Presseschau Juni 2003
Die Presseschau ist ein Service des durch entimon geförderten Projektes respectabel.de
Mittwoch, 28.
Mai 2003
Rechtsradikalismus: Thierse
diskutiert mit Jugendlichen
Köpenick
Das NPD-Verbot ist gescheitert - was nun? Zu
dieser Frage hatte das Jugendbündnis "Bunt statt braun" gestern
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) ins Haus der Jugend Köpenick eingeladen
- wenige Meter entfernt von der NPD-Zentrale. Rechtsradikale seien im Aufwind,
seitdem das Bundesverfassungsgericht den Verbotsantrag abgelehnt habe - diesen
Eindruck teilen die jungen Leute Thierse mit.
Eine Gruppe aus Johannisthal berichtet von Angriffen
Rechter am Bahnhof Schöneweide. "Wir waren zu dritt und von 20 Faschos
umringt", erzählt eine Betroffene. "Bestimmte Straßen in Johannisthal
können wir nicht mehr entlanggehen." Und von der Polizei würden sie nur
scheel angesehen. Aufklärung solcher Straftaten gelinge selten. Doch pauschale
Behauptungen lässt Thierse nicht unwidersprochen stehen. "Es ist Ihr
staatsbürgerliches Recht, Hilfe von der Polizei zu fordern. Seien Sie bloß
nicht schüchtern", rät er. "Die Gerichtsverfahren sind heute anders,
die Urteile eindeutiger und die Begründung entschiedener als noch vor fünf
Jahren." Vorfälle wie diese gebe es auch in anderen Teilen Deutschlands.
"In einem thüringischen Dorf etwa. Unerhörte Angst war da zu spüren."
Dennoch habe man eine Lösung gefunden.
Thierses Vorschlag: Verbündete suchen,
kommunale Politiker und Polizei einladen. "Ich vermittle das gerne",
bietet er an. Ihm wird ein weiteres Problem vorgetragen: Rechtsradikale
unterlaufen einen staatlichen Jugendclub im Bezirk und rekrutieren dort ihren
Nachwuchs. Thierse rät, dass ein fester Kern demokratischer Jugendlicher aktiv
werden sollte. "Nehmen Sie den Kampf unter Ihresgleichen um die Herzen und
Köpfe auf."
Freitag, 30. Mai
2003
Der braune Spuk bleibt aktiv
Von Peter Kirschey
Auch wenn zur Zeit wenig zu hören ist aus der rechten Szene
in Berlin. Sie existiert und ist weiter aktiv. Zwar gibt es momentan keine
spektakulären Aufmärsche, keine schillernden Personen, die Tausende auf ihren
unheilvollen Weg mitziehen, auch keine öffentlichen Provokationen, die nach
Gegenwehr mutiger Antifaschisten rufen. Still ist es auch um die Zentralen der
beiden etablierten Rechtsparteien in Köpenick und Pankow geworden, rechte
Kameradschaften haben sich auf ein paar Splittergruppen reduziert. Doch die
latente neonazistische Gefahr gehört noch lange nicht der Vergangenheit an.
Zu Recht haben die Berliner Bündnisgrünen jetzt darauf
hingewiesen, dass eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem
Rechtsextremismus kaum erfolgt. Dabei sprechen die Zahlen eine klare Sprache:
Die Zahl rechtradikaler Straftaten hat sich 2002 im Vergleich zum Jahr davor
verdoppelt. Die rechte Alltagskultur etabliert sich besonders im Jugendbereich.
In bestimmten Klubs und Szenetreffs werden ohne jede moralische Scheu
ausländerfeindliche Parolen verbreitet, an S-Bahnhöfen wie Grünau oder
Schöneweide haben sich rechte Kader dauerhaft etabliert. Wer sich dort als
Ausländer oder junger Antifaschist zu erkennen gibt, muss mit einer Provokation
rechnen.
Nach wie vor grassiert der »kleine, stille Rassismus« in
Behörden, nach wie vor haben es ausländische Mitbürger viel schwerer, eine
Wohnung zu bekommen, werden sie von einigen Wohnungsbaugesellschaften mit
fadenscheinigen Begründungen zurückgewiesen. Schlechte Deutschkenntnisse etwa
ist ein Argument, das Menschenrecht auf Wohnen zu verweigern. Deshalb gilt es,
wachsam zu bleiben. Oder haben wir uns alle nur daran gewöhnt, dass rechter
Unrat zur Stadt gehört? Daran darf man sich nicht gewöhnen.
Dienstag, 3.
Juni 2003
»Schule ohne Rassismus« organisiert Spendenaufruf »Run for
Help«
Erst kürzlich ging der Titel »Schule ohne Rassismus« an die
Alexander-Puschkin-Oberschule in Lichtenberg. Die Regionale Arbeitsstelle für
Ausländerfragen (RAA) und Schauspielerin Iris Berben als Patin waren sich
sicher, dass die multikulturelle Schule die seltene Auszeichnung verdient hat.
Jetzt organisierten Schüler der neunten Klassen zum
jährlichen Sommerfest einen Spendenlauf für die Partnerschule in Mosambik.
Gestern wurde das Vorhaben von Schülern und Lehrern vorgestellt. Mit dabei war
auch Bezirksbürgermeisterin Christina Emmrich (PDS), die sich als Schirmherrin
und Sponsorin zur Verfügung stellt. Unter dem Motto »Run for Help« sollen am
Sonnabend, dem 14. Juni, Eltern, Lehrer und lokale Prominente den Läufern 50
Cents für jede zurückgelegte Runde spenden. Neben Schülern können ebenso
Freunde und Verwandte mitlaufen – vorausgesetzt, sie finden einen zahlenden
Unterstützer. »Einige Lehrer trainieren auch schon fleißig«, so Schulleiterin
Lilia Orlamünder. Zahlreiche Firmen, Vereine und öffentliche Träger seien als
Sponsoren eingeladen worden. »Wir haben nicht nur Firmen angesprochen, die
beiden Krankenhäuser des Bezirks und das Bärenschaufenster haben schon
zugesagt.« Als ehemaliger Bürgermeister von Lichtenberg und geübter
Marathonläufer wird Wolfram Friedersdorff (PDS) die Sportveranstaltung
eröffnen.
Die Solidarität mit Mosambik hat nicht nur in der Schule
eine lange Tradition. Zwischen dem fünften Bezirk der Hauptstadt Maputo und
Lichtenberg besteht eine langjährige Partnerschaft. Seitdem Direktorin
Orlamünder 1995 die dortige Bagamoyo-Schule besuchte, gibt es regelmäßig
Aktionen zum Thema. Vor allem die Projektgruppe »Jugend und Gemeinwesen« ist im
schuleigenen Schülerclub aktiv. Interessierte Schüler haben hier die
Möglichkeit, Lesungen, Diskussionsrunden und Partys zu veranstalten. Träger des
Clubs ist die RAA, deren Sozialarbeiter Daniel Ibraimovic die Aktionen der Schüler
unterstützt: »Wir fördern die Auseinandersetzung mit anderen Ländern und
Kulturen.«
Die Gesamtschule umfasst die Klassenstufen sieben bis zehn,
die Schüler stammen aus 26 Ländern und arbeiten zum Teil seit Jahren in
antirassistischen Projekten mit. Einige haben sich in Eigeninitiative auf die
Suche nach Sponsoren und Unterstützern für die Partnerschule gemacht. »Ich bin
einfach stolz auf meine Schüler«, so Orlamünder. Besonders freue sie sich, dass
nachvollziehbar bleibe, wofür das gesammelte Geld verwendet wird. »Zugeschickte
Fotos können die Verbesserungen dort zeigen.« Zahlreiche Wandzeitungen in den
Räumen der Puschkin-Oberschule zeugen von früheren Spenden.
Das jährliche Sommerfest ergänze sich mit dem geplanten
Spendenlauf hervorragend, meint Uta Schröder. Die Physik-Lehrerin organisiert
zusammen mit Kollegen, Eltern und Schülern Kuchenbasar, Bühnenprogramm und
Volleyball-Turnier.
»Run for
Help«, 14. Juni 2003.
Beginn 10 Uhr auf dem Sportplatz in der Zachertstr. 50,
10315 Berlin
Dienstag, 10. Juni 2003
Völlig meschugge
Nach
Möllemanns Tod blüht der Antisemitismus im Netz
Von
Wolfgang Hettfleisch
Wer Möllemann auf dem Gewissen hat? Die Juden natürlich!
Mossad, zionistische Weltverschwörung, jüdisches US-Kapital - suchen Sie sich
was aus. Willkommen in der Welt der Focus-Foristen! In den
Diskussionszirkeln der Online-Ausgabe des Nachrichtenmagazins steppt seit
Möllemanns Sprung in den Tod der Bär, und der Pelz von Meister Petz schimmert
in der Internet-Community der Münchner bevorzugt in Brauntönen.
