ich finde, dass Uwe Timm etwas Ähnliches tut: Er bearbeitet Familiengeschichte in einer Suchbewegung zu jemand, der ihm nah war - aber ohne die Schatten, die die Taten hinterlassen haben, wegzulassen. So, und nur so, kann eine erwachsene Aneignung der Vergangenheit und vielleicht auch so etwas wie eine Heilung geschehen. Das Gegenbeispiel ist Ulla Hahn mit ihrem Plädoyer für "unscharfe Bilder": Da geht es um eine Generationenversöhnung, die sich um die Tatsachen herummogelt. Wenn der Vater als Täter ins Bild kommt, folgt sein Ohnmachtsanfall - und man sieht nichts mehr. Bei Thomas Medicus, dessen Großvater als Wehrmachtsgeneral von Partisanen erschossen worden ist, verhält es sich ähnlich. Das sind Indizien für ein fortwährendes massives Bedürfnis, die Täter doch nur als die lieben Verwandten zu sehen.

Die Gefahr ist also - 60 Jahre danach - der späte Versöhnungskitsch?

Ich glaube, ja. Eigentlich, da gebe ich Ihnen Recht, könnte man sich doch selbstbewusster, entspannter und genauer anschauen, was damals geschehen ist. Aber offenbar fällt das trotz der 60 Jahre sehr schwer. Mich irritiert, dass das öffentliche Interesse an der NS-Zeit wie eine Fieberkurve verläuft. Zehntausende lesen Goldhagen, 900.000 gehen in die erste Wehrmachtsausstellung, tausende besuchen die Marathonlesungen der Tagebücher von Klemperer - und nun kaufen sich plötzlich hunderttausende das Buch von Friedrich. Diese Ausschläge zeigen, dass da noch etwas brüchig ist, nicht selbstverständlich, nicht gelassen. Deshalb auch die Schwierigkeit, den Blick auf die Gesichter der Täter zuzulassen.

Aber flacht diese Kurve nicht gerade ab? Das Skandalisierungspotenzial der NS-Zeit scheint doch gerade zu verschwinden. Die ödipale Revolte, die ja für viele dramatische Effekte gesorgt hat, ist selbst Geschichte geworden. Die NS-Zeit ist nicht mehr so aufgeladen mit Identitätspolitik. Wir erleben also eine unter anderem durch den Generationswechsel bewirkte Entdramatisierung der NS-Zeit.

Ja, den biografische Kern als Grund gibt es nicht mehr - geblieben ist dieses übergroße Interesse an der NS-Zeit. Nehmen Sie die Belletristik oder die endlosen Guido-Knopp-Serien. Das Interesse daran speist sich nicht mehr aus dem ödipalen Konflikt der zweiten Generation mit den Eltern. Es geht um etwas anderes. Was hier wirkt, ist das, was unter der Realgeschichte liegt - die Faszinationsgeschichte, die Kavernen der Tabus. Weil so viel verschwiegen oder umgedeutet wurde, ist dieser Teil so überproportional. Ungehindert von den Fakten wirkt das Faszinosum des Bösen, der absoluten Freiheit, der starken Männer, des starken Staates und dergleichen mehr. Wenn ich sehe, wie familiär der Blick auf die Nazis in den Knopp-Filmen ist, habe ich das Gefühl, wieder in den 50er-Jahren gelandet zu sein. "Die Deutschen", sagte ein englischer Freund neulich beim gemeinsamen Fernsehen zu mir, "schauen sich ihre Nazifilme an." Die von heute.

 

 

Samstag, 3. April 2004

 

Braunes Netzwerk auf dem Vormarsch
Buch gibt Überblick über »Freie Kameradschaften« 
 
