Presseschau Mai 2003
Die Presseschau ist ein Service des durch  entimon geförderten Projektes respectabel.de

Hier finden Sie eine Auswahl unserer Redaktion von Artikeln des täglichen Pressespiegels

 

Freitag, 2. Mai 2003

Besen gegen Braune

Andreas Kopietz

Etwa 200 Berliner haben am 1. Mai im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf den Besen geschwungen, um die Hauptstadt vom "braunen Gedankengut" zu reinigen. Die Aktion war gegen die NPD-Demonstration gerichtet, die zuvor auf der Strecke entlanggezogen war. Die Initiative zu der Besen-Aktion kam von der Bezirksverordneten-Versammlung, unterstützt von der "Initiative Europa ohne Rassismus" und vielen anderen Gruppen und Parteien. Zu den Teilnehmern gehörten auch PDS-Landeschef Stefan Liebich und der Grünen-Politiker Wolfgang Wieland.

Zu dem Aufmarsch an Mittag hatte die NPD bundesweit aufgerufen. Die Zahl der rechten Demonstranten lag laut Polizei bei 1 300 und nach Angaben des Veranstalters bei mehr als 2 000.

Wohnviertel abgeriegelt

Begleitet wurde der NPD-Aufzug entlang der Strecke vom S-Bahnhof Heerstraße bis zum Olympiastadion von einem massiven Polizeiaufgebot, das Gegendemonstranten weitgehend fern hielt. Das Wohnviertel um die Preußenallee war von Polizisten hermetisch abgeriegelt. Anwohner beklagten, dass sie nicht mehr zu ihren Häusern gelassen wurden und zeigten sich zudem erbost, dass die Polizisten die ganze Zeit über Motoren ihrer geparkten Mannschaftstransporter laufen ließen.

Am Rande des NPD-Aufmarsches kam es immer wieder zu Rangeleien zwischen Polizisten und Gegendemonstranten, die sich den Rechten in den Weg stellen wollten. Vereinzelt wurden die Rechten mit Steinen und Flaschen beworfen. Zwei Frauen, die Farbbeutel auf die Demonstranten geworfen hatten, wurden von der Polizei festgenommen. An der Reichsstraße entdeckten Anwohner auf einem Hinterhof ein Depot mit Pflastersteinen und informierten die Polizei. Polizeibeamte mussten zudem an der Westendallee die Fernbahnstrecke sichern, nachdem sie die Meldung bekommen hatten, dass sich dort mehrere Gegendemonstranten mit Schottersteinen versorgt und danach die Schienen überquert hatten.

Friedlichen Protest gab es am Steubenplatz, der an der Route lag. Dort versammelten sich nach Angaben von Tobias Pforte vom "Bündnis gemeinsam gegen Rechts" 600 bis 700 Menschen. Mit Transparenten und Trillerpfeifen protestierten sie gegen den Aufmarsch der NPD. Kurzzeitig gelang es am Steubenplatz Gegendemonstranten, mit einem breiten Transparent, auf dem "GewerkschafterInnen gegen Rassismus" stand, in die NPD-Demonstration vorzudringen und einen Teil des Aufzuges zu stoppen. Polizisten drängten sie ab.

Insgesamt zog die Polizei am Nachmittag eine positive Bilanz ihrer Strategie: "Es ist uns gelungen, die Gruppen zu trennen", sagte ein Sprecher. Es gab mehrere Festnahmen. Über die Zahl gab es noch keine Angaben.

Störungen bei der S-Bahn

Wegen der NPD-Demonstration kam es am Vormittag zu erheblichen Behinderungen des S-Bahn-Verkehrs. Immer wieder zogen Gegendemonstranten auf dem S-Bahn-Ring in den Zügen die Notbremsen, um die Rechten daran zu hindern, den Auftaktort der Demonstration am S-Bahnhof Heerstraße zu erreichen. Deshalb verkehrten die Züge auf dem S-Bahnring unregelmäßig. Weil die S-Bahn im Gegensatz zu früheren rechten Aufmärschen keine Sonderzüge zur Verfügung stellte, kam es teilweise zu chaotischen Zuständen. Die Rechten waren mit 20 Bussen aus dem Bundesgebiet angereist. Viele andere benutzten jedoch in Gruppen den öffentlichen Nahverkehr. Deshalb gab es in U- und S-Bahnen immer wieder Pöbeleien zwischen Linken und Rechten. Als eine Gruppe von 150 NPD-Anhängern auf dem Kaiserdamm auf Gegendemonstranten stieß, entschloss sich die Polizei schließlich, diese Gruppe zu eskortieren. Dabei kam es zu Rangeleien zwischen Linken und der Polizei, wobei der Verkehr auf dem Theodor-Heuss-Platz zeitweise lahm gelegt wurde.