Selbstredend hat die Mordthese Konjunktur. Immerhin starb da einer, wie wir
lesen dürfen, für "die Meinungsfreiheit und Wahrhaftigkeit in unserem
Lande". Doch die aufrechten Verschwörungstheoretiker im elektronischen Focus-Briefwechsel,
stets auf Du und Du mit den kriminellen Machenschaften des jüdischen Kapitals,
haben noch Hoffnung. Etwa darauf, dass es "die Israel-Lobby" nicht
schaffen wird, "die Menschen so einschüchtern, dass sich niemand traut,
die Wahrheit zu auszusprechen".
Die Leute im Focus-Forum trauen sich. Und wie! Dass allerdings einer der
mutigen Querdenker am heimischen PC einen Beitrag mit "Heil Hitler"
zeichnete, ging der "Communityleitung" dann doch irgendwie zu weit. Der
Urheber wurde gesperrt, rechtliche Schritte behielt man sich vor. Was die
Mehrzahl der Teilnehmer am kaffeebraunen PC-Kränzchen empörend fand, irgendwie
antidemokratisch. Ist doch ein freies Land, oder? Die Forums-Verwaltung machte
einen Vorschlag zur Güte: "Wer ist für oder wer ist gegen den Nazigruß im
Focusforum?" Es lebe die Meinungsfreiheit!
Der Gerechtigkeit halber sei erwähnt, dass sich etliche Forums-Teilnehmer im
falschen Film wähnten. Doch der Wahnsinn hat durchaus Methode. Keine These ist
zu abstrus, kein "Ich hab' doch nix gegen Juden"-Gesudel zu abwegig,
um nicht als geistreicher Beitrag einer verfolgten und unterdrückten
Gegenöffentlichkeit gefeiert zu werden. Er sollte eben mundtot gemacht werden,
der Möllemann, oder, um im Duktus des Forums zu bleiben: "Möllemann wurde
von lauthals krächzenden Juden, die den Hals nach all den zurecht gezahlten
Kriegsentschädigungsgeldern nicht voll genug kriegen (Friedman und Co.), von
den arschkriechenden Medien und von den Kollegen so sehr gehetzt, dass es
unmöglich für ihn wäre, nach einem Rücktritt ein normales Leben zu führen ohne
auf der Straße erkannt zu werden mit dem Ruf ,Da ist ja Mölle, der alte
Judenhasser'." So machen sie das mit ihren Gegnern, die Zionisten und ihre
Verbündeten. Und überhaupt: "Das ganze jüdische und islamistische Gesocks
soll verrecken." So der Freund der alphabetischen Variante der Chiffre 88,
dessen Beiträge vorgeblich alle gelöscht werden sollten.
Nicht, dass man braune Parolen dulden würde im Forum, wo schon mal einer launig
unter dem Kürzel "Gröfaz" in die Runde grüßt und ein gewisser Martin
W. stolz verkündet, das ideologische Rüstzeug mosaischer Möllemann-Meuchler
beim Studium des Talmud gefunden zu haben: "Ein Mädchen von drei Jahren
und einem Tag ist zum Beischlaf geeignet - Niddaa 71 a, Kethuboth 6 a, Jabmuth
57 a und 60 a, Kidduschin 10 a, Aboda zara 37 a."
Doch niemand weit und breit, mit Ausnahme natürlich der aufrechten Deutschen im
Focus-Forum, der die marodierenden Horden jüdischer Kinderschänder und
Möllemann-Mörder aufhielte oder die Zustände in unserem Land auch nur
anspräche. Denn merke: "Es ist sogar wahrscheinlich, dass, selbst wenn der
Mord eindeutig nachzuweisen wäre, weiterhin durch die Politiker und die Medien
an der Selbstmordversion festgehalten würde. Wir wissen doch inzwischen, wie es
um dieDemokratie und Meinungsfreiheit in Deutschland wirklich bestellt ist. Nur
Schwachsinnige können sich noch Illusionen machen."
Und wenn die dann auch noch "erschütternde Dummheit" im Focus-Forum
beklagen, lernen sie schnell, wo Bartel den Most holt: "Wirst du vom
Mossad bezahlt ?"
PROZESS
UM DEN MORD AN MARINUS SCH.
Die drei Rechtsradikalen haben vor Gericht gestanden, wie sie
den 16-Jährigen quälten und töteten. Details und Umstände der Tat im
brandenburgischen Potzlow sind entsetzlich. Dennoch hat im Gerichtssaal eine
schleichende Gewöhnung eingesetzt. Die Angeklagten sind ohnehin regungslos
Das Grauen der Gewöhnung
aus Neuruppin KIRSTEN KÜPPERS
Es reicht nicht
aus, findet der Anwalt. "Man kann nicht sagen, Rechtsextremismus, und
fertig", sagt Volkmar Schöneburg. "Das greift einfach zu kurz. Da gab
es weitere Gründe, andere Motive." Der Anwalt steht auf dem Gerichtsflur.
Er hat ein glattes Gesicht, seine Stirn fängt schnell an zu glänzen. Er wippt
auf den Zehen, wenn er spricht, die Arme hinter dem Rücken verschränkt.
Drei Wochen
macht der Anwalt das schon: sich in den Prozesspausen auf den Gerichtsflur
stellen und den vielen Journalisten immer wieder Erklärungen liefern, neue
Argumente. Seit drei Wochen läuft am Landgericht Neuruppin das Verfahren gegen
die Brüder Marco und Marcel S. und ihren Freund Sebastian F. Der Verteidiger
will das Beste für die Angeklagten. Das ist sein Beruf. Er stellt sich auf den
Flur und redet mit den Journalisten, wirbt um Verständnis. Auch wenn es nichts
nützt.
Der Prozess
behandelt das, was im vergangenen Sommer in Potzlow, etwa 100 Kilometer
nordöstlich von Berlin, geschehen ist. Den Mord an dem 16-jährigen Marinus Sch.
Es geht um zwei Jugendliche und einen großen Bruder, die zusammen das
Verbrechen begangen haben. Eine Tat, die zu grausam scheint für alle Antworten
und jedes Verstehen.
Dabei haben die
drei Angeklagten bei der Polizei und vor Gericht alles zugegeben. Jetzt sitzen
sie da und gucken an der Aufregung vorbei. Am Entsetzen in den Gesichtern
hinter der Zeugenbank und den routinierten Abläufen davor. An den Zeugen, den
Richtern, den Staatsanwälten, den Gutachtern, den vielen Journalisten, den
Zuschauern hinten im Saal. Sie gucken auf irgendeinen weit entfernten Punkt in
der Luft. Was passierte in der Nacht zum 13. Juli 2002, haben ihre Anwälte
verlesen.
Sie waren an
diesem Abend zusammengesessen, hatten Karten gespielt und getrunken. Ein paar
von den gestandenen Alkoholikern aus dem Dorf, die beiden Brüder Marco und
Marcel S., 23 und 17 Jahre alt, sowie ihr Freund, der 17-jährige Sebastian F.
Eine heitere Geselligkeit, Bierdosen und Schnaps auf dem Tisch. Marinus Sch.
saß auch mit dabei. Ein Junge mit einem Sprachfehler, der weite Hosen trug,
seine Haare waren blondiert. Anstoßen, ein Bier, ein Schnaps, noch ein Bier.
Zusammen bewältigte die Runde einen langweiligen Freitagabend im Sommer.
Als einer der
alten Trinker nach Hause trottete, die anderen alkoholisiert in den Stühlen
hingen, nur die Jungen noch wach dasaßen, gab es plötzlich nichts mehr. Nur den
Unterschied: die Hose von Marinus und seine Frisur. "Ein anständiger
Deutscher trägt so was nicht", riefen die drei anderen, sie selbst hatten
Springerstiefel an, die Haare kurz geschoren, "Sag, dass du ein Jude
bist!" Sie schlugen fest zu. Sie schlugen Marinus ins Gesicht. Sie flößten
ihm ein Gemisch aus Bier und Schnaps ein. Sie prügelten, traten mit ihren
Stiefeln auf ihn ein. Nach einer Weile schleppten sie ihn auf das Gelände der
stillgelegten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft am Dorfrand. Sie
wollten Marinus "ein bisschen Angst einjagen", haben die Angeklagten
zu Protokoll gegeben.
In der ehemaligen
Stallanlage setzten sie die Misshandlungen fort. Die Anfangsszene des Films
"American History X" haben sie nachgespielt, den Film kannten sie
alle, Marcel S. hat das zugegeben: Marinus musste in die Kante eines
Futtertrogs beißen, Marcel S. sprang ihm auf den Kopf. Als das Opfer entstellt
dalag, schmiss er noch einen Betonstein. Nach vier Stunden der Qual war Marinus
Sch. tot. Den Leichnam versenkten sie in einer Jauchegrube.
Potzlow hat
knapp 600 Einwohner. Wenn alles so läuft wie immer, passiert weniger als
nichts. Die Sache wäre vielleicht niemals rausgekommen. Monate gingen vorüber,
die Menschen kauften ihr Brot beim Bäcker, ihr Bier beim Getränkehändler,
nichts hob den Ort aus der Gewöhnlichkeit seiner Tage. Auf die
Vermisstenanzeige von Marinus Eltern reagierte niemand. Die Täter hielten den
Mund.
