Freitag, 28. Mai 2004

Integrationsförderung auf dem Prüfstand

Günter Piening, Integrationsbeauftragter des Landes, will die Förderpraxis seines Amtes neu strukturieren. Migrantenvereine und Wohlfahrtsverbände werden evaluiert. Profitieren sollen soziale Brennpunkte

Dem Integrationsbeauftragten des Landes Günter Piening steht keine leichte Zeit bevor. Er will die Förderpraxis seines Amtes völlig neu strukturieren - und das dürfte für eine Menge Ärger sorgen. Spätestens ab 2006 sollen die Integrationsmittel stärker auf die sozialen Brennpunkte konzentriert werden. Profitieren würden davon vor allem Kieze in den Innenstadtbezirken. "Zentral ist aber auch, welche Schichten die Vereine erreichen", kündigte Piening gestern an. Schließlich seien die hohe Arbeitslosigkeit und der niedrige Bildungsstand der Migranten die beiden sozialpolitischen Herausforderungen der kommenden Jahre.

Damit stehen alle Fördermittel, die derzeit an Migranten-Selbsthilfeprojekte, an Wohlfahrtsverbände und auch die Werkstatt der Kulturen gehen, auf dem Prüfstand. Das Land gibt dafür jährlich insgesamt 4,2 Millionen Euro aus. Hinzu kommen Mittel des Bundes und der EU.

Derzeit werden alle Projekte evaluiert. Dazu haben sie bereits Fragebögen zur Selbsteinschätzung bekommen. Diese sollen jetzt von einem Expertengremium beurteilt werden. Wer zu diesen Fachleuten gehört, steht laut Piening noch nicht fest. Auch die Bezirke werden um eine Stellungnahme gebeten. Mit dieser "Blitzevaluation" hat Piening im vergangenen Jahr bereits den Bereich Rechtsextremismus/Fremdenfeindlichkeit neu strukturiert. Der Unterschied: Die Projekte in diesem Bereich werden erst seit einem Jahr gefördert, die Integrationsmittel fließen zum Teil seit Jahrzehnten.

Als weiteren Schwerpunkt seiner Arbeit bezeichnete Piening die bessere Integration junger Migranten. Sie bräuchten Chancengleichheit in Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarkt. Gute Ansätze würden die neuen Gesetze im Bereich Schule und Kita bieten. "Jetzt müssen sie auch umgesetzt werden", so Piening. Zugleich müsse die Elternarbeit ausgedehnt werden, um "bildungsferne Schichten" besser zu erreichen.

Auch die Integration der Migranten in den Arbeitsmarkt ist für Piening eine der wesentlichen Herausforderungen der nächsten Jahre. Derzeit seien rund 40 Prozent der nichtdeutschen Berliner erwerbslos. Damit sei die Quote zweieinhalbmal so hoch wie unter den Deutschen. Die Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit, so Piening weiter, würden die Migranten nicht erreichen. Durch die geplante Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (Hartz IV) werde das Problem weiter verschärft: "Weiterbildungsmaßnahmen sind an Vermittlungsquoten gekoppelt." Die meisten Migranten würden aber aufgrund von Bildungsdefiziten als nicht vermittlungsfähig gelten.

Außerdem plant Piening ein verbindliches Integrationskonzept für Neuzuwanderer. So soll ab 2006 jeder Einwanderer, der nach Berlin kommt, eine Art "Welcome-Package" erhalten. Dazu gehören Informationen über Stadt und Land sowie über Anlaufstellen, die Beratung und Unterstützung bieten.

