Samstag, 31. Juli 2004

Rechtsextreme DVU wirbt mit Regine Hildebrandt

Potsdam - Ausgerechnet die rechtsextreme Deutsche Volksunion (DVU) wirbt in ihrem Landtagswahlkampf mit der früheren Sozialministerin der SPD, Regine Hildebrandt. Die Brandenburger SPD prüft deshalb rechtliche Schritte wegen Verunglimpfung der Verstorbenen. "Wir werden es uns nicht bieten lassen, dass das Andenken von Regine Hildebrandt in den Schmutz gezogen wird", sagte gestern der Landesgeschäftsführer der SPD, Klaus Ness. Das Vorgehen werde in enger Abstimmung mit ihrer Familie erfolgen.

In Wahlwerbespots kommt die DVU zu dem dreisten Schluss: "Wir sind sicher: Auch Regine Hildebrandt würde heute Protest wählen."

Die rechtsextreme Partei war im Herbst 1999 nach einer Materialschlacht in den Potsdamer Landtag eingezogen. Meinungsumfragen geben ihr bei dem Urnengang am 19. September bislang keine Chance. SPD-Wahlkampfleiter Klaus Ness geht jedoch davon aus, dass die von München ferngesteuerte DVU bis zur Landtagswahl "mehr Geld in den Wahlkampf stecken wird als alle demokratischen Parteien zusammen".

 

 

Samstag, 31. Juli 2004

 

Junge Deutsche verletzten Ausländer - Drei Haftbefehle

Fürstenwalde (dpa/bb) - Nach einem fremdenfeindlichen Überfall auf junge Asylbewerber in Fürstenwalde (Oder-Spree) sind drei mutmaßliche Haupttäter verhaftet worden. Die Haftbefehle wegen gefährlicher Körperverletzung wurden nach Angaben der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) am Freitag erlassen. Bei den Beschuldigten handelt sich um einen 16-Jährigen und einen 23-Jährigen sowie eine Frau im Alter von 21 Jahren. Sie hätten zum Teil aus fremdenfeindlichem Motiv gehandelt. Zwei der Opfer erlitten Verletzungen.

 

 

 

Samstag, 31. Juli 2004

 

Rechtsstreit um DVU

Die rechtsradikale Partei wirbt mit Regine Hildebrandt für die Landtagswahl

Um die Wahlwerbung der rechtsradikalen DVU entspinnt sich ein Rechtsstreit. Die DVU wirbt um Wähler für die Landtagswahl am 19. September damit, dass sie Spekulationen über die im November 2000 verstorbene SPD-Sozialpolitikerin Regine Hildebrandt anstellt. Wörtlich formuliert die Partei: „Die DVU ist sich sicher: Regine Hildebrandt würde heute Protest wählen.“ Verbreitet wird die Botschaft per Fernseh- und Radiospots. Brandenburgs SPD prüft juristische Schritte, um die Ausstrahlung des Spots zu stoppen, bestätigte Landesgeschäftsführer Klaus Ness. „Wir haben den Justitiar der Bundespartei eingeschaltet.“ Ein Ansatz wäre der Straftatbestand der „Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener“, erklärt der Brandenburger Rechtsanwalt Klaus Schomann. Dieser Paragraph 189 schütze das „Pietätsempfinden der Angehörigen“ und die über den Tod „fortwirkende Menschenwürde.“ Die Erfolgsaussichten schätze er dennoch „eher skeptisch“ ein. CDU-Generalsekretär Thomas Lunacek hofft, dass die DVU-Spots verhindert werden können.

Gleichwohl wird die Aktion der DVU in den anderen Parteien mit Sorge registriert, weil es der Auftakt für eine Neuauflage jener millionenschweren Kampagne der Partei von 1999 sein könnte, als kurz vor der Landtagswahl fast an jedem Laternenmast Brandenburgs plötzlich DVU- Plakate hingen. Die DVU schaffte bei der letzten Wahl den Sprung ins Landesparlament, wo sie seitdem weitgehend echolos tätig ist.

Der Versuch der SPD, juristisch gegen die Spots, die als pietätlos empfunden werden, vorzugehen, geschehe in Abstimmung mit der Hildebrandt-Familie, hieß es. Wie wohl von den DVU-Wahlspot-Autoren gewünscht, regt die Nennung des Namens seiner toten Frau in diesem Zusammenhang den Witwer Jörg Hildebrandt sehr auf. Er sagte gestern, dass er sich an den Wahlabend von 1999 erinnere. Damals sei er mit seiner Frau an DVU-Leuten vorbeigegangen. Als diese Regine Hildebrandt sahen, sei der Satz gefallen: „Da kommt die Sau, die gegen uns gehetzt hat.“

„Es ist unsäglich, wie die DVU den Namen von Regine Hildebrandt beschmutzt“, sagt Jörg Hildebrandt. In einem Brief an die Brandenburger SPD verwahrte er sich gegen die Vereinnahmung Hildebrandts durch die Rechtsradikalen: „Regine Hildebrandt zur Wahlhelferin zu machen, verweist zum Schluss der ruhmlosen DVU-Legislaturperiode noch einmal auf deren Gedankenarmut, Personalbeschränktheit und Politikverlogenheit.“ Hildebrandt stünde heute klar, unbestechlich und streitbar wie immer an der Seite Matthias Platzecks – „ im Zuspruch wie im Widerspruch“. Thorsten Metzner

 

 

 

Samstag, 31. Juli 2004

Nebenverdienst für Verfassungsschützer

Thüringens Staatskasse zahlte für Aufklärungsliteratur gegen Rechtsextremismus, die nie gedruckt wurde

BERLIN taz Die Staatsanwaltschaft Erfurt hat den Exchef des Thüringer Verfassungsschutzes angeklagt. Helmut Roewer werde Betrug und Untreue in mehr als 60 Fällen vorgeworfen, sagte ein Sprecher des Landgerichts Erfurt der taz. Neben Roewer wurde auch gegen zwei andere ehemalige Mitarbeiter des Verfassungsschutzes Anklage erhoben, wegen Beihilfe zur Untreue und zum Betrug in fünf Fällen.

Roewer soll zwischen 1996 und 2000 Scheinverträge zwischen dem Staat Thüringen und "anderen Personen oder Verlagen" geschlossen haben. Dabei sollen die Angeklagten bestätigt haben, dass sie Expertisen zum Thema Extremismus erstellt hätten, obwohl es diese nie gegeben hat. Ein Beispiel dafür ist der Heron-Verlag, der 1997 als Tarnfirma des Verfassungsschutzes gegründet wurde. Roewer gab vor, Heron hätte einen vom Land in Auftrag gegebenen Film produziert und zeichnete die entsprechenden Formulare ab. Die Staatskasse zahlte - laut Anklage für nichts. Außerdem werden Roewer und seine Mitangeklagten beschuldigt, Gelder zweckentfremdet haben. Dabei sei ein Schaden von umgerechnet etwa 150.000 Euro entstanden.