Im August schlug
der ältere Bruder im nahe gelegenen Prenzlau einen Asylbewerber aus Sierra
Leone zusammen. Er wurde zu 3 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Jauchegrube
erwähnte Marco S. nicht. Womöglich wäre nichts davon je rausgekommen. Wenn sein
jüngerer Bruder nicht angefangen hätte mit einer kaltschnäuzigen
Ungeheuerlichkeit. Er fing an, mit dem Mord zu prahlen.
Immer mehr
Freunden erzählte er davon. Es war schon November, und Marcel S. befand sich in
einer betrunkenen Angeberlaune, als er ein paar Jugendliche zum alten
Stallgelände führte. Für 25 Euro, als Eintritt. Auf dem Gelände stocherte
er in der Jauchegrube, zeigte den halb verwesten Körper vor. Er hatte eine Axt
dabei, mit dieser hieb er auf die Leiche ein, brüllte herum. Keiner der
Beteiligten meldete diesen Vorfall der Polizei. Vielleicht auch, weil eine
Freundin der Brüder auf einem Schulhof auftauchte und einem Jugendlichen
drohte: "Wenn du was verrätst, kann dir auch so was passieren."
Man kann sich
vorstellen, wie es zuging. Die Sonntage in einem Dorf in der Provinz. Wo fast
jeder etwas weiß und keiner etwas sagt. Aber das Geheimnis war zu groß. Es ging
herum im Ort. Als die Gerüchte bei den ganz kleinen Kindern angekommen waren,
zogen sie los. Die Kinder liefen zusammen zur alten LPG, sie hatten Stöcke
dabei und eine Ahnung im Kopf. In der Jauchegrube fanden sie den Toten. Ein
Kind hat die Polizei angerufen, ohne seinen Namen zu sagen.
Seit drei Wochen
sitzen die Angeklagten nun schweigend und regungslos im Landgericht in
Neuruppin. Die schriftlichen Geständnisse, die ihre Anwälte verlesen haben,
enthalten nur ein mageres Bedauern. Marcel S. gibt an, beim Sprung auf Marinus
Kopf "ein Blackout" gehabt zu haben: "Umbringen wollte ich ihn
nicht." Ob das so etwas wie Reue sein soll, ist nicht zu erkennen.
"Am
rechtsextremistischen Hintergrund der Tat gibt es keinen Zweifel", meint
der leitende Oberstaatsanwalt Gerd Schnittcher. Die Angeklagten seien
"ortsbekannte Rechtsradikale". Marinus Sch. musste sterben, weil sie
ihn für "lebensunwert" hielten. Viele Zeugen haben ausgesagt, sie
haben die Vorwürfe weitgehend bestätigt. Die Staatsanwaltschaft fordert
Höchststrafen.
Der Anwalt
Volkmar Schöneburg verteidigt die Brüder gemeinsam mit seinem Bruder Matthias,
ein weiterer Anwalt vertritt den dritten Angeklagten. Obwohl es nicht gut
aussieht, hoffen sie, dass das Gericht beim Urteilsspruch am 18. Juni auf
verminderte Schuldfähigkeit erkennt. Wegen des Alkohols, den ihre Mandanten
getrunken haben in der Tatnacht. Es wird nicht einfach, die Kammer zu
überzeugen. In Deutschland urteilen die Richter mittlerweile streng, wenn
Rechtsradikalismus im Spiel ist. Man muss andere Motive finden. Deshalb stellt
sich der Anwalt von Marcel S. in den Pausen auf den Gerichtsflur. Deshalb redet
er mit den Journalisten, sagt immer wieder, dass es noch andere Gründe gab.
Man kennt diese
Erklärungen. Eine davon haben im Gerichtssaal die Zeugen gegeben. Ausgesagt
haben ein arbeitsloser Eisenbahner, ein arbeitsloser Rinderzüchter, ein
arbeitsloser Stallwirt. Die LPG wurde kurz nach der Wende abgewickelt. Seither
hat Potzlow eine schöne Landschaft mit schönen Seen und keine Arbeitsplätze.
Die Arbeitslosenquote in der Region liegt bei über 20 Prozent. Ein Zeuge kam angetrunken
in den Gerichtssaal. Zwischen Alkoholismus, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und
erzwungener Untätigkeit bringen viele in Potzlow ihr Leben zu.
Dann sind da
noch die überforderten Eltern. Eine arbeitslose Mutter und ein arbeitsloser
Vater, die hilflos zugucken, wie ihre Söhne Hakenkreuzposter ins Zimmer hängen.
Es gibt auch ein schwieriges Geschwisterverhältnis, das der Anwalt Volkmar
Schöneburg anführt. Marcel S. sah demnach mit einer Mischung aus Angst und
Bewunderung zu seinem Bruder auf. Er gehörte nicht immer zur rechten Szene. Er
hatte Phasen, in denen er Schlaghosen trug, Technopartys besuchte und Joints
rauchte. Aber jedes Mal wenn sein Bruder aus dem Gefängnis kam, rasierte Marcel
sich den Kopf und zog Springerstiefel an. Weil sein Bruder das genauso tat.
Der Anwalt
erklärt, Marcel S. habe sein Opfer nicht für minderwertig gehalten. Die beiden
waren Kumpel, früher hatte Marcel zusammen mit Marinus Autos geklaut und Mofas
repariert. Vielmehr sei der Mord eine Form der Selbstbehauptung unter Geschwistern
gewesen, glaubt der Anwalt.
Hinten auf der
Zuschauerbank des Gerichtssaals sitzt der Bürgermeister von Potzlow. Sein
Gesicht sieht still und betroffen aus. Er weiß, dass alle diese Argumente viel
sagen und nichts entschuldigen. Es bleibt das Verbrechen und seine Folgen.
Viele gucken nun auf Potzlow und seine Bewohner wie auf ein Nest voller
Ungeheuer. Sooft wie möglich versucht der Bürgermeister jetzt bei der
Verhandlung in Neuruppin zu sein. Zu ihm kommen ja später wieder die
Journalisten und fragen, er weiß das.
Die
Journalisten, die anreisen in die Provinz. Die ankommen mit ihren Mikrofonen
und Kabeln und ihren Fragen. Die ihre Beiträge abdrehen für die
Abendnachrichten und am nächsten Tag in einen anderen Winkel der Welt ziehen
für ein Ereignis, das noch keiner erlebt hat, das ist das Geschäft.
Ein Mann fällt
auf, der durch die Gerichtsflure von Neuruppin läuft. Er fällt auf, weil er
noch nicht so weit scheint wie die anderen Zuschauer, sich noch nicht gewöhnt
hat an die Nähe zu diesem Verbrechen. Der Mann ist Korrespondent der
zweitgrößten niederländischen Tageszeitung. Er ist an diesem Tag zum ersten Mal
mit dem Fall Potzlow beschäftigt, und er kann es nicht fassen. Dass der
Niederländer nun aufgeregt durch die Gerichtsflure läuft wie kein anderer, sagt
etwas über die schleichende Gewöhnung, die sich eingestellt hat, hier im
Gerichtssaal, aber auch in Deutschland angesichts der Menge und der Grausamkeit
der Vorfälle.
Jetzt rennt er
herum und stellt Fragen. Er spricht von Statistiken, von rechtsradikalen
Gewalttaten, von Politik. Er spricht von der unfassbaren Tatsache, dass es in
Deutschland Gebiete gibt, in denen Fremde um ihr Leben fürchten müssen. Er
fragt mehr als alle anderen Journalisten an diesem Tag. Er fragt eine Frau, die
vor dem Gerichtssaal sitzt. Sie ist Mitglied beim "Mobilen Beratungsteam
Brandenburg". Eine Frau, die die Welt erklärtermaßen besser machen will,
indem sie mit ihrem Verein jetzt auch in Potzlow mit Jugendlichen und
Sozialarbeitern Gespräche führt. Die Frau antwortet dem Journalisten, dass sie
Statistiken nicht traut und dass es auch Fortschritte gibt. "Die kleinen
Erfolge, die wir im Kampf gegen den Rechtsextremismus erzielen, muss man auch
anerkennen", sagt sie.
Noch etwas bleibt
übrig von diesen Prozesstagen in Neuruppin. Eine kleine Information. Der Anwalt
Volkmar Schöneburg hat sie vorhin auf dem Gerichtsflur gegeben, obwohl sie
nichts Gutes sagt über seinen Mandanten. Marcel S. hat sich in der
Untersuchungshaft ein Hakenkreuz auf sein Knie tätowieren lassen, hat der
Anwalt erzählt. Auf wippenden Zehen, mit einem leicht gequälten
Gesichtsausdruck hat er das gesagt. Und noch einen anderen Satz: "Es
könnte gut sein, dass er von den rechten Jugendlichen im Knast für den Mord an
Marinus gefeiert wird."