Freitag, 2. Mai 2003

Pfeifen, Blockieren, Fegen

Anwohner und linke Gruppen protestieren in unterschiedlichen Aktionen gegen NPD-Aufmarsch
in Charlottenburg. Linke bilden Blockaden. Besendemonstranten reinigen Straße nach Aufmarsch

von HEIKE KLEFFNER
und SUSANNE LANG

Ein Wundermittelchen - das wärs. Philip Christmann drückt auf die schwarze Spritzpistole an dem gelben Plastikkanister, den er umgehängt hat und grinst, als ein paar Tropfen auf den Boden plätschern. "Insektenvernichtungsmittel", erklärt der Demonstrant, "und zwar ein spezielles: das wirkt nur bei den Braunen." Damit meint er die NPD-Demonstranten, die kurz zuvor zum Olympiastadion gezogen sind. Von deren Spuren möchte Christmann die Straße reinigen. Während er auf sein radikales Wundermittelchen setzt, schaben neben ihm rote Borsten über die Straße. Ungefähr 150 Menschen, viele Abgeordnete von SPD, PDS, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP, Gewerkschaftsmitglieder und Privatleute, warten mit ihren Besen in allen Ausführungen auf den Beginn der "Besendemonstration", zu der die Berliner Initiative "Europa gegen Rassismus" gemeinsam mit der Bezirksregierung und der Bezirksverordnetenversammlung aufgerufen hatte. Eine symbolische Reinigungsaktion als Zeichen der Zivilcourage. "Wir lassen uns keinen Zentimeter von Berlin nehmen", betont die Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen.

Für den im Vorfeld angekündigten "Triumphzug" reichten die rund 1.200 Teilnehmer des NPD-Aufmarsches nicht. Vorwiegend jugendliche Naziskins aus Berlin und Brandenburg, aber auch aus Hessen und Bayern hatten sich ab 11 Uhr am Raußendorfplatz eingefunden, um mit NPD-Fahnen und antiamerikanischen Transparenten zum Olympiastadion zu marschieren. Dort wurde sich über die "Kehraus-Aktion" der "Gutmenschen" mokiert und zum Abschluss mit Gastrednern aus Italien und England der Schulterschluss der europäischen extremen Rechten zelebriert.

Für Sophie, Abiturientin aus Charlottenburg, verlief der Tag "mit gemischten Gefühlen". Die 18-Jährige hatte sich gemeinsam mit Schulfreunden aufgemacht, "um gegen die Nazis zu demonstrieren". Den Aufruf, den Rechten hinterherzufegen, fand Sophie "einfach unsinnig". "Ich will, dass die Neonazis mitkriegen, dass sie hier nicht erwünscht sind", sagt Sophie, als sie um 10 Uhr am Theodor-Heuss-Platz mit rund 400 anderen NPD-Gegnern aufbricht, um so nahe wie möglich an die Route der NPD zu gelangen. Ein schwieriges Unterfangen. Immer wieder wird die junge Frau mit ihren drei Begleitern von Polizisten fortgewiesen. An Absperrgittern sammeln sich Grüppchen frustrierter Gegendemonstranten. Auch die Schleichwege scheinen versperrt. Doch dann gelingt es Sophies kleiner Gruppe doch noch in die Nähe des Raußendorfplatzes zu kommen. Da hat sich die Spitze des Neonazi-Aufmarsches gerade in Bewegung gesetzt, als plötzlich aus eine Gruppe von 30 schwarz gekleideten jüngeren Männern und Frauen auf die Straße stürmt, sich an den Armen unterhakt und deutlich macht: "Die Nazis kommen hier nicht durch." Während Polizisten die Blockierer einkreisen, die Neonazis Parolen brüllend auf der Stelle treten und Kameraleute den Protest festhalten, steht Sophie am Straßenrand und versucht mit einer Trillerpfeife die rechten Parolen zu übertönen. Zehn Minuten später haben Polizisten die Linken abdrängt, doch Sophies Stimmung hat sich verbessert. Sie hat erfahren, dass rund 50 Gegendemonstranten an den S-Bahnhöfen Halensee und Westend ab 10 Uhr morgens die Züge in Richtung Olympiastadion blockierten. Die Anti-Nazi-Aktivisten hatten sich ganz friedlich in die S-Bahn-Türen gestellt und die Weiterfahrt verhindert. Eine Dreiviertelstunde lang liegt der S-Bahn-Verkehr brach. Als BGS-Beamte eintreffen, sind die Linken längst auf und davon. Weniger glimpflich ergeht es zwei Jugendlichen, die den NPD-Lautsprecherwagen mit Farbbeuteln verzieren wollten und dabei festgenommen wurden.

Sophie und ihre Begleiter laufen derweil hinter den Polizeiketten, die die Blockformationen der skandierenden Jungskins von aufgebrachten Bürgern trennen. Gutbürgerliche Häuser sind mit Transparenten "Keine Nazis" verziert, Anwohner brüllen: "Verpisst euch." Am Olympiastadion, wo die NPD eine Runde dreht, gelingt es Sophie noch einmal, bis zu den Neonazis durchzukommen. Als sie zum x-ten Mal ihre Trillerpfeife zückt, baut sich eine Kette von Polizisten vor rund 100 linken Jugendlichen auf. Sophies Resümee: "Schade, dass der Protest nicht effektiver war."

Für Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen ist auch die symbolische Reinigungsaktion ein Erfolg. Dass mit einem Wisch trotzdem nicht unbedingt alles gut ist, mit dieser Meinung muss sich Thiemen jedoch auch auseinander setzen. "Eine Gegendemonstration finde ich sehr wichtig," betont Anwohnerin Dagny Wasmund. "Aber diese Besenaktion ist lächerlich, der Sache nun wirklich nicht angemessen." Eine regelrecht folkloristische Veranstaltung wäre das, eine rituelle Reinigung, die mehr an kirchliche Teufelsaustreibung erinnere. "Damit kriegen wir die Nazis nicht weg", empört sie sich. Darin sind sich die Politikerin und die Aktionsskeptikerin allerdings einig. Auch Thiemen betont, dass man sich in Zukunft weiter mit dem Problem auseinander setzen müsse. Für jetzt steht und bleibt die Symbolik: die Fotografen lassen bitten. "Noch kurz ein Bild, das ist ja schließlich das Wichtigste", weiß einer von ihnen.