Roewer wurde vor vier Jahren in den Ruhestand versetzt. Er hatte den Neonaziführer Thomas Dienel als Informanten des Verfassungsschutzes arbeiten lassen, obwohl der wegen Volksverhetzung verurteilt war. Dienel prahlte später damit, dass er mit dem Geld des Verfassungsschutzes Aktivitäten Rechtsextremer finanziert habe.

Zudem ermittelte das Innenministerium wegen Geheimnisverrat gegen Exgeheimdienstchef Roewer. So waren in Zeitungen Protokolle zwischen Roewer und dem damaligen Justizstaatssekretär und späteren Justizminister Karl-Heinz Gasser (CDU) aufgetaucht. Pikant: Ausgerechnet Gasser wurde mit der Untersuchung beauftragt, obwohl er selbst in den Protokollen auftauchte.

Der Fall Roewer gehört zu einer Reihe von Affären im thüringischen Sicherheitsapparat. So musste 2002 Innenminister Christian Köckert (CDU) wegen verschwundener geheimer Daten seinen Stuhl räumen, sein Nachfolger hielt es ebenfalls nicht lange im Amt. Inzwischen bekleidet Gasser den Posten." DAS

 

 

Samstag, 31. Juli 2004

NEONAZIS

Attackieren Migranten

Vier Neonazis haben am Mittwoch vor einem Wohnblock in Amt Neuhaus (Kreis Lüneburg) Migranten attackiert. Zuerst riefen sie beleidigende Parolen, danach warfen die drei angetrunkenen Männer und eine Frau im Alter zwischen 16 und 21 Jahren mit Stöcken und Steinen auf ein Fenster, so die Polizei. Verletzt wurde niemand. (dpa)

 

 

Samstag, 31. Juli 2004

Am Ende der Pionierzeit

taz-Serie "Gelebte Utopien" (Teil 4): Das Friedensdorf Storkow ist im Alltag angekommen. Heute fürchten sich seine in- und ausländischen Bewohner nicht mehr vor randalierenden Nazis, sondern vor der institutionalisierten Intoleranz der Politik

VON VERENA HEYDENREICH

Die Wohnungstür geht kaum auf. Im Flur stapeln sich zwei Betten. Die alten haben so gequietscht, dass die beiden Kinder der Familie Jurado immer aufgewacht sind, wenn eins sich umdrehte. Vater Alvaro entschuldigt sich für das Chaos und führt den Besuch zur Sitzgruppe. Die Wohnung im ersten Stock mit Balkon i st hübsch eingerichtet, obgleich alle Möbel aus Spenden stammen - wie fast überall im Friedensdorf Storkow.

Familie Jurado stammt aus Kolumbien und beantragte in Deutschland Asyl. Noch wissen sie nicht, ob und wie lange sie bleiben können. Im brandenburgischen Friedensdorf wohnen sie seit knapp zwei Jahren und wirken zufrieden. "Im Asylbewerberheim war es auch gut, es gab viele Kulturen", sagt der Mann. "Aber wir haben kein richtiges Deutsch gelernt. Hier machen wir viel mehr mit Deutschen." Er und seine Frau würden sehr gern in Storkow bleiben, sich integrieren und arbeiten. Es könnte ein gutes Leben sein. Bis jetzt haben sie nur eine Aufenthaltserlaubnis bis Oktober. Wie es weitergeht, befürchten sie, wird sich erst kurzfristig entscheiden. Vielleicht gehören die Jurados schon im Herbst zu den vielen Asylbewerbern, die Deutschland wieder verlassen müssen. Unfreiwillig. Abgeschoben.

Im Friedensdorf Storkow wohnen etwa 50 Erwachsene und 30 Kinder unter 14 Jahren, ein Drittel aller Bewohner sind Ausländer. 1993 wurde das Dorf gegründet. Eine Zeit, in der nach Anschlägen von Rechtsradikalen in Mölln und Solingen, das Thema Rassismus auf der Tagesordnung stand. Die Stimmung war gereizter als heute: Der Hass gegenüber Nichtdeutschen offensichtlicher, die Parteinahme für eine multikulturelle Gesellschaft entschiedener. Rupert Neudeck, damals Chef vom Notärztekomitee Cap Anamur, wollte etwas tun gegen rechte Gewalt. Die Organisation kümmert sich bis heute vor allem um Flüchtlinge - nicht nur auf hoher See - sondern auch um Menschen in Kriegsgebieten. Neudeck versandte aber generelle Denkanstöße in die Gesellschaft, etwa mit seiner Idee: "Häuser aufbauen, nicht abbrennen."

Friedensdörfer - gebaut von arbeitslosen Jugendlichen, für Deutsche und Ausländer. Bauen als Signal. Die damalige Bürgermeisterin von Storkow, Gabriele Baum, hörte von den Plänen und setze sich für den Bau eines Friedensdorfs in ihrer Gemeinde ein. "Wir wollten nicht nur reden, sondern zeigen, dass Deutsche und Ausländer zusammen wohnen können und sich gegenseitig bereichern", erinnert sich die ehemalige Bürgermeisterin und heutige Vereinsvorsitzende.

Die vage Idee nahm in mehreren Jahren langsam Gestalt an. 1995 stellten Bautrupps aus arbeitslosen Jugendlichen die ersten Reihenhäuser fertig. Ein Jahr später folgten Wohnungen mit Terrasse oder Balkon. 1997 kamen noch das Büro und ein Veranstaltungssaal dazu. Die Häuser konnten aus Spenden gebaut werden, die Mieten bilden jetzt die Haupteinnahmen des Vereins. Für die dann folgende, weniger spektakuläre Kleinarbeit ist die Sozialarbeiterin Ute Ulrich da. Von ihrem Büro aus blickt sie nach draußen auf den begrünten Platz in der Mitte der kleinen Siedlung. Die Terrassentür steht offen, die Bewohner können ohne Umweg über den Flur direkt eintreten. Ulrich hilft den Familien wenn sie zum Ausländeramt müssen, spendet Trost, schlichtet Streit und leistet nachbarschaftliche Hilfe. Die Hälfte ihrer Stelle ist gefördert, den Rest zahlt der Verein. Eine weitere Mitarbeiterin, Olga Gräser, ist seit kurzem über die Strukturförderung der Stadt dazugekommen. Die zwölf Vereinsmitglieder arbeiten allesamt ehrenamtlich.

Einer der ersten deutschen Mieter war Frank Hennig. Er kam aus Überzeugung, wollte gern mit Ausländern zusammenwohnen. "Auch wenn ich Angst vor Übergriffen hatte", wie er heute sagt. Anschläge von Rechten fürchtet das Friedensdorf schon lange nicht mehr. "Die Situation hat sich entschärft", erklärt die Vereinsvorsitzende. "Die Storkower sind wesentlich offener als zu Beginn des Miteinander-leben-Experiments. Es gibt immer noch welche, die uns noch nie hier besucht haben."