Freitag, 13. Juni 2003
Die Akten stapeln sich, Termine drohen überzogen zu werden - es muss schnell gehen im Moabiter Kriminalgericht. Auch für den Prozess gegen den 25-jährigen Guido A.* scheint wenig Zeit zu sein. Und am Ende ist von Reue die Rede und von einem Geständnis. Aber war es das? Die Anklage lautete Volksverhetzung und Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen. Guido A. hatte in der Nacht zum 15. Juni 2002 in seiner Wohnung in Mitte gemeinsam mit zwei Nachbarn Musik der Skinhead-Gruppe "Landser" gehört. Mit Titeln wie "Polacken-Tango" und deckungsgleichen Versen: "100 000 Liter Strychnin. Für Kreuzberg. Haut das Zeug ins Leitungswasser rein, dann geht die ganze Bande ein." Guido A.: "Ich habe mir eigentlich nicht sehr viel dabei gedacht." Sie hätten Skat gespielt, reichlich Bier und Schnaps getrunken. Die Landser-CD stamme ohnehin von einem der beiden Nachbarn. Anwohner beschwerten sich. Zwei Mal wurde die Polizei gerufen. Ein Beamter erzählt vor Gericht, er habe schon auf der Straße das Gegröle gehört: "Irgendwas von Israel, gegen das gekämpft werden müsse." Passanten hätten empört den Kopf geschüttelt. Und die drei Personen in der Wohnung seien dann auch "dem äußeren Anschein nach der rechten Szene zuzuordnen" gewesen. Einer von ihnen war Guido A. Der will zu diesem Zeitpunkt dieser Szene aber schon nicht mehr angehört haben. Das Porträt eines uniformierten Angehörigen der Waffen-SS in seiner Wohnung - reine Erinnerung, erklärt Guido A., es sei sein Opa. Die Landser-Hefte - "das hat doch damit nichts zu tun". 13 CDs mit Neonazi-Liedern, die sechs Monate später bei einer Durchsuchung seiner Wohnung gefunden wurden - "die lagen in einer Tüte, die habe ich nicht mehr gehört". Er habe jetzt anderes im Sinn und pflege in Neuruppin seinen schwer kranken Vater, beteuert er. Und auch wegen der Lebensgefährtin, die in Kreuzberg ein eigenes kleines Geschäft führe, sei er endgültig weg von der rechten Szene. Das Gericht, so scheint es, möchte ihm seinen Sinneswandel glauben. Es kommt in Absprache mit Staatsanwaltschaft und Verteidigung zur Einigung auf eine Strafe von sechs Monaten Gefängnis - ausgesetzt auf Bewährung. Ein weiteres Verfahren gegen Guido A. wegen einer - an das SS-Zeichen erinnernden - Sieges-Rune an seinem Briefkasten wird eingestellt. Und alles ging wirklich sehr schnell. (* Name geändert)
Samstag, 14. Juni 2003
Fürstenberg - Erneut ist die Gedenkstätte eines ehemaligen Konzentrationslagers in Brandenburg geschändet worden. Jetzt traf es das frühere Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Wie die Staatsanwaltschaft Neuruppin gestern mitteilte, hätten unbekannte Täter drei Text-Tafeln von Holzpfählen gerissen und 500 Meter weiter in einem Waldgebiet weggeworfen.
Eine der vier Tafeln mit einer Chronik der Verfolgung junger Frauen und Mädchen im so genannten "Jugendschutzlager" Uckermark, das einige Kilometer entfernt vom KZ Ravensbrück gelegen hatte, sei samt Holzpfahl aus dem Boden gerissen und in den Wald geworfen worden. Ihren Platz hatten die Tafeln unweit der eigentlichen Mahn- und Gedenkstätte.
Die Texte und Fotos auf den Tafeln erinnerten an das Leid der rund 1000 zwischen 1942 und 1945 inhaftierten Frauen. Sie waren vor zwei Jahren aufgestellt worden. Dass sie fehlten, hatten Polizeibeamte erst am Donnerstagabend bei einer Streifenfahrt bemerkt. Sie sollen aber bereits vor einigen Tagen gewaltsam entfernt worden sein, hieß es gestern.
Montag, 16. Juni 2003
Ausländerbeauftragte: Rechtsextremismus gravierendes Problem
Potsdam (dpa/bb) - Der Rechtsextremismus bleibt in Brandenburg nach Ansicht der Ausländerbeauftragten Almuth Berger weiterhin ein gravierendes Problem. Es gehe um die politische und zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit einer menschenverachtenden Ideologie, betonte Berger in Potsdam bei der Tagung «Mut zur Auseinandersetzung» des Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, dessen stellvertretende Vorsitzende sie ist.
Dienstag, 17. Juni 2003
Auf dem Bahnhof von Bernau (Barnim) sind am Samstag russischsprachige Jugendliche ausländerfeindlich attackiert worden. Die drei einschlägig vorbestraften Männer seien dank Videoüberwachung schon auf dem Bahnhofsvorplatz festgenommen worden und sitzen in Untersuchungshaft, teilte die Polizei am Montag mit. Die 16, 21 und 22 Jahre alten Täter riefen unter anderem "Russen raus". Die Gruppe russischsprachiger Jugendlicher war bereits in der S-Bahn von Berlin nach Bernau beschimpft worden. Als sie in der ostbrandenburgischen Stadt ausstieg, bemerkten eine Russischlehrerin und ihre Tochter die Attacke. Sie riet den Angegriffenen, den Bahnhof zu verlassen. Daraufhin schubste der 16-Jährige die Frau zu Boden. Ein Beobachter der Bahnhofs-Videoüberwachung rief die Polizei. Unklar ist noch, wo die fünf bis zehn Angegriffenen wohnen, da sie sich bisher noch nicht auf einer Wache gemeldet haben. "Vermutlich sind es Spätaussiedler oder deren Kinder", sagte Polizeisprecher Toralf Reinhardt. Zeugen berichteten zudem, dass die drei Männer am Samstag auch einen Zwölfjährigen zusammengeschlagen haben sollen - ebenfalls am Barnimer Bahnhof. Auch dieses Opfer hat sich bislang nicht gemeldet. "DPA
Mittwoch, 18. Juni 2003
Antirassistische Meile gegen
NPD auf Blumenfest
Protest gegen Missbrauch der Bezirksveranstaltung
Von Andreas Fritsche
Alles könnte so schön sein beim traditionellen Weißenseer Blumenfest. Doch die
Anwesenheit der neofaschistischen NPD ist wieder einmal ein Ärgernis.
Am Freitag eröffnet Bezirksbürgermeister Burkhard Kleinert (PDS) das Fest um 15
Uhr mit einem Freibieranstich auf der Wiese neben der Freilichtbühne. Um 19 Uhr
spielt die Ostrockband »Lift«. Am Sonnabend um 15 Uhr führt der Blumencorso die
Berliner Allee entlang, die Blumenkönigin wird um 17 Uhr gewählt und um 23.30
Uhr steigt am Strandbad ein Feuerwerk. Im Kulturhaus »Peter Edel« gibt es am
Sonntag Tanztee für Senioren (14 Uhr) und Puppentheater (15.30 Uhr). Ein
Lampionumzug startet um 19 Uhr neben der Freilichtbühne.
An Ständen bieten Händler ihre Waren feil. Außerdem stellen sich Bezirksamt,
Institutionen, Vereine und Parteien vor– darunter auch die NPD, die sich
bereits in den vergangenen Jahren einen Stand sicherte. Für dieses Mal kündigt
NPD-Sprecher René Bethage Mitglieder von Partei- und Landesvorstand an.
Das Blumenfest werde »seit Jahren von den rechtsextremen Parteien NPD und Rep
zur massenhaften Verteilung ihrer Propaganda missbraucht«, berichtet das
örtliche Netzwerk gegen Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt. »Gegen
Abend verwandelt sich das Familienfest regelmäßig zur Saufmeile für Hunderte
Rechtsextreme.« Nachdem im letzten Jahr am Abend des 22. Juni »rechte Schläger
Menschenjagden veranstalteten und mehrere Jugendliche verletzten«, soll in
diesem Jahr eine antirassistische Standmeile einen demokratischen Akzent
setzen. Zum Netzwerk gehören unter anderen Bund der Antifaschisten,
Migrantenhilfsverein Oase, Jusos und PDS.
Auseinandersetzungen um den NPD-Stand im Juni 2002 hatten Ende Mai ein
gerichtliches Nachspiel. Zu einer Geldstrafe verurteilt wurde Antifaschist
Wolfgang S., weil er mit einem Feuerzeug ein Loch in eine NPD-Fahne gebrannt
haben soll. Die Neonazi-Partei mischt sich bereits das dritte Mal in die
Festlichkeiten.
Das Bezirksamt verweist bei Nachfragen auf den Veranstalter, die Firma Nareyka.
Rechtlich gebe es keine Möglichkeit, der NPD einen Stand zu verweigern, heißt
es dort. Eine Ausnahme seien Mittelalter- oder Flohmärkte, wo einige Bezirke
Parteien und Vereine generell nicht zuließen. Im konkreten Fall fehle jedoch
jede Handhabe. »Es gibt doch eine Parteienfreiheit, das ist mein Standpunkt«,
so der stellvertretende Nareyka-Geschäftsführer Ulrich Bachmann. Das Bezirksamt
Pankow habe auch nicht verlangt, der NPD einen Stand zu verweigern.
Die juristische Einschätzung Bachmanns wird von Fachleuten geteilt. Die NPD
könnte vor das Verwaltungsgericht ziehen und dort die Teilnahme erzwingen.