Samstag, 3. Mai 2003

Vom Vandalenklub bis zur Symbol-Kleidung
Analyse des Rechtsextremismus in Lichtenberg 
 
Von Hans-Jürgen Neßnau 
 
Im Auftrag der Landeskommission Berlin gegen Gewalt erstellt das Zentrum Demokratische Kultur (ZDK) zurzeit einen Lokalen Aktionsplan in Lichtenberg »Für Demokratie und Toleranz – Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus«. Zunächst wurde eine aktuelle Analyse erarbeitet. Neben einer umfangreichen Presse- und Datenrecherche seien seit Februar über siebzig Interviews mit Bürgern, Initiativen und Institutionen in Lichtenberg geführt worden, sagte ZDK-Mitarbeiter Timm Köhler dem ND. Die Ergebnisse sollen nun zur Diskussion gestellt werden.
Der Bericht vermerkt Hinweise auf Rekrutierungsaktivitäten von NPD-Kadern unter Jugendlichen. Die vom Verfassungsschutz observierten Kameradschaften »Hohenschönhausen« und »Germania« seien im Bezirk seit 2002 allerdings nicht mehr durch Aktivitäten aufgefallen. Anders verhalte es sich mit der »Kameradschaft Tor«, die sich nach dem Frankfurter Tor benannte.
Deren Hauptprotagonisten würden in Lichtenberg-Nord wohnen. Hier seien wiederholt Veröffentlichungen der »Autonomen Nationalisten Berlin« gefunden worden. Dabei handelt es sich um eine im Aufbau befindliche rechtsextreme und berlinweit agierende Struktur. Das Clubhaus der Vandalen – einer aktionsorientierten rechtsextremistischen Kadergruppe, die Infrastruktur für Veranstaltungen zur Verfügung stellt – befindet sich in Hohenschönhausen.
Rechtsextremes Potenzial finde sich auch direkt im Wohnumfeld vieler Lichtenberger. So seien von Gesprächspartnern Orte und wiederholte Vorkommnisse mit rechtsextremem Hintergrund benannt worden. Lokale mit entsprechendem Publikum und rechtsextremer Musik wurden beschrieben. Auch Läden gehörten zur Infrastruktur der Szene, berichtete Köhler. Der Bekleidungsladen »Kategorie C«, der benannt ist nach der Kategorisierung von gewaltbereiten Hooligans in der DDR, vertreibt am Hohenschönhausener Linden-Center legale Marken, die bevorzugt von Rechtsextremen und Hooligans getragen werden. Ein anderer Laden im Linden-Center verkaufe »Thor Steinar«, eine legale Bekleidungsmarke, die offen mit germanischen Symbolen und Schwarz-Weiß-Rot spielt und zunehmend von Rechtsextremen getragen wird.
Hervorgehoben wird im Bericht, dass das Wohngebiet Am Fennpfuhl zwischen 2000 und 2002 »Schauplatz für rechtsextreme Dominanzverhältnisse« wurde. Gehäuft seien Übergriffe auf Migranten und nicht-rechte Jugendliche verübt worden. Eine Jugendeinrichtung in Lichtenberg betreue inzwischen die rechtsextreme Gruppe, teilte Timm Köhler mit. Dennoch gingen rechtsextreme Aktivitäten weiter. Im Bezirksamt sei man aber gewillt und in der Lage, sich offensiv mit rechtsextremen Strukturen auseinander zu setzen und dabei mit Zivilgesellschaft und Fachinstitutionen eng zu kooperieren.

Am 5. Mai, 19 Uhr, wird der Bericht in Hohenschönhausen, Große-Leege-Straße 103, und am 8. Mai, 19 Uhr, im Rathaus Lichtenberg, Möllendorffstraße, präsentiert.

Dienstag, 6. Mai 2003

Bildungsminister: Brandenburg ist noch kein tolerantes Land Aktionsbündnis klagt über alltäglichen Rassismus

Potsdam. Bis zu einem weltoffenen, toleranten Brandenburg ist es nach Einschätzung von Bildungsminister Steffen Reiche (SPD) noch ein langer Weg. Leider werde die Zahl der Ausländer im Land vielfach völlig überschätzt, sagte Reiche in Potsdam. Er nahm an einer Sitzung des Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit teil, dem knapp 50 Organisationen angehören.

Der alltägliche Rassismus komme nach wie vor aus der Mitte der Gesellschaft, sagte der stellvertretende Vorsitzende des Aktionsbündnisses, Detlef Baer. Als Beispiel nannte er Wittstock, wo jugendliche Gewalttäter äußerlich nicht als Rechtsextreme zu erkennen waren. Sie hatten im Mai 2002 einen 24-jährigen Russlanddeutschen so brutal zusammengeschlagen, dass er später an seinen Verletzungen starb. Die Zeugen hätten dem Opfer keine Hilfe geleistet und im Prozess eine „Mauer des Schweigens“ gebildet.