Von Uwe Ruprecht 
 
Gegen Verbote sind sie immun: Die »Freien Kameradschaften« haben keine Mitgliederlisten, keine Vereinskassen. Sie geben sich aus als »Organisation ohne Organisation«, folgen aber einem strengen »Führerprinzip«. Außerdem sind die 160 bekannten lokalen Zellen, die fünf bis 30 Mitglieder zählen, durch so genannte »Aktionsbüros« vernetzt, die mittels Internet zu Aufmärschen mit Hunderten von Teilnehmern mobilisieren können.
Im Schatten der NPD, deren Funktionäre nach dem gescheiterten Verbot den Kopf wieder sehr hoch tragen, ist die Szene der »Freien Nationalisten« erblüht und stellt sich als Zentrum des militanten Rechtsextremismus dar. In ihrem neuen Buch geben die Journalisten Andrea Röpke und Andreas Speit als profunde Kenner und langjährige Beobachter der Szene erstmals einen Überblick über das weithin verkannte »braune Netzwerk«.
Der im September 2003 vereitelte Sprengstoffanschlag auf die Baustelle der Münchner Synagoge ist nach Erkenntnissen der Autoren kein Ausrutscher. Terror gehört zum Konzept. Die Gruppe um den aus Pasewalk stammenden Martin Wiese war dabei alles andere als eine »braune RAF«, wie sie Bayerns Innenminister Günther Beckstein an die Wand malte. Keine Untergrundarmee war hier am Werk, sondern die »Kameradschaft Süd« konnte sich »unter den Augen der Behörden zu einer militanten Organisation entwickeln«. Dass die Gefahr unterschätzt wird, dass Politik und Polizei sich ahnungslos geben, bis es zu spät ist, zeigt sich bei jedem Aspekt neonazistischer Aktivitäten, der im Buch untersucht wird.
So bei den Immobilienkäufen, mit denen sich die Kameradschaften Basen für »national befreite Zonen« schaffen. Die Behörden könnten wissen, mit wem sie es zu tun haben, würden sie genauer hinsehen. Im Fall des als Schulungszentrum vorgesehenen Schloss Trebnitz bei Halle schickte der einschlägig vorbestrafte arbeitslose Handwerker Steffen Hupka zwar einen Strohmann als Käufer vor. Der wiederum hätte aber ebenso Misstrauen wecken können: Uwe Meenen gehört mit Horst Mahler zu den Betreibern des »Deutschen Kollegs«, einem »Denkorgan des Deutschen Reichs«. Beide stehen derzeit wegen Volksverhetzung in Berlin vor Gericht. Das Geld für Erwerb und Sanierung des Objekts kam aus Marbella von Rolf Hanno, einem guten Bekannten von Otto-Ernst Remer, der maßgeblich an der Niederschlagung des Putschversuches vom 20. Juli 1944 beteiligt war und bis zu seinem Tod 1997 in Reden und Büchern Hitler verherrlichte.
Kaum zu unterschätzen ist die Rolle, die Musik als Propagandawaffe, als emotionaler Kitt der Szene und als Einnahmequelle spielt. Zwar ist das 1987 in Großbritannien gegründete Netzwerk »Blood & Honour« in Deutschland inzwischen verboten, aber das Gefüge existiert weiter. Der Ruch des Illegalen erhöht noch die Attraktivität von Bands wie der »Landser«, die unlängst als »kriminelle Vereinigung« eingestuft wurde. »Eines Tages werden sie sich wünschen, wir würden nur Musik machen«, höhnen die »Terroristen mit E-Gitarren«. 30 Firmen vermarkten das Liedgut von 380 Bands.
Zum Marsch in die Mitte der Gesellschaft gehört auch die Veränderung beim Outfit der »national Gesinnten«, die nicht mehr durch Glatze und Springerstiefel identifizierbar sind. Ein Beitrag widmet sich dieser Neuorientierung bei den »Dresscodes« und dem expandierenden Markt der »Nazi-Accessoires«. Studien zur Rolle der Frauen in den Kameradschaften und zu den internationalen Kontakten runden das Panorama ab. Ein Register der Organisationen, Bands und Personen macht das Buch als Nachschlagewerk brauchbar. Röpke und Speit fischen nicht im Trüben. Sie liefern Namen, Daten, Fakten und lassen ihre nüchtern vorgetragenen Befunde für sich sprechen.

Andrea Röpke/Andreas Speit (Hrsg.): Braune Kameradschaften. Die neuen Netzwerke der militanten Neonazis. Ch. Links Verlag, Berlin 2004, 206 S., 29 Abb., 14,90 Euro

 

 

 

Freitag, 2. April 2004

Ulrich Kurzer

Geschichte aus erster Hand

DER HEIKLE UMGANG MIT ORIGINALDOKUMENTENDas Göttinger Stadtarchiv veröffentlicht eine Wahlkampfrede Hitlers für den pädagogischen Einsatz

Das Göttinger Stadtarchiv hat Anfang März eine Multimedia-CD veröffentlicht, in deren Mittelpunkt eine Rede Adolf Hitlers steht, die dieser am 21. Juli 1932, zehn Tage vor der Reichstagswahl vom 31. Juli, in der Universitätsstadt vor mehreren tausend Menschen gehalten hat. Daneben enthält die CD erläuternde und kommentierende Texte der Historikern Kerstin Thieler, weiterführende Literatur über die NSDAP in Göttingen, die Geschichte der Stadt während der NS-Herrschaft und schließlich ausgewählte Dokumente aus dem Bestand des Stadtarchivs, die im Zusammenhang mit dieser Rede entstanden; etwa die Anmeldung der Kundgebung durch die örtliche NSDAP, die Verfügung der Ortspolizeibehörde zur Regelung des Verkehrs an diesem Tage oder eine Lageskizze des Veranstaltungsortes.