Die Republikaner werden in diesem Jahr nicht dabei sein, sagte
Landesgeschäftsführer Detlef Britt auf Anfrage. Die Rechtsaußen-Partei hat
derzeit auch andere Sorgen. Die Arbeit der Bundeszentrale wurde vor etwa zwei
Monaten aus dem Gartenhaus der ehemals jüdischen Garbáty-Villa nach
Nordrhein-Westfalen verlegt. Der Landesverband kann das Pankower Gartenhaus
allein nicht finanzieren. Deshalb zieht man demnächst auf die gegenüber liegende
Seite der Berliner Straße in Räume, die derzeit noch renoviert werden. Der
Einzug der Reps ins Gartenhaus der Garbáty-Villa hatte um die Jahreswende
1998/99 Aufsehen erregt und heftige Proteste bewirkt.
Donnerstag, 19. Juni 2003
Martina Döckers Dokfilm „Bernau liegt am Meer“
Eigentlich wollte Andreas Müller ja in Kreuzberg kleine Leute verteidigen. Doch
dann landete er als Jugendrichter in Bernau. Und die kleinen Leute, mit denen
er in seinem brandenburgischen Arbeitsalltag konfrontiert war, trugen Glatzen
und ließen ihren Frust mit Baseballkeulen und Stiefeltritten an noch
Schwächeren ab. Die Justiz schien da ohnmächtig. Doch irgendwann, es war nach
einem brutalen Überfall am Herrentag an einem Badesee, hatte Jugendrichter Müller
genug von dem immer gleichen Katz-und-Maus-Spiel aus Bewährungsstrafen und
Wiederholungstaten. Er verfügte, was auch in Berlin einige von der Justiz im
Umgang mit jugendlichen Serientätern fordern: kurzen Prozeß und schmerzhafte
Strafen gleich beim ersten Mal. Außerdem wurde den Tätern das Tragen von
Springerstiefeln verboten, eine bei den Betroffenen treffsicher wirkende
Maßnahme – wenn auch von manch Außenstehendem als putziges Detail belächelt.
Daniel ist einer von denen, die ihre Stiefel nicht mehr tragen dürfen. Vor ein
paar Jahren schon geriet er in Andreas Müllers harte Hände. Jetzt hat er eine
Alkoholtherapie hinter sich, spielt in einem Resozialisierungs-Projekt mit
Aussiedlern und Polizisten Ball und wartet auf seinen nächsten und erst mal letzten
Prozess – und statt Glatze trägt er akkuraten Scheitel und den Hemdkragen
zugeknöpft. Auch der Gewalt hat Daniel abgeschworen, einen Polizeioberst nennt
er seinen Freund. Nur ein Nazi ist er immer noch, nur dass aus dem prügelnden
Skin ein ordentlicher Jungmann „rechter Gesinnung“ geworden ist, wie Daniel es
selbst nennt. Sonst spricht er gern im Bürokratenjargon von sich und den
„durchgeführten Straftaten“. Daniels Lieblingswort ist „normal“: Eine ganz
normale Kindheit habe er gehabt, ein normaler Typ sei er, der Heimat und
Familie liebt; und auch Deutschland soll eben einfach ein ganz normales Land
werden ohne Holocaust-Mahnmale und Wiedergutmachung und so Zeugs.
Rosemarie Calas ist eine normale Mittvierzigerin, vor dreizehn Jahren vom
„Bürger der DDR“ zum „Bundesbürger“ transformiert und jetzt als Streetworkerin
mit Jugendlichen wie Daniel tätig. Eine gestandene Frau, der man zutraut, den
dummen Sprüchen der jungen Rechten mehr als nur arrogante Gegensprüche
entgegenzusetzen, wie Richter Müller es gerne tut. Rosemarie Calas ist neben
Andreas Müller und Daniel die dritte Protagonistin von Martina Döckers („Mit
Haut und Haar“) neuem Dokumentarfilm „Bernau liegt am Meer“. Doch sie hat hier
eigentlich nur eine Sekundantenrolle, auch wenn der Film seine Figuren mit
einer kontrollierten Inszenierung formal gleichwertig miteinander verknüpft.
Dreimal Auftritt aus der Natur ins Kameraauge. Dreimal wird zu kurzen Porträts
mit Gitarrengezupfe innegehalten. Jede der drei wird auch bestimmten Verfahren
unterzogen, Befragungen etwa zu naheliegenden und auf den ersten Blick abwegig
erscheinenden Begriffen wie „Hände“ oder „Haut“. Deren Ergebnisse sind
persönlich aufschlussreich und auch erheiternd. Trotzdem sieht es manchmal so
aus, als hätte sich auch die Hilflosigkeit der Regisseurin gegenüber dem
schwierigen Stoff in diesen Inszenierungseifer eingeschrieben. Es ist eine
Hilflosigkeit, die ganz unkontrolliert hervorbricht, als sich die Regisseurin
bei einer antisemitischen Äußerung Daniels spontan selbst in die Debatte
hineinbringt, mit „absoluter“ moralischer Distanzierung und einem Appell an die
Menschlichkeit.
Doch Daniels Argumentation ist nicht unmenschlich, sie ist nur falsch. Es ist
dieser allgemein menschelnde Grundton, der „Bernau liegt am Meer“ in seiner
Aussagekraft bremst. Der Film zeigt drei Menschen, die an einem Punkt ihres
Lebens aufeinander treffen, nicht weniger und nicht mehr. Was er nicht zeigt,
ist der Kontext, der diese Leben prägt und erst verständlich macht. So
erscheint gerade Daniel immer auch ein wenig als einsamer pathologischer
Einzeltäter. Rechte Gewalt aber ist ein soziales Phänomen, das von einem
breiten Umfeld getragen wird – und immer noch höchst aktuell. Letztes
Wochenende erst wieder wurde im brandenburgischen Kebnitz eine Berliner
Schulklasse mit Baseballschlägern und Eisenstangen überfallen. Silvia
Hallensleben
Hackesche Höfe
Sonnabend, 21. Juni 2003
Unfruchtbarer Boden für Rechtsextremismus
Kasseler Verein will mit Mobilem
Beratungsteam demokratische Kultur fördern / Vorbilder in den neuen Ländern
Mobile Beratungsteams (MBT)
sollen die Gesellschaft in die Lage versetzen, sich gegen Rechtsextremismus und
Rassismus zu wehren. In Ostdeutschland existieren sie seit 1998. Jetzt soll ein
solches Team auch in Nordhessen gegründet werden. Es wäre das Erste seiner Art
in den alten Ländern.
Von Ralf Pasch
KASSEL. Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit sind
keine ostdeutschen Phänomene. Benno Hafeneger von der Uni Marburg hatte im
Jahre 2001 bei seiner Untersuchung zu rechtsradikalen Jugendcliquen in Hessen
festgestellt, dass in 38 hessischen Städten und Gemeinden solche Gruppen
existieren, vor allem im ländlichen Raum, die meisten im Main-Kinzig- und im
Schwalm-Eder-Kreis. Die Aktivitäten reichen von ausländerfeindlichen Sprüchen
bis zu Gewalt. Obwohl keine flächendeckenden Strukturen vorhanden seien, könne
man von Ansätzen zur Vernetzung sprechen, so Hafeneger. Er forderte die
"lokalen Eliten" dazu auf, das Problem Rechtsradikalismus in seinen
"kulturell mentalen und demokratiegefährdenden Ausmaßen" anzunehmen.
Doch zumindest für Nordhessen fehlen - abgesehen von einzelnen Bündnissen gegen
rechts - "kontinuierlich und flächendeckend arbeitende
Organisationen", konstatiert der in Kassel tätige Arbeitskreis für
politische Bildung, der Bildungsangebote zum Thema Rassismus organisiert.
Der Arbeitskreis will das ändern: Am 10. Juli soll der Verein "Mobiles
Beratungsteam gegen Rassismus und Rechtsextremismus - für demokratische Kultur
in Hessen" gegründet werden. Interesse an einer Mitarbeit gibt es unter
anderem aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund, der Arbeiterwohlfahrt, den
Jugendbildungswerken der nordhessischen Landkreise und dem Evangelischen Forum
in Kassel. Der Verein soll Träger eines Mobilen Beratungsteams werden, wie es
sie in allen neuen Ländern gibt. Einige werden von den Ländern finanziert, andere
über das Bundesprogramm Civitas, mit dem "Maßnahmen zur Stärkung der
demokratischen Kultur" unterstützt werden. Sollte ein Beratungsteam in
Nordhessen entstehen, wäre es das Erste im Westen.
In Thüringen koordinieren seit 2002 Regionalbüros in Gotha und Saalfeld die
Arbeit von Mobit, wie das Team heißt. Laut Cornelia Borstel wird Mobit nur auf
Anfrage tätig: "Kämen wir irgendwohin und würden sagen, ihr habt ein
Problem, würden wir nur Abwehrreaktionen erzeugen." Die Mobit-Arbeit ziele
nicht darauf ab, mit Rechtsradikalen zu arbeiten, sondern "ein
gesellschaftliches Klima zu entwickeln, das es der rechten Szene schwer macht,
sich zu vergrößern". Freilich kommen Anfragen oft erst dann, wenn ein
Problem unübersehbar geworden ist. So zum Beispiel von einem Jugendclub, der
von einer Neonazigruppe bedroht wurde - bereits seit sieben Jahren. Das war so
weit gegangen, dass Mitglieder aus dem Club krankenhausreif geschlagen wurden.