Ausländer sind noch längst keine Selbstverständlichkeit im Ort. "Fremde fallen auf", weiß Baum, "und werden erst mal angeguckt." Wichtig ist dem Verein deswegen nicht nur gute Nachbarschaft mit den Storkowern, sondern auch die Vernetzung mit anderen Trägern von Jugendarbeit und interkultureller Begegnung. Ute Ulrich will Kontakte zwischen Ausländern und Deutschen nicht nur innerhalb des Friedensdorfes, sondern in der ganzen Region herstellen. "Die meisten reden nur über Ausländer", sagt sie. "Wir wollen, dass man sich begegnet." Regelmäßig kommen Schulklassen zu Besuch, etwa um mit einem Klassenkameraden aus dem Friedensdorf und seiner Familie zu kochen. Auch internationale Jugendgruppen sind häufiger zu Gast. Im Juli fand zum neunten Mal ein Workcamp statt. Jugendliche aus sieben Nationen haben gemeinsam am Ehrenmal für die Opfer faschistischer Gewalt und Krieg in Storkow gearbeitet und die Zugangswege erneuert. Die größten Probleme bereitet dem Verein heute aber nicht mehr die Intoleranz der Nachbarn, sondern die institutionalisierte Intoleranz der Ausländerpolitik.

Das Friedensdorf wollte ursprünglich 60 Prozent Deutsche und 40 Prozent Ausländer aufzunehmen, heute sind nur etwa ein Drittel der Mieter aus dem Ausland. "Es gibt einfach nicht so viele Ausländer, wir wir gern hätten", sagt Baum. "Immer weniger Asylsuchende schaffen es nach Deutschland." Und die, die bleiben dürfen, finden in Storkow keine Arbeit.

Das Friedensdorf arbeitet mit dem Asylbewerberheim Haus Hoffnung im nahen Fürstenwalde zusammen. Freie Wohnungen werden an Asylsuchende vergeben - wenn diese Interesse haben, das Heim verlassen dürfen und die Zimmeranzahl zur Familiengröße passt. Bis auf einige Spätaussiedler sind die ausländischen Bewohner Asylbewerber: Neben den Jurados aus Kolumbien, gibt es eine Großfamilie aus Afghanistan, sowie eine fünfköpfige Familie aus der russischen Kaukasusrepublik Dagestan. "Die ständige Unsicherheit, wie lange die Familien bleiben können, ist das größte Problem", sagt Gabriele Baum. "So fällt es viel schwerer, sich zu integrieren." Ute Ulrich erzählt, dass es für alle schlimm ist, wenn wieder eine Familie gehen muss. "Besonders die Kinder leiden, wenn zum wiederholten Male Freundschaften zerstört werden", sagt sie.

Die Deutschen dagegen sind meist langjährige Bewohner und haben schon zahlreiche Wechsel ihrer ausländischen Nachbarn miterlebt. Kerstin Mankowski lebt schon einige Jahre in der Siedlung, momentan neben der Familie aus Dagestan. Sie zog hierher, weil die Wohnungen die ersten in Storkow waren, die behindertengerecht ausgestattet wurden. Ihre Tochter hat eine Sehschwäche. "Die Ausländer waren mir egal", erinnert sich Mankowski. "Das ist doch ganz normal, mit Ausländern zusammenzuwohnen." Probleme gebe es kaum, Differenzen wegen Grillen über offenen Feuer hätte sie mal angesprochen. Aber auch sie stört, dass die ausländischen Nachbarn so oft wechseln. Das vierjährige Mädchen von nebenan klingelt inzwischen fast täglich, um mit ihrer Tochter zu spielen. "Das ist schön blöd für die Kinder, wenn die Familie jetzt gehen muss", sagt Kerstin Mankowski. Statt "Ausländer rein oder raus" geht es heute im Friedensdorf darum, wie sich das Zusammenleben ganz praktisch umsetzen lässt. Die gute Nachbarschaft steht dabei im Vordergrund. "Man kann auch mal den Schlüssel stecken lassen, und alle gucken nach den Kindern mit", sagt die dreifache Mutter Mankowski. Auch deswegen denken alle langjährigen Mieter aus dem Friedensdorf gern an die bosnischen Familien zurück, die Mitte der 90er-Jahre dort lebten, bis sie Deutschland verlassen mussten: "Mit den Bosniern war es immer lustig", sagt Kerstin Mankowski. Richtige Freundschaften seien da entstanden. Einige der bosnischen Familien waren nach ihrer Rückkehr oder Emigration in die USA schon zu Besuch in Storkow. Aber auch das ist für die Kinder nicht leicht, erzählt Ute Ulrich. Zwei befreundete Mädchen haben sich zum Beispiel gleich wieder wie früher verstanden. "Aber zusammen zu telefonieren lehnen sie ab", sagt die Sozialarbeiterin. Auch Frank Hennig vermisst die Bosnier und wäre froh, wenn sie wieder zurückkommen könnten. Er findet, es wohnen zu wenige Ausländer im Dorf. Das ganze Projekt ist ihm schlichtweg zu normal geworden. "Die deutsche Mentalität stört manchmal", sagt Hennig entschieden. "Die Pionierzeit ist vorbei", fasst das die Vereinsvorsitzende Gabriele Baum zusammen. Wegziehen käme für Frank Hennig trotzdem nicht in Frage. Er will bis an sein Lebensende im Friedensdorf wohnen bleiben.

 

 

Samstag, 31. Juli 2004

In Polen wartet man voll Misstrauen auf Gerhard Schröder

Streit über Vertriebenenzentrum und Entschädigungsforderungen - dem Bundeskanzler muss in Warschau schon etwas einfallen, wenn er die Ängste der Polen beruhigen will

WARSCHAU taz Versöhnendes Händehalten über Soldatengräbern gehören nicht zum politischen Stil von Bundeskanzler Schröder. Das hatte er schon auf seinem ersten Polenbesuch vor gut sechs Jahren gesagt. Klartext wolle er reden und Realpolitik machen. In Polen kam das nicht gut an. "Die Deutschen wollen ihre Geschichte vergessen", hörten viele aus der Rede heraus.

Zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes wird Schröder genau das tun, was er immer vermeiden wollte: Kränze niederlegen, eine Trauerrede halten, eine historische Geste machen. Für ihn und die Regierung steht viel auf dem Spiel: die Glaubwürdigkeit der Deutschen. In den letzten Wochen und Monaten ist sie leichtfertig aufs Spiel gesetzt worden. Die immer lauter werdenden Forderungen der Vertriebenverbände nach Eigentumsrückgabe und Entschädigung ließen in Polen alte Ängste aufbrechen, was von den meisten Deutschen aber kaum registriert wurde. Ewiggestrige sind schließlich eher eine politische Randerscheinung.

So verstanden viele Deutsche auch die Stoßrichtung des "Zentrums gegen Vertreibungen" nicht, das, wie es die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, einmal formulierte "in geschichtlicher und räumlicher Nähe" zum Holocaust-Mahnmal angesiedelt werden solle. Steinbach: "Im Grunde genommen ergänzen sich die Themen Juden und Vertriebene miteinander. Dieser entmenschte Rassenwahn hier wie dort, der soll auch Thema in unserem Zentrum sein."