Etliche Vertreter im Aktionsbündnis beklagten die Diskriminierung von Flüchtlingen. Dazu trügen die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften oder auch der Einkauf mit Gutscheinen statt Bargeld bei. Gerade ein Land mit hoher Ausländerfeindlichkeit sollte aber Flüchtlinge besser behandeln, hieß es. dpa

Mittwoch, 7. Mai 2003

Neonazis prügelten – am nächsten Tag waren sie schon verurteilt Brandenburg gehört zu den Spitzenreitern bei der Anwendung von beschleunigten Verfahren

Von Sandra Dassler

Neuruppin. Glatzen und Bomberjacken – das Aussehen der vier Männer, die in der Nacht zum Sonntag einen im Bahnhof Neustadt (Dosse) stehenden Regionalzug durchstreiften, ließ kaum Zweifel an ihrer Gesinnung aufkommen. Vom Wortschatz ganz zu schweigen: „Kanake, was willst Du hier?“ beschimpften sie einen 42-jährigen in Berlin lebenden Ägypter. Der verbalen Attacke folgten Schläge und Tritte, gemeinsam prügelten die zwischen 19 und 22 Jahre alten Neonazis auf ihr Opfer ein.

Der Ägypter erlitt so schwere Verletzungen, dass er in einem Krankenhaus behandelt werden musste. Seine Peiniger wurden wenige Stunden nach der Tat von der Polizei festgenommen. Bereits einen Tag später standen sie vor dem Richter. Und der verurteilte die vier wegen gefährlicher Körperverletzung zu Haftstrafen zwischen acht und zehn Monaten auf Bewährung.

„Da hat die Abstimmung zwischen den Verfahrensbeteiligten gut geklappt“, freut sich die Neuruppiner Oberstaatsanwältin Lolita Lodenkämper: „Wir sind froh, wenn wir solche schlimmen Taten in beschleunigten Verfahren ahnden können. Gerade für junge Täter gilt, dass eine Strafe, die auf dem Fuße folgt, wirksamer ist. Voraussetzung ist, dass der Sachverhalt in der Beweisaufnahme schnell und eindeutig geklärt werden kann, oder die Angeklagten geständig sind.“

Nicht nur in Neuruppin setzt die Justiz auf beschleunigte Verfahren. Brandenburg gehört zu den Spitzenreitern in der Anwendung dieser Sondermöglichkeit der Rechtssprechung. Hier fanden im Jahr 2001 mehr als die Hälfte aller beschleunigten Verfahren in den neuen Bundesländern statt. In 2845 von insgesamt knapp 200 000 Verfahren sprachen Brandenburger Richter ihr Urteil unmittelbar nach der Tat. Am häufigsten werden beschleunigte Verfahren bei Verkehrsdelikten angewendet: Rund eineinhalbtausend solcher Prozesse resultieren jährlich allein aus Trunkenheitsfahrten am Steuer. Im Bereich der Grenzkriminalität sind beschleunigte Verfahren manchmal die einzige Möglichkeit, die Täter zur Verantwortung zu ziehen.

Rechtsradikale und fremdenfeindliche Straftaten wurden im Vorjahr in 86 Fällen so schnell wie in Neuruppin geahndet, meist handelte es sich um Propaganda-Delikte wie das Zeigen des Hitlergrußes. „Wir könnten noch öfter zu diesem Mittel greifen“, sagt die Sprecherin des Potsdamer Innenministeriums Petra Marx: „Aber zu den Voraussetzungen für ein beschleunigtes Verfahren gehört auch, dass das zu erwartende Strafmaß ein Jahr Freiheitsentzug nicht überschreitet.“ Brandenburg fordert daher die Anhebung des Strafmaßes auf zwei Jahre. Der Bundesrat prüft die Gesetzesinitiative gegenwärtig. Auch Opferschutzverbände, sagt Petra Marx, würden die verstärkte Anwendung von beschleunigten Verfahren begrüßen: „Eine schnelle Klärung und Verurteilung nimmt jenen, die unter den Folgen von Straftaten leiden, einenTeil des Drucks und der Angst.“

Mittwoch, 14. Mai 2003

Zehn Millionen für Opferprojekt „Civitas“

Berlin (OZ) Der Kampf gegen Rechtsextremismus muss in Ost und West kontinuierlich geführt werden, meint Renate Schmidt (SPD), Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. OZ sprach mit ihr z. B. über Nazidemonstrationen.

   OSTSEE-ZEITUNG: Sind die neuen Länder ein Hort der Neonazis?

   Renate Schmidt: Ganz klar: Nein! Nationalsozialistisches Gedankengut, rechtsextremistische Straftaten und andere Scheußlichkeiten mehr gibt es in Ost und West. Deshalb darf der Kampf dagegen auch nicht als rein ostdeutsches Problem aufgefasst werden. Wir brauchen in ganz Deutschland eine kontinuierliche Beschäftigung mit diesen Phänomenen. Die Bundesregierung stellt zur Unterstützung von Projekten gegen Rechtsextremismus 2003 allein 45,5 Millionen Euro zur Verfügung. Davon umfasst das Programm Civitas, das sich der Beratung und Hilfe von Opfern rechter Gewalt in den neuen Bundesländern widmet, allein zehn Millionen Euro.

   OZ: Also doch eine Sonderrolle für den Osten?

   Schmidt: Leipzigs OB Wolfgang Tiefensee hat darauf aufmerksam gemacht, dass rund ein Fünftel der Schüler der neunten Klassen in seiner Stadt stark fremdenfeindliche Einstellungen hat. Darauf müssen wir reagieren. Die Neonazis erhoffen sich gerade in den neuen Ländern Aufmerksamkeit. Ich begrüße die vielfältigen Bürger-Initiativen, die sich gegen diese Gefahr wenden. Diese müssen wir trotz knapper Kassen weiter unterstützen.

   OZ: Mit der Amadeu-Antonio-Stiftung, dem „Stern“ und dem Software-Dienstleister SAP haben Sie ein Internet-Portal www.mut-gegen-rechte-gewalt.de vorgestellt. Kann ein solches Portal Neonazis erreichen?