Mobit organisierte einen Runden Tisch, an dem neben dem Träger des Jugendclubs
auch Kommunalpolitiker und Polizei saßen. Möglicherweise muss das Thüringer
Team die Segel streichen, weil die CDU-Landesregierung es ablehnt, die ab 2004
nötige Co-Finanzierung zu übernehmen.
Der Kasseler Trägerverein für ein Beratungsteam will Land, Bund und EU als
Geldgeber gewinnen. Das Team würde zusätzlich zu den Aufgaben, die in den neuen
Ländern übernommen werden, Aufklärung über Rechtsextremismus anbieten,
Lehrerfortbildung organisieren, mit Sportvereinen arbeiten und sich für die
Integration von Migranten einsetzen. Ein erstes Projekt gib es schon: Bei der
Diskussion um eine Moschee in Kassel-Mattenberg sollen Kontakte geknüpft
werden, um "Konflikte zu entschärfen" und "mehr Toleranz
reinzubringen", sagt Christopher Vogel vom Arbeitskreis für politische
Bildung. Dazu ist mit der Stadt ein Antrag auf EU-Fördergelder gestellt worden.
Sonnabend, 21. Juni 2003
KOMMENTAR
Mobil machen
Von Ralf Pasch
Vielleicht
ist das Problem Rechtsextremismus im Westen nicht so massiv wie im Osten
Deutschlands. Aber das birgt die Gefahr, dass es klein geredet wird. Dass die
Aktivitäten Rechtsextremer zunehmen, ist inzwischen auch für Hessen
wissenschaftlich belegt. Gerade bei Jugendlichen trifft braunes Gedankengut
immer öfter auf fruchtbaren Boden. Doch von politischer Seite wird das Problem
offiziell kaum als solches benannt, geschweige denn etwas dagegen getan.
Es sind einzelne lobenswerte Initiativen, die vor Ort aktiv sind. Von einem
"Aufstand der Anständigen" kann also keine Rede sein. Deshalb ist es
nur begrüßenswert, wenn in Nordhessen ein Mobiles Beratungsteam gegen Rassismus
und Rechtsextremismus entstehen soll, das einerseits aktiv wird, wenn es akut
wird, das andererseits durch Bildungsarbeit prophylaktisch wirkt.
Bezeichnenderweise kommt der Anstoß dazu wieder nicht aus der Politik.
Wenn jetzt Geldgeber gesucht werden, sollte auch das Land Hessen seiner
Verantwortung gerecht werden und dazu beitragen, dass ein solches Team
aufgebaut werden kann. Thüringen, wo die CDU-Landesregierung derzeit die
Finanzierung verweigert und damit die Existenz des dortigen Beratungsteams aufs
Spiel setzt, darf kein Vorbild sein. Bei allen Sparzwängen muss beim Nachdenken
über die Finanzierung eines solchen Projekts bedacht werden, dass es dabei um
die Stärkung der demokratischen Basis unserer Gesellschaft geht. Und um etwas
gegen Rechtsextremismus zu tun, muss er nicht erst das Ausmaß annehmen, das er
im Osten hat.
Montag, 23. Juni 2003
Von Michael Mielke
Die Musik dröhnte über die Straße, Hetzparolen im Stil der NS-Propaganda. "Wir haben das Gegröle schon gehört, als wir aus dem Wagen stiegen", sagt ein Polizist. Wenig später fanden die Beamten bei einer Wohnungsdurchsuchung CDs der Skinhead-Musikgruppe "Landser". Öffentlich abgespielt erfüllte das den Tatbestand der Volksverhetzung. Der 25-jährige Wohnungsinhaber erhielt, wie berichtet, eine sechsmonatige Bewährungsstrafe.
Elf Tage später, vom 24. Juni an, stehen nun die Musiker der Gruppe selbst vor dem Kammergericht. Die Ermittlungen führte die Generalbundesanwaltschaft. Sie wirft den drei Angeklagten die Bildung einer kriminellen Vereinigung, öffentliche Aufforderung zu Straftaten, Verunglimpfung des Staates, Volksverhetzung und Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen vor.
Ziel der Gruppe soll es nach Auffassung der Ankläger gewesen sein, "über Musik-CDs rechtsradikales Gedankengut in der Jugendszene zu verbreiten". Die Musiktexte seien geprägt von rassistischen, nationalistischen und antisemitischen Hasstiraden und riefen zur Gewalt gegen Ausländer, Juden, Sinti, Roma und politisch Andersdenkende auf. Die Anwaltschaft soll es außerdem für nachweisbar halten, dass "Landser"-Lieder wiederholt im Zusammenhang mit rechtsextremen Überfällen standen.
Im September 2001 wurden die "Landser"-Mitglieder verhaftet. Beamte des Berliner Staatsschutzes hatten zuvor 15 Monate lang ermittelt. Nach Auskunft eines Mitarbeiters war das nur mit Hilfe von V-Leuten möglich. Die als rechtsextreme Kultband geltende Gruppe habe fast zehn Jahre konspirativ gearbeitet und öffentliche Auftritte vermieden. Produktion und Vertrieb der CDs erfolgte im Verborgenen. So wurden CDs meist im Ausland hergestellt, über vorgeschobene Abnehmer nach Deutschland eingeführt und mittels eines anonymen Bestellsystems vertrieben.
Welcher Couleur die Skinhead-Musikgruppe war, beweist auch die anhaltende Solidaritätsaktion einer in den USA ansässigen rechtsextremen Vereinigung mit dem Namen NSDAP/AO. Es werde befürchtet, steht auf ihrer Website, dass die Generalbundesanwaltschaft mit dem Prozess gegen "diese legendäre Musikgruppe" ein Exempel statuieren und "anständigen Deutschen" den Zugang zu dieser "Musik Andersdenkender" verwehre wolle.
Dienstag, 24. Juni 2003
von ROLF
LAUTENSCHLÄGER
Michael Braun, kulturpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Landtag, blickt multikultimäßig voll durch. Zwei Tage habe er den "Karneval der Kulturen" in der vorvergangenen Woche besucht. Gefallen fand er zudem. Und auch die Stände mit "brasilianischen Cocktails" seien ihm in Erinnerung geblieben. Dass nun "angesichts" der bunten Multikulti-Mischung in der Stadt ausländische Kulturvertreter die Frechheit besaßen, in der Anhörung im Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses am Montag über den Zustand "kultureller Vielfalt von Migranten" zu "jammern", hat Braun "geärgert". Hat der Mann zu viele Cocktails getrunken?
Sicher, niemand - auch nicht die Mehrheit der Fraktionen im Kulturausschuss - wird behaupten, Berlin besitze und fördere nicht kulturelle Aktivitäten seiner ausländischen Mitbürger. Das Land unterstützt die Werkstatt der Kulturen ebenso wie das Radio Multikulti. Im Tiergarten steht ein "Haus der Kulturen der Welt", Projekte polnischer oder türkischer Theatergruppen - wie das Tiyatrom - werden vom Land subventioniert. Doch anders, als Braun meint, und anders als die "Selbstwahrnehmung der Kultur-Metropole Berlin", wie Kultursenator Flierl (PDS) gestern kritische anmerkte, zeigt sich die Realität der kulturellen Vielfalt aus dem Blickwinkel der Akteure nicht so rosig.
Die über 400.000 Migranten und Migrantinnen in der Stadt partizipieren nur in geringem Anteil am Kulturleben Berlins wie auch am kulturellen Leben der eigenen Volksgruppen. Es fehlt an Spielstätten, wirklicher Akzeptanz, einem "interkulturellen Referat" beim Senat und Möglichkeiten zur Vernetzung der Mulitkulti-Kultur. Das "Markenzeichen" der Stadt, nämlich die Vielfalt der europäischen, afrikanischen oder lateinamerikanischen Künstler und Institutionen, müsse mehr Beachtung finden, sagte Giyasettin Sayan (PDS). Rot-Rot habe der interkulturellen Kulturarbeit zwar einen großen Stellenwert gegeben. Doch "ohne die Förderung dieser Kulturen wird es auch keine befriedigende Integration geben", warnte er.
Natürlich mangelt es am Geld: Gerade mal 343.000 Euro stellt das Land den Multikulti-Gruppen derzeit zur Verfügung. Anfang der 90er-Jahre waren es noch 1,5 Millionen Mark. Bei der Projektförderung werden die Gruppen nicht ausreichend berücksichtigt. Zudem besteht ein Ungleichgewicht bei der Verteilung von Geldern. Über 60 Prozent der Mittel fließen in das Kulturprojekt Tiyatrom, wie die Kulturarbeiterin Sevim Türkoglen anmerkte, 80 andere Antragsteller müssen sich den Rest teilen. Flierl will das nun ändern, indem er den Beirat im Tiyatrom umbesetzen möchte, um anderen "mehr Spielraum" zu geben.