Als dann auch noch zwei Vertriebenenverbände die Preußische Treuhand gründeten, sich als "Prussian Claims Society" deklarierten und wie die Jewish Claims Conference Sammelklagen ankündigten, war das Maß für die meisten voll. Mit welchem Recht, fragten sie, stellten die Vertriebenen sich selbst an die Seite der Juden, die Polen aber an die Seite der Nazis?

In Deutschland stellten sich bekannte Persönlichkeiten an die Seite Steinbachs. Ganz vorn dabei Peter Glotz, dessen Vater, wie der SPD-Politiker einst schrieb, "der Besitzer eines kleinen arisierten Betriebes für Gasmasken" und "ein unbedeutendes, ungläubiges Parteimitglied der Nazis" gewesen sei. Glotz und andere forderten von Warschau die Einhaltung der Menschenrechte. Die Reaktionen in Polen waren hysterisch, was wiederum viele Deutsche nicht mehr verstanden.

Vor kurzem wurde schließlich bekannt, dass das Bundesamt für Lastenausgleich in Bad Homburg begonnen hat, die Entschädigungszahlungen an Spätaussiedler zu überprüfen. Wer nicht nachweisen kann, dass er tatsächlich sein Haus oder Grundstück bei der Ausreise verloren hat, muss rund 4.600 Euro an den Bund zurückzahlen. Da zahlreiche Alteigentümer noch immer im polnischen Grundbuch eingetragen sind, gelten sie rein rechtlich auch heute noch als Eigentümer.

Schröder wird es daher schwer fallen, ein Klima des Vertrauens zu schaffen. Für viele Polen scheint nun klar, dass der deutsche Staat sich hinter die Forderungen der Preußischen Treuhand gestellt hat. Wenn Schröder in Warschau nur wiederholt, dass die Regierung keine Forderungen stellen werde, dies aber Privatpersonen nicht verbieten könne, wird sich am polnischen Misstrauen nichts ändern. Wenn er aber sagt, dass Entschädigungsforderungen der Vertriebenen nicht an Polen, sondern an Berlin zu richten seien, würde dies das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland entkrampfen. Doch dies hätte politische, juristische und finanzielle Konsequenzen, die noch nicht abzusehen sind." GABRIELE LESSER

 

 

Samstag, 31. Juli 2004

"Wir haben trotzdem gesiegt"

An einem selbstbewussten Polen waren weder Stalin noch Roosevelt oder Churchill interessiert. Dennoch war der Warschauer Aufstand nicht sinnlos

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

Der Warschauer Aufstand ist Mythos und Trauma zugleich. Er war einer der blutigsten, sinnlosesten und verzweifeltsten Kämpfe, die die Polen in ihrer an Verzweiflung nicht armen Geschichte geführt haben. Kein Ereignis des Zweiten Weltkriegs hat die Polen so stark traumatisiert wie das Scheitern des Aufstands von 1944. Bis heute sind die Hintergründe für den Tod von fast 200.000 Aufständischen und Zivilisten nicht klar.

Warum sah die Rote Armee tatenlos zu, als die Deutschen den Warschauer Aufstand niederschlugen? Warum saß in London plötzlich kein Pole mehr an den Funkgeräten? Warum ließen auch die Westalliierten Großbritannien und die USA Polen im Stich? Der Verdacht, dass sich Churchill, Roosevelt und Stalin schon vor Ausbruch des Warschauer Aufstands darauf geeinigt hatten, ihn scheitern zu lassen, um Stalin seine Kriegsbeute im Osten Europas zu sichern, konnte nie bewiesen, aber auch nie widerlegt werden. Die Historiker Wlodzimierz Borodziej und Norman Davies, die jüngst zwei Standardwerke zum Warschauer Aufstand vorlegten, mussten die Vorläufigkeit ihrer Bemühungen eingestehen: Auch für sie blieben die entscheidenden Archive in Russland und Großbritannien verschlossen.

So ist es kein Wunder, dass viele Polen sehr empfindlich und verletzt reagieren, wenn jemand den Warschauer Aufstand 1944 mit dem Ghettoaufstand 1943 verwechselt, wie es der frühere Bundespräsident Roman Herzog vor zehn Jahren getan hatte. Oder wenn Deutsche scheinheilig Mitgefühl mit den ach so armen Polen bekunden, die nach dem Vernichtungskrieg der Nazis für 50 Jahre hinter dem Eisernen Vorhang verschwanden, zugleich aber offene Kriegsrechnungen präsentieren. "Ich wohne in Warschau", erklärt Adam Michnik, der frühere Bürgerrechtler und heutige Chefredakteur der Gazeta Wyborcza, die Gefühlslage vieler Polen. "Das ist eine Stadt, die von den Deutschen total gesprengt wurde. Die Erinnerung an meine Kindheit - das sind Trümmer, Trümmer, Trümmer. Ich erwarte heute von keinem Deutschen, dass er sich dafür entschuldigt, dass ich in Trümmern groß geworden bin. Ich erwarte nicht einmal, dass mich ein Deutscher dafür um Entschuldigung bittet, dass fast meine ganze, 100-köpfige Familie im Holocaust umgekommen ist. Ich denke, dass man diese Rechnungen schließen muss." Die Vertreibung von Millionen Polen und Deutschen aus ihrer Heimat sei Folge des Hitler-Stalin-Pakts gewesen. Falls die Deutschen noch offene Kriegsrechnungen hätten, müssten sie diese selbst begleichen.

Im Spätsommer 1944 arbeiteten die einstigen Bundesgenossen Stalin und Hitler ein letztes Mal zusammen. Denn die Vernichtung der polnischen Hauptstadt war zwar militärisch völlig sinnlos, psychologisch aber von großem Nutzen für Stalin. Am 27. Juli 1944 hatte Moskau erklärt, dass das gerade erst gegründete "Polnische Komitee der Nationalen Befreiung" in Lublin "die einzige legale provisorische Regierung in Polen" sei. Damit begann der Kampf um die Macht im Land.

Mit dem Aufstand wollten die bürgerlichen Polen der ganzen Welt zeigen: "Wir sind die Herren im eigenen Haus. Wir befreien uns selbst von den Deutschen. Und: Wir wollen nicht von Moskau regiert werden!" Doch die Westalliierten hatten Stalin bereits 1943 die Gebiete Ostpolens zugestanden, die er 1939 annektiert hatte. Ohne Stalin war der Krieg nicht zu gewinnen. Die Weigerung der polnischen Exilregierung in London, als Ausgleich für die Verluste im Osten deutsche Gebiete in Schlesien, Pommern und Ostpreußen zu akzeptieren, sorgte für erheblichen Unmut unter den Alliierten.