"SABINE AM ORDE

 

 

 

Freitag, 28. Mai 2004

Museumsleiter soll abtreten

Von jüdischer Seite ist die Abberufung des Leiters des Museums Hamburger Bahnhof und Kurators der geplanten Flick-Ausstellung, Eugen Blume, gefordert worden. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde von Niedersachsen, Michael Fürst, der auch Direktoriumsmitglied des Zentralrats der Juden ist, begründete diese Forderung am Donnerstag mit einer Äußerung Blumes, der die NS-Zeit als "episodenhaft" verharmlost haben soll, wie Fürst sagte. DPA

 

 

 

Freitag, 28. Mai 2004

 

Topographie der Vergeudung

Die Pleite um das Dokumentationszentrum wäre vermeidbar gewesen: 1990 entschied der Senat richtig

Von Ulrich Zawatka-gerlach

Zur „Topographie des Terrors“ wurde schon 1990 das Richtige gesagt und beschlossen. Nur hat sich niemand daran gehalten.Damals beschwor der rot-grüne Senat die Bundesregierung, „wegen der außerordentlich hohen deutschlandpolitischen Bedeutung das frühere Gestapo-Gelände als nationale Aufgabe zu behandeln“. Für diesen Beschluss wurde die Landesregierung von allen Seiten heftig gescholten; sie wolle ihre Verantwortung für die Gestaltung des Geländes an den Bund abschieben. Die Koalitionsfraktionen SPD und Alternative Liste (AL) bekamen weiche Knie und zwangen den Senat in einem Parlamentsbeschluss, „die Federführung Berlins sicherzustellen.“


Das kam der Bundesregierung sehr entgegen, die sich erst jetzt – 14 Jahre später – zu ihrer Hauptverantwortung für die Topographie bekennt und Bauträger des Dokumentationszentrums wird. Gleichzeitig wird der aufwändige, unbezahlbare Entwurf des Architekten Peter Zumthor verworfen. Auch mit großer Verspätung. Denn schon kurz nach dem Mauerfall wurde von fachkundiger Seite eine bescheidene Bauplanung vorgeschlagen. So schrieb Heinz Galinski als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde am 21. Juni 1990 an die Kulturverwaltung: „Die Lehren, die aus der Vergangenheit zu ziehen sind, bedeuten jedoch auch, dass hier kein neuer Monumentalbau entstehen darf... Erforderliche Ergänzungsbauten sollten den vorhandenen Informationswert (des Geländes) unterstreichen.“

Auch die Fachkommission, die sich im Auftrag des Senats mit der künftigen Nutzung des Geländes befasste, schlug im März 1990 nur eine „Randbebauung an der Anhalter Straße“ vor, um den Gesamteindruck des Topographie-Areals nicht zu beeinträchtigen. Stattdessen wurde ein Dokumentations- und Begegnungszentrum geplant, dass durch seine einzigartige Architektur glänzen sollte. 1991 meldete die Kulturverwaltung dafür 10,7 Millionen Euro Investitionsmittel an. Ohne einen Bauentwurf, ohne ein Bedarfsprogramm vorzulegen. Ein Jahr später, als man ungefähr wusste, was gebaut werden sollte, schätzte die Bauverwaltung die Kosten schon auf 23,5 Millionen Euro. Die Finanzverwaltung protestierte. Das hinderte den Senat nicht daran, im Dezember 1992 einen Wettbewerb auszuloben. Der Schweizer Architekt Zumthor gewann den 1. Preis mit einem Entwurf, der bau- und materialtechnisch völliges Neuland beschritt.

Jetzt sah sich die Bauverwaltung überraschend in der Lage, auf 21,9 Millionen Euro herunterzugehen. Die Finanzverwaltung stellte in die Finanzplanung nur 18,4 Millionen Euro ein und im Juni 1993 rutschten die geschätzten Baukosten sogar auf 18,1 Millionen Euro ab. Drei Jahre später, als die Bauplanungsunterlagen vorlagen, waren es wieder 23 Millionen Euro. Ständig wurde an der Nutzung und Ausstattung des Gebäudes herumgebastelt und mit der Baufirma stritt sich der Senat über Montagezeiten und -kosten für die Konstruktion aus feinen Betonstäben und Glas. Der Rechnungshof sah sich erstmals veranlasst, auf die „erheblichen Unsicherheiten“ bei der Kostenermittlung hinzuweisen.