   Schmidt: Die Neonazis wollen das Internet zu ihrer Plattform machen. Das wollen wir mit dem Internet-Portal verhindern. Allen Interessierten wollen wir ein Angebot zur fundierten Information über den Rechtsextremismus, über Gegenstrategien und Initiativen machen. In der rechtsextremen Szene gibt es neben verbohrten Anführern viele Mitläufer: Vielleicht können wir einige davor bewahren, in den braunen Sumpf abzugleiten.

Interview: R. ZWEIGLER

Mittwoch, 14. Mai 2003

Rechtsradikale Gewalt steigt an

Verfassungsschutzbericht 2002: Rechts gibts mehr Gewalt und Subkultur, dafür weniger Propaganda und Partei. Links wurden weniger Autonome und Castor-Straftaten gezählt. Auch bei Ausländern nehmen Extremisten und Gewalttaten ab

aus Berlin ULRIKE WINKELMANN

Mecklenburg-Vorpommern ist unter Kontrolle. "Auch von dort sind Zahlen gemeldet worden", sagte Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) gestern bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2002. Noch für den letztjährigen Bericht hatten die Schweriner keine einzige rechtsextremistische Gewalttat gemeldet. Dadurch war ihnen ein stolzer letzter Platz in der Länderstatistik sicher. Dies lag jedoch nicht an der Aggressionsarmut der Mecklenburger und Vorpommern, sondern an bundesweit stark unterschiedlichen Definitionen von rechtem Extremismus.

Für dieses Jahr dagegen wurden immerhin 15 rechte Gewalttaten aus Schwerin gemeldet. Schily sagte gestern: "Ich glaube, dass das ins Lot gebracht worden ist." Er habe die Bundesländer um "realistische Zählweisen" gebeten. Wie realistisch, dürfte jedoch umstritten bleiben. Laut neuem Verfassungsschutzbericht gibt es in Mecklenburg-Vorpommern weniger Rechtsextremismus als etwa in Niedersachsen, Bremen oder im Saarland.

Als "uneinheitlich" bewertete Schily die "Entwicklung links- und rechtsextremistischer Bestrebungen im Jahr 2002". So ist etwa am rechten Rand die Zahl der erfassten Straftaten insgesamt zurückgegangen: Von 14.725 im Jahr 2001 auf 12.933 im Jahr 2002. Die Teilmenge der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten jedoch ist um 8,9 Prozent angestiegen: Von 709 im Jahr 2001 auf 772.

Auch die Zahl der rechten Köpfe verwirrt etwas: Zwar ist das "rechtsextremistische Personenpotenzial" insgesamt um 10 Prozent auf 45.000 organisierte und nichtorganisierte Rechte geschrumpft. Die rechten Parteien verlieren ebenfalls Mitglieder und Bedeutung. Die Zahl der "subkulturell geprägten und sonstigen gewaltbereiten Rechtsextremisten", vor allem der Skinheads, ist jedoch mit 10.700 Personen um 3 Prozent gestiegen. Als "Einstiegsdroge" gelten vor allem Konzerte von rechten und Skinhead-Bands, die erstmals seit 1999 wieder verstärkt auftreten. Ein Trend für den Bereich "Rechts" müsste also ungefähr "mehr Gewalt, mehr Subkultur, weniger gezählte Hakenkreuze und weniger Partei" heißen.

Bei den beobachteten linken Szenen sieht es anders aus. Insgesamt rechnen die Behörden 31.100 Personen dem "linksextremistischen Potenzial" zu (2001: 32.900). Die Zahl der "gewaltbereiten Linksextremisten, die sich selbst mehrheitlich als Autonome bezeichnen", sei von 7.000 auf 5.500 Personen zurückgegangen. Gleichzeitig begingen sie weniger Gewalttaten: nach 750 im Jahr 2001 waren es 385 im Jahr 2002. Weder Atomkraft oder Castor-Transporte noch globalisierungskritische Veranstaltungen haben die Gewaltstatistik genährt, der Bereich "Links gegen Rechts" macht den Löwenanteil aus. Schily wies gestern darauf hin, dass die Globalisierungskritiker häufig selbst "eine gewisse Distanzierung" zu Gewalttätern übten. Verfassungsschützer Fromm erklärte, man beobachte eine rege Diskussion "in der Szene, ob man zu personenbezogenen Anschlägen zurückkehren" wolle. Ein Ergebnis gebe es noch nicht.

Auch beim so genannten Ausländer-Extremismus erfassten die Behörden weniger Mitglieder und Anhänger. Bei 69 Organisationen zählten sie 57.350 Menschen (2001: 59.100) und verzeichneten damit erstmals einen Rückgang. Die weiterhin stärkste Organisation ist die türkische "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs" (IMGM) mit 26.500 Mitgliedern. Uneinheitlich jedoch ist die Entwicklung der Straftaten: leichter Anstieg insgesamt von 511 im Jahr 2001 auf 573 im Jahr 2002, leichter Rückgang bei den Gewalttaten von 84 im Jahr 2001 auf 61 im Jahr 2002.

Pflichtschuldig bemerkte Schily, dass internationaler islamistischer Terrorismus weiterhin als starke Bedrohung "auch deutscher Interessen" betrachtet werde. Und natürlich werde die Regierung dafür sorgen- gerade nach den Anschlägen in Riad -, dass beim Besuch des US-Außenministers Powell "alles Notwendige" getan werde, damit dieser "sicher und gesund das Land wieder verlassen" könne.