An einem selbstbewussten Polen, das nach Kriegsende auf einen erfolgreichen Aufstand und Befreiungsschlag verweisen konnte, waren weder Stalin, Churchill noch Roosevelt interessiert. Nach dem gescheiterten Aufstand und der "Befreiung" Polens durch Stalin begannen Massenverhaftungen. Die Aufständischen wurden zu Volksfeinden und Kollaborateuren der Nazis erklärt. Es gab keine Denkmäler, keine Museen, keine Schulbücher, in denen die Wahrheit gestanden hätte.

Die selbstquälerische Frage nach dem Sinn des Aufstands, der so viele Opfer forderte, stellt heute niemand mehr in Polen. Doch die Wunden sind kaum verheilt und schmerzen noch immer. An diesem Samstag wird in Warschau ein Aufstandsmuseum eröffnet, das eine neue Epoche einleitet: an die Stelle der Sinnsuche wird die Sinngebung treten: "Wir haben trotzdem gesiegt. Wir sind frei."

Der Aufstand

Der Warschauer Aufstand war die größte bewaffnete Erhebung in den von Nazi-Deutschland besetzten Gebieten. Am 1. August 1944 um 17.00 Uhr begann die polnische Heimatarmee (Armia Krajowa, AK) mit ihren Angriffen auf deutsche Stellungen. Ziel der Offensive war es, Warschau noch vor dem Eintreffen der Roten Armee aus eigener Kraft zu befreien.

Den rund 25.000 schlecht ausgerüsteten Kämpfern der Heimatarmee standen zunächst knapp 20.000 Wehrmachtssoldaten, SS- und Polizeikräfte gegenüber, die nach Beginn des Aufstands durch weitere Truppen, Artillerie, Panzer und Kampfflugzeuge verstärkt wurden.

Die Hoffnung der Aufständischen, Warschau innerhalb von zwei bis drei Tagen unter ihre Kontrolle zu bringen, erfüllte sich nicht. Die Rote Armee, die bereits vor Warschau stand, griff nicht in die Kämpfe ein. Die britische Luftwaffe unterstützte die Aufständischen lediglich sporadisch mit Waffen und Versorgungsgütern.

Nach 63 Tagen brach der Aufstand zusammen. Fast 200.000 Tote waren zu beklagen, die meisten davon Zivilisten. 15.000 Aufständische kamen in deutsche Kriegsgefangenschaft, die Zivilbevölkerung wurde aus der Stadt vertrieben, in Konzentrationslager oder zur Zwangsarbeit verschleppt. Nach der Räumung der Stadt gingen die Sprengkommandos der deutschen Wehrmacht ans Werk. Bibliotheken, Archive und historische Bauten wurden systematisch zerstört. Ende 1944 war Warschau zu mehr als 80 Prozent verwüstet.

Die Erhebung der Heimatarmee wird häufig mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto verwechselt, wo sich von Januar bis Mai 1943 die verbliebenen 1.100 Juden gegen ihren Abtransport in die Vernichtungslager wehrten. AP/AFP

 

 

Samstag, 31. Juli 2004

 

Spiegel «erstaunt» über Verfassungsgerichts-Urteil zu Rechtsextremen

Paul Spiegel - hier Ende Mai bei einem Vortrag im Frankfurter Presseclub.

Düsseldorf (dpa) Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit für Rechtsextreme ist bei den Juden in Deutschland auf Unverständnis gestoßen. Auch die hier lebenden Juden träten für Meinungs- und Versammlungsfreiheit ein, sagte der Präsident des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, am Freitag in Düsseldorf. «Allerdings erstaunt es, dass das Bundesverfassungsgericht die sehr weitherzige Auslegung dieser Grundrechte immer wieder an Fällen rechtsextremer Demonstrationen festmacht.» Das Gericht nehme leider kaum Notiz davon, dass NPD-Demonstrationen «ausschließlich das Ziel verfolgten, die jüdische Bevölkerung zu provozieren und auszugrenzen».

Das Bundesverfassungsgericht hatte am Donnerstag geurteilt, dass das Grundrecht auf Meinungsfreiheit auch für Minderheiten gelte und nicht unter den Vorbehalt gestellt werden dürfe, dass Meinungen den herrschenden sozialen und ethischen Auffassungen entsprächen. Damit hatten die Verfassungsrichter einer Klage des NPD-Landesverbandes Nordrhein-Westfalen stattgegeben, der gegen ein Demonstrationsverbot vorgegangen war.

 

 

Samstag, 31. Juli 2004

 

Weisskirchen gegen Kürzungen bei Antisemitismusforschung

 

Gert Weisskirchen, außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, hat sich gegen Kürzungen beim Zentrum für Antisemitismusforschung ausgesprochen. Aktuelle Entwicklungen müssten weiterhin beobachtet werden.


Der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Gert Weisskirchen hat sich gegen Kürzungen beim Zentrum für Antisemitismusforschung (ZFA) der TU Berlin gewandt. «Was wir – leider – heute brauchen, ist nicht die nur historische Betrachtung des Antisemitismus: Es muss vielmehr verstärkt darum gehen, aktuelle Entwicklungen zu beobachten und analysieren», sagte Weisskirchen der Netzeitung.

Im Zuge der drastischen Sparmaßnahmen an den Berliner Universitäten wird über die Einsparung einer der beiden Professuren des ZFA nachgedacht. Damit wäre der Bereich der soziologischen empirischen Forschung über aktuelle Entwicklungen nicht mehr besetzt.

Exemplarisch habe die Antisemitismus-Konferenz, die vor kurzem auf Einladung Deutschlands im Rahmen der OSZE in Berlin stattgefunden hat, gezeigt, dass die Forschungsanstrengungen auf diesem Gebiet verstärkt werden müssten, so Weisskirchen. Alle Fachleute hätten dort einen akuten Bedarf an weiterer Forschung festgestellt. Daraus ergebe sich zwingend, den bisherigen «holistischen Ansatz» historischer und empirischer Forschung weiter zu verfolgen, den das Zentrum vertrete. (nz)

 

 

Samstag, 31. Juli 2004

Rassismus-Debatte
 
Der "Bastard" bleibt im Gespräch

Von Judith Reker

"Ich benutze 'Neger', wann ich will", sagte Parsifal-Tenor Endrik Wottrich und liegt damit im Trend einer neuen sprachlichen Unbefangenheit, die sich in den Medien hierzulande breit macht. "Neger" und "Bastarde" sind nicht mehr tabu in deutschen Zeitungen. Zum Glück gibt es jetzt ein kritisches Nachschlagewerk als Korrektiv.

"Afrika und die deutsche Sprache": Alternativen zum rassistischen Sprachgebrauch

Tenöre lernen in jahrelanger Ausbildung unter anderem, Worte deutlich zu artikulieren. Über Worte nachzudenken, lernen sie nicht unbedingt. Für alle, die trotz oder wegen ihres Berufs an der Bedeutung und Wirkung von Worten interessiert sind, ist jetzt unter dem Titel "Afrika und die deutsche Sprache" ein Nachschlagewerk erschienen. Es erläutert mehr als 30 Begriffe mit Bezug auf Afrika, die fest im Inventar der deutschen Sprache verankert sind.