Das nutzte nichts. Mit den Treppentürmen wuchsen auch die Baukosten in den Himmel. Im Jahr 2000 musste die Bauverwaltung den Offenbarungseid leisten: 46 Millionen Euro. Erschrocken setzte der Senat eine „Arbeitsgruppe zur Kostenbegrenzung“ ein. Man feilte an diesem und jenem herum: 38,8 Millionen Euro blieben trotzdem übrig. Kein Cent mehr dürfe es werden, forderte das Parlament, das sich verschaukelt fühlte. Denn erst im November 2000 hatte die Bauverwaltung in einer Vorlage an den Hauptausschuss das „fragile System“ der doppelten Fassade und doppelten Decken und Böden problematisiert, kombiniert mit einem „dichten Stabwerk aus vertikalen Betonstützen und horizontalen Betonriegeln“. Diese Konstruktion sei „nach ästhetischen Kriterien optimiert“ worden. Eine Optimierung nach wirtschaftlichen Kriterien sei nicht erfolgt.

Eine Kündigung des Architektenvertrags liege aber nicht im Interesse Berlins, weil sonst unkalkulierbare Kosten auf das Land zukämen und eine Bauruine drohe, warnte die Bauverwaltung. 2002 blieb dem Rechnungshof nur übrig, minutiös die „Fehler und Versäumnisse der für Bauen und Kultur zuständigen Senatsverwaltungen“ im Zusammenhang mit dem Zumthor-Bau aufzulisten. Ein weiteres Jahr ging ins Land; dann endlich einigte man sich mit dem Architekten auf eine einfachere Baukonstruktion. Aber: das Kostendämpfungskonzept für das Dokumentationszentrum kam zu spät. Der Bund und Berlin zogen die Notbremse.



Peter Zumthor


wird vom Land Berlin möglicherweise Schadensersatz einklagen. Der Schweizer Architekt, der 1993 den Zuschlag für den Bau eines Dokumentationszentrums für die „Topographie des Terrors“ erhielt, sprach von einer Million Euro, die ihm zustehen. Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) lässt den Vertrag mit Zumthor juristisch prüfen und hofft dem Vernehmen nach auf eine gütliche Einigung. „Was ihm zusteht, wird der Architekt bekommen“, sagte eine Sprecherin der Verwaltung.



Hans Stimmann
(SPD) war von 1991 bis 1996, und dann wieder ab 1999 Senatsbaudirektor in Berlin und hat sich von Anfang an für den Zumthor-Entwurf stark gemacht. Gute Architektur zu fördern, ist auch sein Job. Aber sein uneingeschränktes Engagement für den teuren Bau wird Stimmann doch angekreidet, und manche Oppositionspolitiker sehen den Stuhl des umstrittenen Baudirektors wackeln. Za

 

 

 

Freitag, 28. Mai 2004

 

Jugendgewalt: Weniger Taten, aber brutaler

Die Zahl der von Jugendlichen begangenen Straftaten sinkt zwar, aber die Täter werden immer brutaler. So lässt sich die Entwicklung zusammenfassen, die gestern sowohl Thema bei Justizsenatorin Karin Schubert (SPD) als auch Gegenstand einer Anhörung im Rechtsausschuss des Abgeordnetenhauses war. Schubert wertete die Arbeit der seit einem Jahr arbeitenden Spezialabteilung Intensivtäter als Erfolg. Die Zahl der Straftaten sei merklich gesunken. Ein Grund dafür sei, dass zunehmend Anführer krimineller Jugendbanden inhaftiert würden. 158 Intensivtäter seien als solche registriert, rund 60 von ihnen in Haft.

Zum Thema Jugendgewalt hörte der Rechtsausschuss gestern Experten. Sie waren einig, dass eine zunehmende Brutalisierung festzustellen sei, nicht aber darüber, wie damit umzugehen ist. Lars-Oliver Lück, Leiter des Anti-Gewalt-Zentrums Berlin, plädierte dafür, Gewalttätern klare Grenzen zu setzen. In seinen Anti-Gewalt- und Coolness-Trainings werde auf Konfrontation gesetzt. „Die haben schon so viele Opfer produziert, nun sollen sie auch einmal selbst Leid erfahren, damit sie wissen, wie das ist“, sagte Lück. Oft seien die Teilnehmer hinterher sogar dankbar, weil sie sich ernst genommen fühlten. Diese harte Gangart blieb im Ausschuss umstritten. Lück berichtete außerdem von Brutalität in den Schulen. „Lehrer brechen vor mir weinend zusammen, weil sie mit der Aggressivität der Schüler nicht zurechtkommen“, sagte er. Auch Mädchengewalt steige drastisch.