Mittwoch, 14. Mai 2003

Rechtsextreme Jugendliche werden immer militanter

Verfassungsschutzbericht 2002 verzeichnet Zunahme von Skinheads / Schily lobt Präventivprogramme der Regierung

Trotz rückläufiger Zahlen politisch motivierter Straftaten verzeichnet der Verfassungsschutz seit 1995 ein Abgleiten immer mehr Jugendlicher in gewaltbereite rechtsextremistische Kreise. Der von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) vorgestellte Verfassungsschutzbericht für 2002 rechnet dieser von Skinheads dominierten Szene 10 000 Personen zu, 300 mehr als 2001.

Von Thomas Maron

BERLIN, 13. Mai. Politisch motivierte Kriminalität von rechts, meist Propagandadelikte und Volksverhetzung, machte den Ermittlungsbehörden 2002 insgesamt weniger zu schaffen als 2001. Dieser Kategorie ordnete der Verfassungsschutz 12 933 Straftaten zu, zwölf Prozent weniger als 2001 (14 725). Allerdings wurden 10 902 (2001: 10 054) dieser Taten als rechtsextremistisch eingestuft, ein Plus von 8,4 Prozent. 772 rechtsextreme Übergriffe wurden als Gewalttat gewertet, ein Zuwachs von 8,9 Prozent.

Die Zahl der Skinhead-Bands ist laut Verfassungsschutz ebenso wie die Zahl der Vertriebe für deren Tonträger durch das massive Vorgehen der Ermittler zurückgegangen. Es seien aber erstmals seit 1999 wieder vermehrt Skinhead-Konzerte registriert worden, weil die Szene dazu übergehe, sich in Privaträumen zu organisieren. Laut Schily eine bedenkliche Entwicklung: Rechtsextreme Musik sei "Einstiegsdroge Nummer eins" für junge Menschen.

Parteien des rechten Spektrums verlören dagegen weiter an Bedeutung und Mitgliedern. In Parteien wie den "Republikanern", der DVU oder der NPD seien rund 28 100 Anhänger organisiert, 2001 waren es noch 33 000. Schily zeigte sich in diesem Zusammenhang davon überzeugt, dass das NPD-Verbotsverfahren trotz seines Scheiterns vor dem Bundesverfassungsgericht "die Partei geschwächt hat".

Links motivierte Delikte nahmen um 18 Prozent auf 3639 Fälle ab (2001: 4418). Die Zahl der Mitglieder linksextremer Kreise sank im Jahresvergleich von 32 900 auf 31 100. Die Summe linksextremer Gewalttaten ist um fast die Hälfte auf 385 gesunken (2001: 750).

Schily wertet den Rückgang politisch motivierter Gewalt als Erfolg seiner Arbeit, die neben repressiver Politik durch Überwachung und Strafverfolgung dem Engagement der Bevölkerung einen hohen Stellenwert einräume, sich für die Werte einer Zivilgesellschaft einzusetzen. So hätten sich mehr als 900 Initiativen dem von der Bundesregierung eingerichteten "Bündnis für Demokratie und Toleranz - gegen Extremismus und Gewalt" angeschlossen.

Die Verfassungsschützer zählten 845 von Ausländern verübte Strafttaten mit politischem Hintergrund, ein Minus von 17 Prozent (2001: 1020). Dennoch müsse laut Schily der islamistische Terrorismus weiter als "herausragende Bedrohung" angesehen werden. Das Terrornetzwerk Al Qaeda sei nicht zerschlagen, Warnungen islamistischer Extremisten würden laut Schily "ausdrücklich auch gegen Deutschland" ausgesprochen.

Kopfzerbrechen bereiten Schily Informationen des Verfassungsschutzes, wonach ausländische Geheimdienste in Deutschland verstärkt nach technologischen Kenntnissen und Gütern fahnden, die für die Produktion von Massenvernichtungswaffen gebraucht werden. Nachrichtendienste aus Staaten des "Nahen, Mittleren und Fernen Ostens" gäben hier besonderen Anlass zur Sorge. So soll Nordkoreas Botschaftspersonal laut Verfassungsschutz "in die Beschaffung sensitiver Güter involviert" sein.

Kommentar
Gewaltspirale

Von Thomas Maron

Man darf erleichtert sein ob der Abnahme politisch motivierter Straftaten in Deutschland. Aber eines muss nicht nur zu denken geben, sondern das Handeln aller gesellschaftlich relevanten Kreise befeuern: Seit 1995 steigt die Zahl jener Jugendlicher, die ihrer gefühlten Perspektivlosigkeit eine gehörige Dosis rechtextremer Parolen verordnen. Die jungen Leute tun dies nicht, indem sie den Altherrenclubs rechter Parteien beitreten. Sie tun dies, indem sie sich Skinheadgruppen anschließen, deren Musik sie grölen, deren menschenverachtende Texte sie auf Schulbänke ritzen, deren barbarische Aufrufe zur Gewalt gegen alles Fremde sie in sich tragen.