"Stamm", "primitiv", "Bastard" und "Mischling" gehören dazu. Dass die meisten dieser Vokalbeln in der Zeit der Kolonialisierung Afrikas und der Formierung der Rassentheorien entstanden sind und deren Werturteile weitertragen, ist in Deutschland noch kaum angekommen - anders als in anderen ehemaligen Kolonialmächten wie Frankreich und England.

Zum Beispiel "Neger": Bekannt ist, dass das Wort auf das lateinische "niger", "schwarz", zurückgeht. Der Begriff tauchte in Deutschland im 17. Jahrhundert auf, etwa zur selben Zeit, als das Wort "Rasse" aus dem Reich der Flora und Fauna auf Menschen übertragen wurde. Pseudowissenschaftliche Rassentheoretiker wie zum Beispiel Pflanzenfreund Carl von Linné haben von Anfang an körperliche Merkmale mit moralischen und geistigen Eigenschaften verknüpft. "Neger sein" hieß nie nur "schwarz sein", sondern auch: faul, triebhaft, intellektuell minderwertig und kulturunfähig.

Schwarze gleich Neger

Das aktuellste Beispiel für genau diese Verknüpfung lieferte am vergangenen Montag der Bayreuther Tenor Endrik Wottrich gegenüber dem Nordbayerischen Kurier. Da versuchte der Parsifal-Sänger, "Neger" zu einem harmlosen Wort zu erklären ("Ich bin als Kind aufgewachsen: Schwarze gleich Neger"), und landete gleich im nächsten Satz bei "primitiven afrikanischen Stämmen, die heute noch in der Steinzeit leben".

"Ich habe es doch nicht so gemeint", heißt ein Kapitel in "Afrika und die deutsche Sprache". Es handelt davon, mit welchen Verweigerungsstrategien Weiße rassistisches Sprechen rechtfertigen. In der Regel, schreiben die Herausgeberinnen Susan Arndt und Antje Hornscheidt, werden keine Argumente angeführt, warum dieses oder jenes rassistische Wort benutzt werden muss.

Vielmehr weichen Kritisierte auf eine allgemeinere Ebene aus und stellen Begriffskritik an sich in Frage. Ein Verharmlosungsmuster ist zum Beispiel, Sprache der "Wirklichkeit" gegenüberzustellen. Worte seien doch gar "nicht so wichtig", ihr Vermeiden ohnehin nutzlos. Zuerst einmal müsse sich doch die "Wirklichkeit" ändern. Gesellschaftliche Veränderung also vor sprachlicher?

An dieser Stelle hätten sich die Autorinnen trauen können, den Umgang mit dem antisemitischen Wortschatz zum Vergleich heranzunehmen. Arndt und Hornscheidt stellen zwar fest, dass "ein reflektierter Umgang mit nationalsozialistischem Vokabular" nicht selten mit "Ignoranz" gegenüber "kolonialistisch geprägter Sprache" einhergeht. Aber die Chance zu anschaulichen Beispielen vergeben sie. Niemand in Deutschland, der reflektiert mit Sprache umgeht, würde wohl behaupten, erst müsse der Antisemitismus in der Gesellschaft überwunden werden, bevor man sich daran stören könne, wenn Juden als "artfremd" diffamiert werden.

Arm an Kontext, reich an Vorurteilen

Man ist nicht gleich ein Rassist, wenn man einen rassistischen Begriff benutzt, das stellen die Autorinnen von "Afrika und die deutsche Sprache" klar. Aber der Gebrauch rassistischer Vokabeln setzt grundsätzliche Akzente. "Vehemente Verteidigungen rassistischer Begriffe und Äußerungen sind in letzter Konsequenz nicht einfach nur als Unkenntnis, sondern als bewusstes Handeln zu bewerten", schreiben sie.

Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" zählte am vergangenen Dienstag in einer Besprechung der Bayreuther Parsifal-Inszenierung das Bühnen-"Inventar" wie folgt auf: "Tücher, Bücher, Bilder, Möbel, Salzgebäck, Fettecken und Ingwerwurzeln, Feldsteine, Neger und sonstige Reiseandenken".

Die Wochenzeitung "Die Zeit" führte in ihrer Ausgabe vom 22. Juli die Begriffe "Bastard" und "Mischling" wieder ein. Im Zusammenhang mit dem Mord am südafrikanischen Premierminister Hendrik Verwoerd 1966 schreibt das renommierte Blatt: "Demitrios Tsafendas, der Täter, war ein Bastard, ein Mischling, den die Rassenpolitik in den Wahnsinn getrieben hatte."

In Redaktionen und Lektoraten greift, wer sich nicht sicher ist, zu Duden und Brockhaus. Arndts und Hornscheidts Kompendium zerstört im Kapitel "Wörterbücher" jedoch die Illusion einer wertneutralen, politisch korrekten Informationskultur. Zwar gelten Wörterbucheinträge nicht als individuelle Meinungsäußerungen, sondern als Autorität für Sprachgebrauch und Bedeutung. Vergessen wird aber schnell, dass die Autoren von Nachschlagewerken eben keine indifferenten Instanzen sind, sondern Individuen mit eigener Sozialisierung.

"Folglich schreiben sich in Wörterbücher tendenziell Weiße, akademisch geprägte Mittelschichtsnormen ein", so Arndt und Hornscheidt. Selten haben sich die Verfasser mit den kulturellen Kontexten beschäftigt, die fehlende Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte der deutschen Sprache schlägt hier wortwörtlich zu Buche. Beispiel: der völlig unkommentierte Eintrag in der Brockhaus-Enzyklopädie für "Mulatte" (Band 15, 1991): "span. zu mulo , lat. mulus 'Maultier' (im Sinne von 'Bastard') Mischling mit europidem und negridem Elternteil."

Nachschlagewerke wie "Afrika und die deutsche Sprache" bilden leider immer noch die Ausnahme. Manche wertvolle Studie, wie die Berichte der Konrad-Adenauer-Stiftung zur Afrika-Darstellung in deutschen Medien, dümpeln in akademischen Fachzirkeln vor sich hin. Wer sich für das Gewordensein von Sprache, ihre historischen Bedingungen und Kontexte, interessiert, für den ist Arndts und Hornscheidts Text allerdings Pflichtlektüre. Neben der versierten und überaus wichtigen ideologiekritischen Schelte für selbstverständlich gewordene Begriffe bieten die Autorinnen nämlich auch konkrete Alternativen zum tendenziösen Sprachgebrauch.

So hätte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" statt "Neger" auch "Schwarze" schreiben können. Statt als "Bastard" hätte "Die Zeit" den Mörder des Premierministers als Sohn eines Griechen und einer Mosambikanerin bezeichnen können. Manchmal reicht statt "Neger" einfach auch Frau, Fotograf, Bäuerin oder wer auch immer uns sonst in Texten begegnet.


"Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk"
hg. von Susan Arndt und Antje Hornscheidt. Unrast Verlag. Münster 2004, 266 Seiten. 16 Euro.

 

 

 

Samstag, 31. Juli 2004

 

Spiegel: Kein Verständnis für Rechtsextremen-Urteil

 


"Erstaunt": Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden(Foto: dpa)

 

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit für Rechtsextreme ist bei den Juden in Deutschland auf Unverständnis gestoßen. Auch die hier lebenden Juden träten zwar für Meinungs- und Versammlungsfreiheit ein, sagte der Präsident des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, am Freitag in Düsseldorf. Allerdings erstaune es, "dass das Bundesverfassungsgericht die sehr weitherzige Auslegung dieser Grundrechte immer wieder an Fällen rechtsextremer Demonstrationen festmacht."

Meinungsfreiheit schützt auch Rechtsextreme
Das Gericht nehme leider kaum Notiz davon, dass NPD-Demonstrationen "ausschließlich das Ziel verfolgten, die jüdische Bevölkerung zu provozieren und auszugrenzen", sagte Spiegel weiter. Das Bundesverfassungsgericht hatte am Donnerstag geurteilt, dass das Grundrecht auf Meinungsfreiheit auch für Minderheiten gelte und nicht unter den Vorbehalt gestellt werden dürfe, dass Meinungen den herrschenden sozialen und ethischen Auffassungen entsprächen. Damit hatten die Verfassungsrichter einer Klage des NPD-Landesverbandes Nordrhein-Westfalen stattgegeben, der gegen ein Demonstrationsverbot vorgegangen war.

NPD klagte gegen Demonstrationsverbot

Die NPD hatte für den 26. Juni in Bochum eine Demonstration unter dem Motto "Keine Steuergelder für den Synagogenbau. Für Meinungsfreiheit." angemeldet. Die Polizeibehörde sah darin - wie auch später das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen - eine Ersatzveranstaltung für eine schon früher verbotene Demonstration - Motto: "Stoppt den Synagogenbau - Vier Millionen fürs Volk!" - und verwies auf das frühere Verbot.

Keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit
Die Karlsruher Richter sahen dafür keine Rechtsgrundlage. Das OVG habe seine Entscheidung ausschließlich auf den Inhalt zu erwartender neonazistischer Äußerungen gestützt - unabhängig davon, ob Straftaten drohen. Darauf könne ein Versammlungsverbot nicht gestützt werden. Es setze eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit voraus.

Meinungsäußerungen grundsätzlich frei
In der pluralistischen Demokratie des Grundgesetzes seien Meinungsäußerungen grundsätzlich frei, bekräftigten die Richter, es sei denn, der Gesetzgeber habe Schranken etwa zum Schutz der Jugend festgelegt. Im konkreten Fall komme daher ein Versammlungsverbot aufgrund unmittelbarer Gefahr für die öffentliche Sicherheit nicht in Betracht.

Staatsanwaltschaft: Keine Volksverhetzung
Die Verfassungsrichter stellten zugleich klar: Verletzen antisemitische oder rassistische Äußerungen Strafgesetze, so ist damit auch die öffentliche Sicherheit verletzt. Dann komme ein Versammlungsverbot in Betracht. Die Staatsanwaltschaft habe den Tatbestand der Volksverhetzung aber schon für das frühere Versammlungsmotto verneint.

 

 

 

Freitag, 30. Juli 2004

Michael Wildenhain

Bei Feuer Hast!

KEHRSEITE

Sie sagen: Gib zu, dass du ein Jude bist. Sie sagen: Komm, sag, dass du ein Jude bist. Sie sagen: Du musst es nur sagen.

Er sagt: Ich bin ein Jude. Sie sagen: Du lügst.

Sie stehen, während die Sonne schräg durch die schmalen Fenster gleitet, im Halbkreis vor ihm. Wenn sie sich bewegen, wirbeln die Füße Staub und Kornhülsen auf, die im Licht, das sich im stumpfen Fenster bricht, zu tanzen scheinen. Sie sagen: Bist du ein Jude?

Er sagt: Ja. Und danach, die Lider gesenkt und den Blick auf eine schartige Fuge vor sich im Betonboden geheftet, sagt er: Nein, ich bin kein Jude.

Warm streicht ein Streifen Sonne - der Vogelkot am Fensterglas blinkt - über das Haar, dann die Schläfe, die Wange des auf einem Stuhl ohne Sitzfläche sitzenden Jungen. Er flüstert: Ja, ich bin ... ich bin ein Jude, ja.

Sie lachen.

Aber sie lachen nicht laut.

Sie lachen, da sie zu viert sind (vielleicht) und den Jungen, der ein Jude sein soll oder keiner, im Halbkreis umstehen. Und sie halten, drei nur von ihnen, in ihren Händen, an deren Fingern sie Ringe tragen aus nicht rostendem Stahl, die Sonne fängt sich in dem nüchtern wirkenden Schmuck, sie halten, verborgen in der Höhlung ihrer Hände, Zigaretten. Bei Feuer Hast! steht auf einem Schild aus stellenweise brüchigem Emaille, das ein Nagel, notdürftig noch, neben der Tür an der Wand der Stallung hält - im Winter wird das Schild wohl von der Wand fallen und der Rost wird mit der Zeit über die Schrift, Bei Feuer Hast!, hinwegwandern - oft denkt der Junge an Dinge, die Dinge sind ihm ein Trost.

Jetzt tritt einer der vier jungen Männer, die den Jungen im Halbkreis umstehen, vor und hält die Glut der Zigarette - zögernd, beinahe behutsam - an die Haut am Hals des Jungen, der, die Hände hängen frei neben dem Stuhl, dem Rahmen eines Stuhles nur herunter und baumeln und schlenkern, nicht heftig, bewegen sich kaum, als dem Jungen die Glut die Haut am Hals versengt und es im Stall, der nicht benutzt wird, seit Jahren, nach verbranntem Fleisch riecht - bist du ein Jude, fragen sie und drücken seinen Kopf am Kinn nach oben.

Und der Junge erwidert: Nein.

Und er muss sich beherrschen, um nicht zu weinen, und denkt, ich weiß nicht, woher mich die Erinnerung an einen Vogel überkommt, der, wenige Wochen ist es her, an die Scheibe der Schulturnhalle geflogen und danach gestorben ist.

Ich habe ihn begraben, denkt der Junge. Gemeinsam mit meinem Bruder.

Es war der Tag, denkt der Junge, als ich mir die Ränder meiner Haare habe blond färben lassen.

Daran denkt der Junge, während er spürt, wie ihm ein zweiter junger Mann (jener vier, die ihn umstehen) eine weitere Zigarette, deren Glut auf die Brust drückt, dort, wo das T-Shirt die Haut nicht bedeckt. Der Junge riecht den Geruch verbrannten Horns, den Geruch seiner Haare, die ihm an wenigen Stellen auf der Brust zu wachsen beginnen, die blond sind, so dass sie niemandem auffallen. Nein, schreit der Junge, nein, ich bin kein Jude. Nein, schreit der Junge, nein. Und danach schluchzt er, ohne zu weinen, während ihm einer der, die ihn umstehen, einen Nietengürtel ins Gesicht schlägt, so dass die Lippen des Jungen aufplatzen und ihm Blut über Mund, Kinn, Hals und das versengte Haar in den wie immer schmutzigen Kragen des T-Shirts läuft.