Mehr Spielraum erhalten und damit mehr Öffentlichkeit erreichen, das ist das eigentliche Problem der Gruppen, wie die acht Vertreter gestern sagten. Abgesehen von den großen Events "bleiben wir geschlossene Gesellschaften", betonte die deutsch-mexikanische Schauspielerin Darinka Ezeta. Der kulturelle Showroom Berlin entspreche nicht dem einer "wirklichen Weltstadt" wie Paris oder New York mit offenen, nationenübergreifenden Konzepten.
Unterstützung erhielt Ezeta von dem afrikanischen Medienexperten Moctar Kamera. "Die Kultur liegt ausschließlich in den Händen von Nichtafrikanern", obwohl der Kontinent seit Jahren mit Musik- und Theateraufführungen "in Berlin präsent ist". Für Kamera ist neben der finanziell besseren Ausstatttung der Migrantenprojekte noch etwas anderes wichtig: nämlich die "Wahrnehmung einer großen Kultur", die dem Image einer Metropole zugute komme, sei es in Bezug auf Integration, das Zusammenleben oder den Wirtschaftsstandort Berlin.
Es war das erste Mal, dass Migranten im Abgeordnetenhaus die interkulturelle Arbeit und deren Perspektiven thematisierten: Für die Abgeordneten - bis auf einen - eine Lehrstunde "unverzichtbarer" Kultur (Flierl).
Mittwoch, 25. Juni 2003
Erstmals muss sich eine Neonazi-Band als
kriminelle Vereinigung vor Gericht verantworten – wegen rassistischer
Botschaften in ihren Liedern
Sonnenbrille, das Basecap verkehrt herum über den Zopf gestülpt, silberne Ringe
im Ohr und schwarze Bomberjacke. Ganz cool, ganz wichtig marschiert Michael R.
durch das Berliner Kammergericht. Umringt von einigen Muskelpaketen mit kahl
geschorenen Köpfen. Sie schirmen ihn ab. Wie einen Star. Wie ihren Star. Der
38-jährige Michael R. steht in dem Verdacht, Rädelsführer einer kriminellen
Vereinigung gewesen zu sein. Als Sänger, Texter und Bandleader der
rechtsextremen Rockgruppe „Landser“. Seit gestern sitzen R., der 35-jährige
Bassist André M. und der 27-jährige Schlagzeuger Christian W. auf der
Anklagebank. Schweigend, denn die Aussage verweigerten sie.
Die Bundesanwaltschaft betrat mit dem Verfahren juristisches Neuland. Erstmals
hat sie eine Skinhead-Band als kriminelle Vereinigung angeklagt. „Es liegt ja
nicht auf der Hand, eine Musikkapelle als kriminelle Vereinigung zu begreifen“,
sagte Bundesanwalt Wolfgang Siegmund am Rande des Prozesses. Bei „Landser“ sei
die Musik aber nur ein Transportmittel gewesen. „Um rechtsradikale Botschaften
in die Jugendszene zu bringen.“ Die Band habe es aufgrund eines hohen
Organisationsaufwandes und mit einem großen Maß an Konspiration geschafft, fast
zehn Jahre lang solche Musik herzustellen. „Das spricht dafür, dass es sich um
eine kriminelle Vereinigung handelte“, sagte der Bundesanwalt. Sollte das
Gericht dieser Auffassung folgen, drohen den rechten Musikern Freiheitsstrafen
bis zu fünf Jahren.
Gemeinsames Motiv der Mitglieder der 1992 gegründeten Band war es laut Anklage,
den Soundtrack für eine „arische Revolution“ zu liefern. In den Texten werde zu
Hass, Massenmord und Gewalt gegen Türken, Afrikaner, Juden, Sinti und Roma,
Linke, die Bundesregierung und zum Mord an prominenten Nazi-Gegnern wie Michel
Friedman aufgefordert. Der Papst werde beleidigt, führende Politiker als „Bande
von fettgefressenen Ratten“ verunglimpft. Neben Bildung und Mitgliedschaft in
einer kriminellen Vereinigung wird den drei Angeklagten Volksverhetzung,
Verunglimpfung des Staates und das Verbreiten verfassungswidriger Propaganda
vorgeworfen.
„Heimlichkeit, Konspiration und Abschottung nach außen verbanden die
Angeschuldigten zu einer verschworenen Gemeinschaft“, heißt es in der
Anklageschrift. Ab 1993 soll „Landser“ in den Untergrund abgetaucht sein. Ihre
CDs mit Hetzparolen im Stil der NS-Propaganda wurden im Ausland hergestellt,
über Mittelsmänner nach Deutschland eingeführt und über „Vertraute“ in der
rechten Szene verkauft. Angeblich mit Gewinn. „Landser“ soll beispielsweise für
die CD „Republik der Strolche“ Mitte der 90er Jahre 34 000 Mark kassiert haben.
Im Herbst 2001 schlug die Polizei nach monatelangen Ermittlungen zu. Weil
Skinhead-Musik als ein Wegbereiter für rechte Gewalttaten gilt. Aber eine
Musikgruppe als kriminelle Vereinigung? „Das ist ist rechtlich heiß umstritten,
und ich halte es für nicht nachweisbar“, sagte der Verteidiger von R. Als Zeuge
wird möglicherweise auch ein früherer Informant des Bundesamtes für
Verfassungsschutz aussagen. Der V-Mann Mirko H. hatte sich am Vertrieb einer CD
der rechten Kultgruppe beteiligt und ist in Sachsen bereits zu einer
zweijährigen Haftstrafe verurteilt worden. Der Prozess vor dem Kammergericht
wird voraussichtlich bis Ende August dauern. Kerstin Gehrke
Samstag, 28. Juni 2003
Von Dirk Banse und Hans H. Nibbrig
Die Frankfurter Allee in Lichtenberg gestern gegen 1 Uhr: Drei junge Frauen nähern sich einer 16-Jährigen, die gerade ihr Fahrrad schiebt, stoßen sie ins Gebüsch und versuchen, ihr die Handtasche zu entreißen. Als sich die Jugendliche wehrt, wird sie von den brutalen Täterinnen gewürgt. Mit der Beute flüchten die drei jungen Frauen in Richtung Buchbergstraße.
Nachdem das Opfer einen Passanten gebeten hat, die Polizei zu alarmieren, verfolgt eine Zivilstreife das räuberische Trio. Während zwei 17- und 18-Jährige festgenommen werden können, kann die dritte Täterin flüchten.
Dass junge Frauen kriminell werden, ist keine Seltenheit. So genannte Mädchenbanden beschäftigen die Berliner Polizei immer mehr. Ihr Anteil an Gewaltdelikten wie Raub oder Körperverletzung ist, wie die aktuelle Kriminalstatistik ausweist, im vergangenen Jahr erstmals wieder gestiegen. Er liegt bei knapp zehn Prozent.
Eine Zunahme der Gewaltbereitschaft bei Mädchen und jungen Frauen registriert auch die Zentralstelle für Jugendsachen beim Landeskriminalamt. "Der Anteil weiblicher Täter an Gewaltdelikten ist zwar verglichen mit dem Anteil in anderen Kriminalitätsbereichen immer noch relativ gering. Aber im Einzelfall gehen Mädchen aggressiver und mitunter auch brutaler vor als männliche Täter", berichtet Christina Burck, Leiterin der Zentralstelle.
Das mussten vor allem die Opfer einer fünfköpfigen Gruppe 13- bis 15-jähriger Mädchen erfahren, die bis zu ihrer Festnahme vor einigen Wochen regelmäßig in der Innenstadt auf Beutezug gingen und dabei vor allem Schüler und Kinder beraubten. Der Spruch "Willst du was auf die Fresse?", wenn die Opfer sich nicht schnell genug von Bargeld und Wertsachen trennten, ging den rabiaten "Damen" genauso problemlos über die Lippen wie ihren männlichen Altersgenossen.
Ein am Potsdamer Platz verübter, besonders brutaler Raubüberfall der fünf türkisch-stämmigen Mädchen auf vier Schülerinnen aus Hamburg motivierte Medien im gesamten Bundesgebiet zu ausführlichen Berichten über die "Mädchen-Gangs" von Berlin.
Ein Begriff, der bei der Polizei wenig Anklang findet. Christina Burck: "Straßengangs im klassischen Wortsinn, also straff organisierte, streng abgeschottete Gruppierungen, gibt es in Berlin inzwischen nicht mehr. Wir haben es eher mit losen Gruppen zu tun, die sich zu zweit, dritt oder viert treffen und dann, mitunter auch ganz spontan, Straftaten begehen." Allerdings, so räumt die Kriminalhauptkommissarin ein, "heißt das keineswegs, dass die ungefährlicher sind".