Dies ist auch, aber nicht nur das Ergebnis von Arbeitslosigkeit und sozialer Not. Es ist auch Ausfluss eines um sich greifenden Gefühls der permanenten Überforderung und Demütigung. Deutschland sucht "den Superstar", wer sich als Durchschnitt empfindet, der darf als Depp bei Raab und Co. Platz nehmen. Man muss nicht arbeitslos sein, um Gefahr zu laufen, sich in Deutschland minderwertig zu fühlen. Es reicht mittlerweile schon, eine Metzgerlehre anzutreten. So gesehen gilt der Satz, den Wirtschaftsliberale aller Parteien so lieben: "Leistung muss sich wieder lohnen." Die Gesellschaft ist den Menschen, die sich redlich mühen, aber nicht nur Geld, sondern auch Anerkennung schuldig. Wer glaubt, nichts wert zu sein, empfindet Fremdes als Bedrohung. Also: Gebt den Menschen nicht nur Minijobs, sondern auch ihre Bedeutung zurück.

Freitag, 16. Mai 2003

Alltagsrassismus, ade

Das Projekt "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage" will das Engagement von Schulen gegen alle Formen von Rassismus und Diskriminierung fördern. Vier Berliner Schulen beteiligen sich bereits

von SUSANNE LANG

Ein Berliner Schulhof, ein Mädchen polnischer Herkunft und der Satz "Deine Eltern stehlen ja". Ist das Rassismus? Ein schwarzes Brett, ein Plakat mit Mündern, die für die verschiedene Sprachen werben, und ein Kreuz: Der israelische Mund ist durchgestrichen. Ist das Antisemitismus?

Für Franziska Rummel und Claire Zeidler ist das keine Frage, sondern ein klarer Fall: Alltagsrassismus, wie er versteckt überall vorkommt. "Die Begriffe Rassismus oder Diskriminierung klar zu definieren, ist schwierig", sagt Claire. Bei einem Spielprojekt konnte sie dies feststellen. Viele Schüler und Schülerinnen hatten sehr unterschiedliche Auffassungen. Fest steht für Franziska, Claire und 13 Mitschüler aus ihrer Projektgruppe an der Hermann-Hesse-Oberschule aber, dass sie an ihrer Schule solche Sätze nicht mehr hören und solche Kreuze nicht mehr sehen wollen. Dass sie zum Nachdenken anregen wollen. Dass sie deshalb eine "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage" (SOR) werden möchten.

Vier Schulen tragen in Berlin bereits diesen Titel und gehören zu dem europaweiten Schulennetzwerk, das in Deutschland von der Initiative "Aktion Courage" getragen und koordiniert wird. Das Projekt möchte Schulen dazu ermutigen, sich aktiv gegen Rassismus, Diskriminierung und Gewalt einzusetzen und nicht wegzusehen. "Es ist ein Schüler-und-Schülerinnen-Projekt für diejenigen, die sich gegen Rassismus einsetzen wollen", betont Projektleiterin Sanem Kleff. "Wir unterstützen sie dabei, selbstverantwortlich Projekte zu entwickeln."

Im Unterschied zu anderen Initiativen sollen den Schulen keine starren inhaltlichen Vorgaben auferlegt werden. Zu den wenigen Bedingungen des Projekts gehören eine Unterschriftenliste im Vorfeld, um den Titel zu erhalten, und die Vorgabe, mindestens einmal im Jahr ein Projekt zum Thema "Rassismus, Diskriminierung" durchzuführen. Außerdem müssen Schulen einen Paten für die Aktion suchen. Kontrolliert wird jedoch nicht. "Wir sind ja nicht der TÜV, der Schulen auf den Prüfstand stellt", so Eberhard Seidel, SOR-Geschäftsführer. "Wir wollen ein Umfeld für zivilgesellschaftliches Engagement schaffen."

Die Kreuzberger Schüler befinden sich gerade in der Endphase der Unterschriftenaktion. Mindestens 70 Prozent der Schulzugehörigen - jeweils der Lehrer, Schüler und anderen Schulbediensteten - müssen unterschreiben und somit erklären, dass sie sich aktiv und dauerhaft gegen Rassismus und Diskriminierung einsetzen. Bis auf die Stufen 12 und 13 haben alle Klassen der Kreuzberger Schule bereits unterschrieben. Die geforderten 70 Prozent hätten sie bereits erreicht, auch wenn das Projekt nicht bei allen Schülern auf Zustimmung gestoßen ist.

"In meiner Klasse wollten einige nicht unterschreiben, weil sie denken, dass es Rassismus bei uns an der Schule nicht gibt", erzählt die Neuntklässlerin Charlotte Muijs, die ebenfalls zur Projektgruppe gehört. Mitmachzwang wollen die Schüler trotzdem vermeiden. Schließlich soll man von dem Projekt überzeugt sein und "nicht unterschreiben, weil es alle machen und man dazu gehören möchte", betont Charlotte, und Franziska stimmt ihr zu. "Es geht ja nicht darum, eine Plakette zu bekommen, sondern darum, Aufmerksamkeit zu und das Bewusstsein für diese Themen zu schaffen."

Die Bundeskoordinationsstelle will dabei begleiten und selbst Anlaufstelle sein für engagierte Schüler. Sie organisiert Seminare und Veranstaltungen, beispielsweise im Juni einen so genannten Open Space, eine offene Meinungsplattform, zum Thema Islam und Sexualität. Und sie ermöglicht den Erfahrungsaustausch der Schulen bei Kontakttreffen, etwa zwischen Ost und West - ein Bereich, der der Initiative besonders in Berlin am Herzen liegt.

Weiterer Schwerpunkt in der Berliner Arbeit von SOR wird die multikulturelle Gesellschaftsstruktur sein. "Aus der vielfältigen Gemengelage können sich auch andere Formen von Rassismus und Diskriminierung entwickeln", so Seidel. Nicht nur von der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Minderheiten, auch zwischen den einzelnen Migrantengruppen. Deshalb will man auch auf bezirklicher Ebene mit Initiativen zusammenarbeiten.