Bei Feuer Hast.

Bist du ein Punk, brüllt der junge Mann, der den Nietengürtel in den unbenutzten Steintrog wirft. Bist du ein Punk und färbst dir deswegen deine Haare, brüllt er und hält ein Feuerzeug an die blonden Haarspitzen des Jungen. Wehr dich, flüstert der junge Mann, wehr dich, wenn du ein Mann bist. Wehr dich - bist du ein Jude?

Peng, hat der Bruder immer gesagt, tot. Der, das meinten die Leute des Ortes, gar nicht sein richtiger Bruder sei. Aber der Junge mag den Bruder, der, das Gesicht verkrampft zu einem Lächeln, die Kopfsteinpflasterdorfstraße entlang fährt, ein rasender Reiter, und: Peng! ruft, peng!, bist tot. Und der Junge lässt sich dann von einem Zaun rückwärts in eine Hecke fallen, die Hände eng an die Brust gepresst, dort wo das Herz ist oder die Lunge, peng!, peng!, stundenlang kann der Bruder, nie ist das Lächeln ein wirkliches Lächeln, auf den bloßen Fahrradfelgen über das Kopfsteinpflaster der wenig befahrenen Straße des Ortes reiten, bis vor zu den Stallungen manchmal, bei Feuer Hast, oder - peng, bist tot - am Waldrand entlang bis zum See.

Die vier, die jetzt im Pulk vor dem Jungen und nicht mehr im Halbkreis um ihn herum stehen, hänselten den Bruder, und schubsten ihn manchmal, und nahmen ihm das Fahrrad, das nur noch auf Felgen fuhr, weg.

Aber sie gaben es ihm irgendwann wieder zurück, denkt der Junge. So dass der Bruder, Matt Dillon - Rauchende Colts, denkt der Junge, wieder an mir vorbeireiten konnte, die Zähne gebleckt und das Holzstück gereckt, peng!, und ich falle rückwärts in eine Hecke, deren Blätter und Äste dicht sind und mich fangen wie ein Tuch.

Bist du ein Jude?

Einer der vier jungen Männer hat dem Jungen die Faust auf die Wange geschlagen, die Finger mit den Ringen aus nicht rostendem Stahl: bist du ein Jude, und hat ihm den Stuhl, kein Ansatz erkennbar (aber, ja, der Junge erkennt nur das langsame Wandern der Sonne über das sonderbar blinde Schild an der Wand bei der Tür), weggetreten, der Junge - wehr dich, ich kann nicht - liegt nun zwischen den Spelzen und Hülsen im Staub und hält seine Hände, als wären sie mit einer Schnur zusammengebunden, hinter dem Rücken verschränkt. Und einer der vier jungen Männer, die ihn umstehen, tritt dem Jungen in den Unterleib.

Er hat nicht getroffen, nicht richtig. Der Junge krümmt sich dennoch zusammen, und lächelt und spürt eine Sehnsucht nach seinem Bruder, wie er sie selten vorher empfunden hat. Er meint, nun erst zu wissen, ganz sicher, dass der rasende Reiter, Festus, ganz gewiss Festus, sein Bruder sein muss, er wünscht sich, bei seinem Bruder zu sitzen und - Kabel eins: Rauchende Colts - das selten gewaschene Hemd des Mannes zu riechen, der ein Kind geblieben ist. Der Junge möchte sein Gesicht darin vergraben, du bist ein Jude, und weint.

Unsicher sehen die vier zur Tür, an der der Bruder des Jungen, der am Boden liegt, vorüber fährt und horchen, ob das Klappern der Felgen und der Kette am Blech des Kettenschutzes aussetzt und nach einem Augenblick, als warte der Bruder, einsetzt und zurückkehrt zu den Ställen, die lange nicht mehr benutzt worden sind. Aber der Bruder des Jungen radelt, peng!, weiter zum See.

Wieder tritt einer der vier jungen Männer nach dem Jungen. Aber er tut es lustlos, beinahe ohne Kraft.

Wehr dich, sagt er. Doch die Worte sind schon, indem er sie ausspricht, vergessen.

Jude? - Nein, sagt der Junge. Punk und außerdem Jude? Nein, brüllt der Junge und klammert sich an den Turnschuh des jungen Mannes, der, da er nach dem Jungen getreten hat, noch vor dem Jungen, Jude, in der Luft hängt. Langsam pendelt die Sohle, bis sie der Junge mit beiden Händen umfasst, hin und her.

Lass los, sagt vor ihm der junge Mann. Und in seiner Stimme schwingt, gleich dem leisen Pendeln der Sohle, ein Staunen, ein dünnes Zittern - ich glaube das einfach nicht - mit.

Der Junge zerrt an dem Turnschuh, als wolle er sich daran hochziehen. Nun spürt er den Schmerz von der Glut, fühlt das rohe Fleisch, spürt die Wunde, empfindet den Geruch versengter Haut als ungut und zugleich drängend, ich bin kein Jude, und schämt sich, und schämt sich auch seiner Scham. Und vergisst, was er gedacht und was er (vielleicht) empfunden hat, und sieht seinen Bruder noch einmal, den wilden Reiter, am Fenster in der Tür vorbeigleiten.

Und ruft: Ich bin kein Jude. Ich bin, er flüstert und lässt, er möchte die Sohle säubern, den Turnschuh los, wie ihr.

Beiß in den Trog, sagt einer der vier jungen Männer, der, der nicht raucht und nie geraucht hat, indem er auf den runden Rand aus Stein deutet, die Rinder oder die Schweine werden mit Nüstern und Schnauzen darüber gefahren sein, wenn sie, du bist ein Jude, das Kraftfutter im Trog, das Mahlen der mächtigen Zähne, gefressen haben.

Der Junge beißt, das Blut am Kinn ist getrocknet, in den Rand des Trogs. Er schmeckt (und dabei denkt er an seinen Bruder, der nur im Schlaf lächeln kann, ohne das Gesicht, wenn er lacht, zu verkrampfen) den Stein, den viele Tiere vor ihm berührt haben.

Die Sonne, weitergewandert, streift das versengte Haar, das an den Enden blond ist. Und dann die Wange des vor dem Steintrog am Boden kauernden Jungen: der wartet und trotz seiner Schmerzen staunend die Härte des Steins an den Kanten der oberen Schneidezähne wie einen undeutlichen Trost spürt, als einer der vier jungen Männer mehrfach, er trägt festes Schuhwerk, auf den, du bist kein Jude, Kopf des vor ihm Kauernden springt und ihm den Schädel bricht und den Jungen tötet.