Einigkeit bestand darin, dass problematischen Jugendlichen mehr Hilfen angeboten werden müssten. Thomas Meißner von der Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen sagte: „Wer Gewalt anwendet, erlebt Macht.“ Das gefalle vielen, die nur Ohnmachtserlebnisse kennen. Elvira Berndt vom Verein Gangway berichtete, viele wüssten nichts mit ihrem Leben anzufangen. Auf Beratung müssten sie zu lange warten. Fk

 

 

 

Freitag, 28. Mai 2004

Mehr Förderung in sozialen Brennpunkten

Zahl ausländischer Lehrlinge geht zurück

Marlies Emmerich

Nur etwas mehr als fünf Prozent aller Lehrlinge sind ausländischer Herkunft. Der Anteil ausländischer Auszubildender ist damit in den letzten Jahren weiter um drei Prozent zurückgegangen. Darauf hat am Donnerstag Migrationsbeauftragter Günter Piening hingewiesen. Auch deshalb kündigte Piening an, spätestens 2006, möglicherweise auch schon im nächsten Jahr, gezielt mehr Geld zur Integration von Ausländern direkt in so genannte soziale Brennpunkte fließen zu lassen. Ein Großteil der dafür vom Land gestellten Mittel in Höhe von 3,5 Millionen Euro jährlich würde dann in den einzelnen Kiezen etwa von Tiergarten, Neukölln oder Kreuzberg eingesetzt.

Zusätzlich sollen aber auch mehrere neue Projekte angeboten werden. So beginnt bereits in der nächsten Woche ein zweijähriges Modell, bei dem ausländische Jugendliche schon in der Schule Hilfe für den späteren Beruf erhalten. Langzeitarbeitslose Migranten können sich in einem anderen Projekt etwa zu Altenpflegern oder Dolmetschern schulen lassen. Piening verwies darauf, dass rund 40 Prozent der Migranten keine Arbeit haben - eine mehr als zweieinhalbmal so hohe Quote wie unter Deutschen. Als besonderes Problem bezeichnete es Piening, dass in Berlin seit Jahren rund 20 000 Flüchtlinge leben, die wegen ihres Aufenthaltsstatus nicht arbeiten dürfen, sondern Sozialhilfe beziehen. Zu dieser Gruppe würden vor allem Palästinenser gehören. In anderen europäischen Hauptstädten wie Rom gebe es solche restriktiven Regelungen nicht. "Wir dürfen nicht dulden, dass diese Menschen kein Geld verdienen dürfen", sagte Piening. (mm.)

 

 

 

Freitag, 28. Mai 2004

Andreas Schug

Das KZ inmitten der Stadt

GEDENKSTäTTE LICHTENBURG AN DER ELBEWenn Erinnerung zu teuer wird

Spurensuche in einem Ort, der von 1933 bis 1939 ein Konzentrationslager beherbergte und bis zum Kriegsende SS-Standort blieb - 25 Studenten der Berliner Humboldt-Universität sind für ein Wochenende in das anhaltinische 3.000-Seelen-Städtchen Prettin an der Elbe gekommen, um auf Zeugnisse dieser Jahre zu stoßen. Eingeladen hat Bürgermeisterin Helga Welz nicht zuletzt in der Hoffnung, dass zusammen mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs aus Berlin über ein neues Konzept für die Gedenkstätte im Ort nachgedacht werden kann - die Exkursion nach Prettin ist Teil eines Projektseminars mit internationaler Beteiligung.

"In den USA haben wir ein Bewusstseinsproblem", meint Eddie Bruce, der aus Havard kommt und seit 2002 in Berlin studiert, "Gedenkstätten sind wichtig für das Identitätsgefühl der Menschen". Er glaube von den Deutschen, dass "sie nicht ständig vor der Vergangenheit weglaufen", wie das die Amerikaner täten, sobald die Zeit der Sklaverei zur Sprache käme.