Göttingen war schon früh eine Hochburg der NSDAP, im Februar 1922 wurde hier eine Ortsgruppe gegründet, bald darauf entstanden weitere Parteiorganisationen, den ersten SA-Sturm gab es im Dezember des selben Jahres. Bei den Reichstagswahlen erzielten die Nazis regelmäßig einen höheren Stimmenanteil als im Reichsdurchschnitt, bei der Juliwahl 1932 gewannen sie mit 51 Prozent schon die absolute Mehrheit in der Stadt.

Muss an dieses Kapitel der deutschen und der Göttinger Geschichte immerfort erinnert werden? Warum wird eine relativ unspektakuläre Wahlkampfrede Hitlers in einer hörbaren Version auf CD veröffentlicht? Ist das noch Aufklärung oder schon Propaganda?

Der Göttinger DGB-Vorsitzende Sebastian Wertmüller, der sich in den vergangenen Jahren engagiert und mutig positionierte, wenn es darum ging, rechte Aufmärsche in der Stadt zu verhindern, reagierte mit "Erstaunen" auf die Ankündigung des Stadtarchivs, diese CD herauszubringen. Er äußerte zwar "Verständnis" dafür, dass "in historischen Dokumentationen Originaldokumente in Schrift, Bild und Ton eine Rolle spielen". Aber noch ohne die CD zu kennen, urteilte er streng, dieses Projekt "sprenge den dokumentarischen Rahmen": "Das ist schon", so hieß es in seiner Presserklärung "Verkaufsförderung mit dem größten Verbrecher der deutschen Geschichte." Er könne nur hoffen, "dass es sich tatsächlich um eine historische Dokumentation handelt".

Ernst Böhme, der Leiter des Göttinger Stadtarchivs, verwahrte sich umgehend gegen die Kritik des DGB-Vorsitzenden. Zum einen wird die CD nicht frei im Handel erhältlich sein, das Stadtarchiv hat sie nicht etwa produzieren lassen, um Kasse zu machen - zum Einsatz kommen soll sie vor allem im Schulunterricht. Ausgerechnet diese wichtige Information fehlte in der gekürzten Presseerklärung des Stadtarchivs, die im Göttinger Tageblatt veröffentlicht worden war, und so erklärt sich in erster Linie die heftige Reaktion Wertmüllers. Nur weil die Hitler-Rede gezielt für Bildung (und Wissenschaft) bereitgestellt wird, ist ihre Veröffentlichung übrigens auch nicht als Verbreitung nationalsozialistischer Propaganda strafbar.

Zum anderen handelt es sich bei der Publikation ohne Frage um die sorgfältige Edition einer historischen Quelle mit lokalem Bezug. Wenngleich mit der Veröffentlichung keinesfalls beabsichtigt ist, rechtsextreme Sammler zu bedienen, ist natürlich nicht auszuschließen, dass diese Klientel, die überall nach Devotionalien ihrer mörderischen Vorbilder sucht, Gefallen an der bisher in den Magazinräumen des Stadtarchivs schlummernden Rede findet.

Doch kann und muss das nicht hingenommen werden? Wie denn anders, als auch unter Verwendung authentischer Originaldokumente kann Geschichte Schülerinnen und Schülern anschaulich "gemacht" werden? Im konkreten Fall ist beispielsweise gut zu hören, wie Hitlers Zuhörerschar in Göttingen jubelte - auch wenn nach 1945 die wenigsten davon noch etwas wissen wollten. So kann zum Beispiel die Frage nach der Massenbasis der NSDAP (oder weniger wissenschaftlich: die Frage nach dem Rückhalt in der Bevölkerung) vor dem Hintergrund der Lokalgeschichte behandelt werden: Warum war Göttingen so früh eine braune Hochburg, was war hier anders, was das Besondere?