Samstag, 28. Juni 2003
Frau Nguien und ihr Mann verkaufen Kartoffeln und Möhren, Hemden und Strümpfe im Obst-und-Gemüse-Laden an der Hauptverkehrsstraße in Trebbin genau gegenüber vom Marktplatz. Trebbin ist ein kleines Städtchen 30 km südlich von Berlin mit holprigen Straßen, Häusern, kaum höher als zwei Stockwerke, mit 7.000 Einwohnern und einer Ausländerrate von unter einem Prozent. Familie Nguien ist eine von drei vietnamesischen Familien hier. "Trebbin sehr, sehr, sehr schön", sagt Herr Nguien und nickt, "die Leute gut mit Ausländern."
"Det Zusammenleben is ganz jut hier, kann man nich meckern", sagt ein älterer Mann im Laden, der passend bezahlt. An die Schlägerei von 1996 erinnert er sich: "Ach, det hat sich lange erledigt." Familie Nguien zog erst im vergangenen Jahr her, die Schlägerei, die Trebbin über Brandenburgs Grenzen hinaus bekannt machte, kennen sie nicht. Damals prügelten Neonazis italienische Bauarbeiter nieder und verletzten sie schwer. Die beiden Haupttäter wurden 1998 verurteilt und sitzen die nächsten Jahre in Haft. Einer von ihnen hat sich von der Szene abgewandt und Namen genannt. Vor knapp zwei Jahren wurde das Verfahren wieder aufgerollt und gegen die Verdächtigen Anklagen erhoben. Seitdem wird die Stadt mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Auch deshalb soll es heute ein "Fest der Begegnung" geben. Anlässlich eines Partnerstädtetreffens will man für ein friedliches Miteinander werben.
Familie Nguien wird sich daran nicht beteiligen. Ob sie einen China-Imbiss machen wollen, habe eine Frau vom Ordnungsamt gefragt. Geht nicht, erzählt Herr Nguien, er habe keine Ware dafür. Schließlich ist Herr Nguien Gemüsehändler und kein Imbissverkäufer. Außer einer Thailänderin werden auf dem Fest keine Migranten mit einem eigenen Stand vertreten sein. Karin Kroll, in der Stadtverwaltung zuständig für Ordnung, Kultur und Hauptorganisatorin des Festes, sagt, man habe sich bemüht: "Leider hat keiner der ausländischen Mitbürger seine Bereitschaft erklärt, da mitzumachen. Sie meinten, der Umfang sei zu groß. Außerdem müssen sie ja auch in Vorkasse gehen. Damit waren sie wohl überfordert."
Memet K. dagegen behauptet, zu spät davon erfahren zu haben. Aber eigentlich sei es ihm egal, ob er beim Fest dabei ist oder nicht. Von seinem Dönerimbiss zeigt er schräg hinüber zum Ratskeller: Früher sei er da mal hingegangen, jetzt nicht mehr. Er habe gehört und das sei Stadtgespräch: Glatzen sollen dort ein und aus gehen.
Weil man hier noch so richtig anpacken könne, zog Thomas Berger, CDU, vor vielen Jahren aus dem Rheinland in den Osten. "Im Ratskeller sitzt eine Klientel, die mal unangenehm aufgefallen war, genauso wie renommierte Trebbiner", verteidigt der junge Bürgermeister das Ansehen seiner Stadt. Da träfen sich Rechtsradikale, will er so nicht sagen, weil er gegen Vorverurteilung ist. Bis jetzt seien im Ratskeller, der seit eineinhalb Monaten neu verpachtet ist, keine verfassungswidrigen Aktivitäten beobachtet worden. Dennoch gibt der Bürgermeister zu: "Wir haben Probleme mit Rechtsradikalismus, allein die Lösung ist nicht deutlich." Thomas Berger plädiert für Integration, mit Ausgrenzen komme man nicht weiter. Seine Argumente sind: Perspektiven und Glaubwürdigkeit bieten.
Über die Glaubwürdigkeit von angeblichen Aussteigern und wie ernst das rechtsradikale Problem in der Stadt sei, darüber zerstritt sich die Bürgerinitiative "Trebbin miteinander", die der Bürgermeister vor fast zwei Jahren gründete. Von etwa 40 seien 10 Aktive übrig geblieben, sagt Nina Schmitz. Mit Bergers Position ist sie nicht einverstanden: "Sosehr der Bürgermeister auch gegen rechts ist und Aussteigern helfen will, das glaube ich ihm, aber ich sehe nicht, dass sie Aussteiger sind. Wie soll man ihnen glauben können, wenn sie nichts zugeben oder bereuen." Zu dieser verfahrenen Situation könne man keine gute Miene machen und erst recht kein gutes Multikulti-Fest feiern.
Nina Schmitz wohnt außerhalb des Stadtzentrums hinter einem Weizenfeld in den Räumen einer alten Kneipe. Als sie die vor drei Jahren kaufte und nicht eröffnete, habe man ihr das in dem Vorort übel genommen, sagt sie. Auf dem Tisch im Hof steht ein bunter Strauß Feldblumen - die Mittvierzigerin möchte ein schönes Leben und nicht ihre vier Kinder verstecken müssen, die nicht von deutschen Männern sind. In der Kleinstadt gilt die in Westberlin geborene Schmitz als jemand, der sich einmischt. Frau Schmitz sagt: "Es gibt hier nun mal ein massives rechtsextremes Problem, da kann man doch nicht dran vorbeigucken."
Zusehen, was im Ort passiert, will auch Melanie Höse nicht. Sie leitet den städtischen Jugendclub, engagiert sich bei "Trebbin miteinander", beobachtet intensiv die Verhandlungen um die Schlägerei und will die Wahrheit wissen. Trebbin habe lange geschlafen, es sei Zeit, die Trebbiner würden nicht übereinander, sondern miteinander reden. Ein Fest der Begegnung könne es irgendwann mal geben, sagt Frau Höse, dieses Jahr sei es zu früh: "Es sei denn, man will nur etwas abrechnen, aber dann hat man sich nur wieder in die eigene Tasche geschwindelt. So was muss wachsen."" ASTRID SCHNEIDER
Montag, 30. Juni 2003
Von Johanna Kroll (21)
Die Diskriminierung und Verfolgung von Juden im Nationalsozialismus hatte viele Gesichter. Auch das Schicksal des jüdischen Mädchens Anne Frank gehört dazu. Anne musste sich mit ihrer Familie von 1942 bis 1944 in einem engen Hinterhaus in Amsterdam vor den Nationalsozialisten verstecken. Sie schrieb in dieser Zeit ein Tagebuch über ihr Leben, ihre Gefühle und Gedanken. Sie wollte Schriftstellerin werden.
Die Geschichte des Mädchens ist im Anne Frank Zentrum an der Rosenthaler Straße 39 am Hackeschen Markt sehr anschaulich dokumentiert worden. Das Besondere: Die Ausstellung wird von Jugendlichen mit betreut und richtet sich an Gleichaltrige.
Die Ausstellung schildert chronologisch auf übersichtlichen Schautafeln die Veränderungen in Annes Leben parallel zu den historischen Ereignissen. "Ziel ist, mit den Jugendlichen aktiv ins Gespräch zu kommen und ein schwieriges Geschichtskapitel mit neuen Medien greifbarer zu machen", erklärt Thomas Heppener, der Vorstandsvorsitzende des Zentrums. So kann man am Computer alle Informationen über Anne Frank sehen, hören und lesen. Schüler und Studenten arbeiten hier ehrenamtlich und beantworten Fragen zum Thema Nationalsozialismus, die insbesondere viele junge Besucher beschäftigen.
Anne Frank stammt aus einer liberalen jüdischen Familie und wächst zusammen mit ihrer Schwester Margot in Frankfurt am Main auf. 1933 sieht sich die Familie jedoch gezwungen, nach Amsterdam auszuwandern, wo Annes Vater in einem Unternehmen arbeiten kann. Als das Leben schließlich auch in den Niederlanden zu gefährlich wird, versteckt sich Familie Frank im Hinterhaus jenes Unternehmens.
Doch durch einen bis heute nicht aufgeklärten Verrat wird das Versteck entdeckt und die Familie in die Konzentrationslager Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen deportiert. Nur Annes Vater überlebt die schrecklichen Zustände im Lager. Nach dem Krieg lässt er Annes Tagebuch veröffentlichen.
Annes Geschichte birgt auch viele Parallelen zur Gegenwart. Sie zeigt, wohin Antisemitismus oder die Diskriminierung von Minderheiten allgemein führen können.
Deshalb ist es wichtig, über die Verfolgung von Juden im Nationalsozialismus ausreichend aufgeklärt zu sein. Das Zentrum bietet Schülergruppen Führungen durch die Ausstellung sowie durch das Museum "Blindenwerkstatt Otto Weidt" auf demselben Gelände. Dieses befasst sich mit den blinden und gehörlosen Juden, die zur Zeit des Nationalsozialismus von Otto Weidt couragiert geschützt wurden.
Das Anne Frank Zentrum ist ein multikultureller Anziehungspunkt für Schüler, ältere Menschen, Deutsche, Menschen aus Israel und Touristen. Das Zentrum ist Partnerorganisation des Anne Frank Hauses in Amsterdam.
Die Ausstellung
Info: Tel. 30 87 29 88, geöffnet: Di.-Fr., 10-18 Uhr. Eintritt: 3, erm. 1,50 Euro, www.annefrank.de