In Prettin ist es unmöglich, eigener Geschichte auszuweichen, auch wenn heute niemand weiß, inwieweit die Erinnerung daran durch die Gedenkstätte aufrechterhalten bleibt. Auf der Lichtenburg ist die Zukunft der Dauerausstellung zur NS-Diktatur - sie präsentiert sich heute noch im gleichen Zustand wie zu Lebzeiten der DDR - ungewiss. Bisher haben weder der Kreis Wittenberg, noch das Land Sachsen-Anhalt, noch der Bund zu erkennen gegeben, ob sie eine Neugestaltung finanziell stützen würden.

"Dachauer Modell"

Vom Prettiner Kirchturm fällt der Blick unweigerlich auf die goldgelb in der Sonne schimmernde Lichtenburg, die mit ihrem Glockenturm am Eingangstor, der Schlosskirche und ihren spitz zulaufenden Zinnen den Ort überragt. Vor 70 Jahren warnten am Rand der Anlage Schilder vor elektrisch geladenem Stacheldraht auf den Außenmauern, und der Torposten ließ nur Angehörige der Wachmannschaften passieren.

Mit auf dem Turm steht Stadtführerin Silke Rosenkranz, die früher im Auftrag der Kommune für das Stadtarchiv verantwortlich war, bis sie die akute Finanznot der Stadt den Arbeitsplatz kostete. Seither betreut sie ehrenamtlich die teils handschriftlichen Dokumente, deren Bestand im ehemaligen Amtsgericht, einem Backsteinbau nur 50 Meter von der Lichtburg entfernt, gelagert wird. Mit dem überlieferten Schriftverkehr aus der NS-Zeit, hätte man "manch einem in Prettin etwas anhängen können, aber das wollte ja keiner", meint Rosenkranz. Eine Lichtenburg-Dokumentation von 1987 erwähne auch, dass Prettiner den Gefangenen bei der Feldarbeit Essen zusteckten oder der Gemeindediener heimlich Häftlingspost beförderte.

Zwischen 1933 und 1939 waren in den drei Flügeln des Schlosses zeitweise mehr als 1.500 Menschen interniert. Im ersten von zwei Innenhöfen zeigt ein Steinrelief Szenen des damaligen Lageralltags - das Auspeitschen von Häftlingen auf einem hölzernen Bock, SS-Männer mit Schlagstöcken, eine Frau vor einem vergitterten Fenster. Noch immer sind die Orte des Schreckens in den Tiefen der Burg weitgehend erhalten. Die Einzelarrestzellen im "Bunker", deren Fenster durch stählerne Lochplatten ersetzt waren, um widerständige Häftlinge mit Dunkelhaft und Nahrungsentzug zu quälen. Oder der dreistöckige Zellentrakt mit seinen tief ausgetretenen Steinstufen. Die Gefangenen waren in Prettin zur Zwangsarbeit in der Landwirtschaft, in Kiesgruben und auf dem Friedhof eingesetzt. Auch den Stadtpark haben sie angelegt - mitten im Ort.

"Die Lichtenburg hatte in der NS-Zeit eine Scharnierfunktion zwischen den kleineren, bald nach dem 30. Januar 1933 eingerichteten Deportationsorten und den großen Konzentrationslagern wie Sachsenhausen oder Buchenwald", sagt Sigrid Jacobeit, Leiterin der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück. Die Professorin für Europäische Ethnologie leitet das erwähnte Projektseminar. "Die Lichtenburg spielt in der Gedenkstättendiskussion derzeit nicht die Rolle, die aus historischer Sicht angemessen wäre" - ihr Urteil beziehe sich sowohl auf die Zerschlagung der politischen Opposition 1933/34, als auch die Etablierung des KZ-Systems überhaupt.