Wie anders als durch die Auswertung von Quellen können solche Fragen beantwortet werden? Generationen von Historikerinnen und Historikern haben sich schließlich durch Aktenberge, Fotos und Filmmaterial gewühlt, um die historischen Abläufe ("Geschichte" also) rekonstruieren zu können. Was die nationalsozialistische Diktatur angeht - ohne diese "Fleißarbeit" wäre heute vieles immer noch unbekannt. Natürlich soll hier nicht naiv behauptet werden, das Quellenstudium sei der Königsweg, weil die Quellen für sich allein sprächen. Eine zentrale Aufgabe der Historiographie war, ist und wird es sein, die Quellen zum Sprechen zu bringen, sie miteinander zu verknüpfen, sie einzuordnen.

Ohne Frage sind die Aufgaben der Schülerinnen und Schüler im Geschichtsunterricht von anderer Qualität. Es geht nicht um Forschung, es geht um kritische Aneignung (von historischem) "Wissen" und Zusammenhängen, um die Sensibilisierung für Humanität und um die Herausbildung sozialer Kompetenzen in einer demokratischen Gesellschaft. Was spricht da gegen historische Originaldokumente, die mit sorgfältig bearbeiteten Begleittexten bereitgestellt werden und es gerade so ermöglichen, dass die Klientel einen "Zugang" zum Gegenstand findet, der nicht durch vorweggenommene Interpretationen verstellt wird, wie regelmäßig beispielsweise in den "beliebten" Doku-Dramen vom Mainzer Lerchenberg?

Nicht nur, dass dort historisches Bildmaterial aus Propagandafilmen und Wochenschauen verwendet wird und allgemeine Akzeptanz findet, darüber hinaus wird Authentizität mit nachgestellten Spielszenen vorgetäuscht, was die Wahrnehmung und Aneignung historischer Ereignisse nachhaltig beeinflusst. Hinzu kommt dann noch die in der Redaktion beliebte Personalisierung komplexer Sachverhalte und Wirkungszusammenhänge (Hitlers Generäle, Frauen und so weiter), der andere, strukturelle Erklärungsansätze zum Opfer fallen: Fertig ist das verzerrte Geschichtsbild.

Ein politisch-pädagogischer Anspruch, Schülerinnen und Schüler zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern zu "erziehen" (wobei nicht unterstellt wird, dass die Redaktion diesen hat), wird durch einen solchen Umgang mit historischen Originaldokumenten ad absurdum geführt, da für die Zuschauer "Tatsachen" und Interpretationen nicht mehr klar und nachvollziehbar zu trennen sind. Im Oberseminar gäbe es dafür keinen Schein, trotzdem bringen die Doku-Dramen dem ZDF Quote und die Begleitbücher zu den Sendungen verkaufen sich.

Das alles ist natürlich nicht neu, jede und jeder der regelmäßig in die Medienseiten und Feuilletons der überregionalen Presse sieht, kennt diese Kritik. Geschichte ist (zum Glück) auch auf andere Weise darstellbar. Natürlich sind die vielfältigen Unterschiede zwischen Fernsehen und Multimedia-CD nicht zu leugnen, doch worum es in beiden Fällen (und allgemein in allen Medienformaten) gehen muss, ist die Frage nach dem sorgfältigen Umgang mit historischen Quellen, besonders dann, wenn es sich um nationalsozialistisches Propagandamaterial handelt.

Immer dann, wenn einem, wie im Fall der CD aus dem Göttinger Stadtarchiv, wieder einmal ein gelungenes Beispiel sorgfältiger Arbeit in die Hände fällt, ist man geneigt, für eine größere Offenheit, für einen freizügigeren Umgang mit derartigen historischen Originaldokumenten zu plädieren. Dient das der geistigen Auseinandersetzung im Rahmen von Bildung und Wissenschaft, befindet man sich zumindest rechtlich auf der sicheren Seite. Vielleicht könnte ein in diesem Sinne freizügigerer Umgang erheblich dazu beitragen, Legenden zu entzaubern.

Denken wir nur an Leni Riefenstahl, die bis zum Schluss nie müde würde, zu behaupten, sie habe doch keine NS-Propagandafilme gedreht. Wer beispielsweise ihren Triumph des Willens (einmal) gesehen hat, weiß, wie leutselig die Riefenstahl lügen konnte, wie gezielt, engagiert und einfallsreich sie mit filmischen Mitteln den Führerkult transportiert hat.