Die Lichtenburg war eine Art Testlabor für Unterdrückungsmethoden, die später in den Massenlagern zum Einsatz kommen sollten. Vor genau 70 Jahren, am 29. Mai 1934, übernahm SS-Brigadeführer Theodor Eicke die Kommandogewalt über das Schloss. Seinerzeit standen nur das Lager Dachau, die Lichtenburg und das Berliner Columbia-Haus unter direkter Kontrolle der SS. Theodor Eicke - später Inspekteur sämtlicher Lager im Reich und Chef der SS-Totenkopfverbände - rühmte sich, die drakonische Lagerordnung aus dem bayerischen Dachau auf die preußische Lichtenburg übertragen zu haben. "Dachauer Modell" - das hieß für die Häftlinge: Bewachung durch die SS, permanente Mangelernährung, Arbeitszwang, willkürliche Bestrafung. Noch 1934 übernahm die SS dank der Vorarbeiten Eickes die Hoheit über das gesamte "Schutzhaftsystem" des NS-Staates und setzte überall die Anwendung des "Dachauer Modells" durch.

Predigen im KZ-Hof

Seit mehreren Monaten suchen die Studentinnen Katja Garpow, Andrea Sorgenfrei und Anja Schmidt in Prettin nach Zeitzeugen und haben unter anderem die 68-jährige Stadträtin Jutta Götz getroffen, die im April 1945 den Todesmarsch Hunderter KZ-Häftlinge miterlebte, die von SS-Einheiten bei Prettin über die Elbe getrieben wurden. Das Geräusch der Holzschuhe auf dem Kopfsteinpflaster höre sie bis heute, die Gefangenen seien vollkommen abgemagert gewesen und hätten sich gegenseitig stützen müssen. "Ich kann mich erinnern, dass die Wachleute sehr aggressiv waren und die Hunde aufgehetzt haben."

Claus Rummert - ein sportlicher Mittsechziger, der von 1974 bis 1992 Leiter der Gedenkstätte auf der Lichtenburg war - erzählt, die Prettiner hätten später, nach dem Krieg, wenig über das KZ gesprochen. "Vielleicht hing das damit zusammen, dass ein paar ehemalige SS-Leute im Ort hängen geblieben waren", versucht er die Tabuisierung zu erklären. Oft seien auch einstige Gefangene zurück gekommen und hätten sich aussprechen wollen.

Die Gedenkstätte - so Rummert - solle auf jeden Fall fortgeführt werden, sorge sie doch dafür, dass dadurch auch der Zugang zum Schloss erhalten bleibe. Nur sei eben die Dauerausstellung zu einseitig, da sie nur eine Opfergruppe im Blick habe - neben Sozialdemokraten und Kommunisten hätten eben auch Zeugen Jehovas, Juden und Homosexuelle auf der Lichtenburg gelitten.

In Prettin sind die Meinungen über das Schicksal der Gedenkstätte geteilt. Manche sehen darin ein Hindernis für die touristische Nutzung des Schlosses, andere meinen, die werde es nur dank derselben geben. "Wir brauchen diese Burg als Geschichtsobjekt - aber sind wir uns bleibender Schuld bewusst?" fragt Stadtrat Henning Kirmse. Jedes Mal, wenn er das Steinrelief mit den KZ-Szenen im Hof sehe, gehe im ein "Stich durchs Herz". Er würde die Burg am liebsten als internationale Begegnungsstätte nutzen, in der Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen einander treffen könnten: "Israelis und Palästinenser zum Beispiel."

Gegenüber der Prettiner Kirche wohnt Pfarrer Matthias Hemmann, der - als er von dem Projekt erfuhr - den Studenten aus Berlin sofort das Kirchenarchiv öffnete, wohl wissend, dass auch die Landeskirche nach 1933 gegen Zwangsarbeiter aus der Lichtenburg nichts einzuwenden hatte. Auch predigten Geistliche beider Konfessionen seinerzeit im Hof des Konzentrationslagers.

Das blieb so bis zum Mai 1939 - danach ließ die SS das Lager schließen und die zu diesem Zeitpunkt in der Lichtenburg festgehaltenen etwa 800 Frauen nach Ravensbrück deportieren.