Franziska, Claire, Charlotte und all die anderen werden bald alle Unterschriften haben. Dann gilt es, das überreichte Schild mit dem SOR-Logo gut sichtbar an der Schulmauer anzubringen und einen Paten zu finden. "Es soll jemand aus Kreuzberg sein", sagt Clair. Jemand mit Bezug zu unserer Umgebung und der Schule. "Vielleicht jemand von der jüdischen Synagoge oder Christian Ströbele."

Freitag, 16. Mai 2003

Neuerliche Kehrtwende in der Jugendpolitik

FU-Politologe Hajo Funke fordert demütigungsfreie Pädagogik im Umgang mit rechtsextremen Jugendlichen

Und wieder zeichnet sich eine Trendwende ab im Umgang mit dem Rechtsextremismus. Galt das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit, also die Zusammenarbeit mit rechtsextremen Jugendlichen, seit einigen Jahren als "verbrannt", plädieren Experten wieder für einen direkten Kontakt mit gewalttätigen Jugendlichen aus der rechten Szene. Von "demütigungsfreier Pädagogik" sprach der Politik-Professor Hajo Funke von der Freien Universität gestern vor dem Schul- und Jugendausschuss des Abgeordnetenhauses. Die Sozialarbeiter müssten versuchen, wieder systematischer an die rechte Szene heranzutreten.

Der neue Verfassungsschutzbericht zeigt, dass die rechte Jugendszene immer militanter wird. Zwar sei die Anhängerschaft im Vergleich zum letzten Jahr leicht geschrumpft, so Funke. Anlass zur Sorge bereite ihm aber die Zunahme der Gewalttaten. In Berlin betreffe dies vor alLichtenberg, Pankow, Marzahn-Hellersdorf und Köpenick. Vor allem die gewaltbereite Skinhead-Szene und Hooligans hätten nach wie vor enormen Zulauf. Umso mehr Kritik übte Funke an der Politik. Im sozialen Bereich müsse es wieder Perspektiven geben. Der Mangel an Angeboten treibe erst viele Jugendliche in die Skinhead-Szene: "Der rot-rote Senat darf seine Sparpolitik im Jugend- und Sozialbereich nicht überziehen."

Das sieht auch Elvira Berndt so, Geschäftsführerin von "Gangway", einem Verein für Straßensozialarbeit. Sie habe beobachtet, dass viele in der Szene keineswegs ein geschlossen rechtes Weltbild hätten. War es vor einigen Jahren noch die Auschwitzlüge, würden sie sich heute gegen Krieg und Globalisierung positionieren. "Klingt gar nicht so rechts", sagte Berndt, gäbe es nicht die Fremdenfeindlichkeit und den Nationalismus. Sie plädierte für mehr Aufklärung in Form von Bildung und Mitgestaltung. " FELIX LEE

Dienstag, 20. Mai 2003

EXTREMISTEN IM INTERNET

"Rechte" Websites

Die Zahl rechtsextremer Internetseiten ist deutlich gestiegen, das teilte das Bundesfamilienministerium gestern in Berlin mit. Während vor vier Jahren noch 330 Homepages entdeckt wurden, waren es im vergangenen Jahr rund 1.000. Von diesen seien 173 aus dem Netz entfernt worden. (epd)

Mittwoch, 21. Mai 2003

Aussteiger gesucht

Rechtsextreme rufen kaum noch bei staatlichen Hotlines an

Christoph Scheuermann

BERLIN, 20. Mai. Das Telefon bleibt stumm. Aussteigewillige Rechtsextremisten, die unter der Kölner Nummer 7 92 62 beim Bundesamt für Verfassungsschutz anrufen können, halten sich zunehmend zurück. Nach der jüngsten Statistik der Verfassungsschützer hat das Aussteiger-Telefon von April 2002 bis April 2003 etwa 100-mal geklingelt, durchschnittlich also nur zwei Mal pro Woche. Unter diesen 100 Anrufern wurden 30 als potenziell ausstiegswillig eingestuft.

Zum Vergleich: Im Vorjahreszeitraum waren es noch mehr als sieben Mal so viele Anrufer, darunter rund 170 potenzielle Aussteiger. Trotz des stark zurückgegangenen Interesses der Rechten an staatlicher Ausstiegshilfe bewertet das Bundesinnenministerium das Projekt als sehr erfolgreich. Man habe damit eine erhebliche Verunsicherung der rechten Szene erreicht, sagte eine Ministeriumssprecherin der Berliner Zeitung.

Private Initiative erfolgreich

"Mir kommt es nicht so vor, dass die Szene verunsichert ist", sagt dagegen Britta Kollberg von der privaten Aussteiger-Initiative "Exit". "Die Leute aus dem rechten Milieu treten nach wie vor sehr selbstbewusst auf." Auf der anderen Seite ist jedoch die Nachfrage der Rechten an der Ausstiegshilfe von "Exit" laut Kollberg konstant hoch. Bisher habe es rund 130 Kontaktaufnahmen gegeben, das Interesse sei nach wie vor ungebremst.

Das mag nicht zuletzt am Konzept der bundesweit tätigen Initiative liegen: Der Wille zum Lösen von den rechten Kameraden soll von den zukünftigen Aussteigern selbst kommen, nachlaufen will man niemandem. Auch dürfte eine private Ausstiegshilfe, die mit Pädagogen und Psychologen zusammenarbeitet, in der rechten Szene glaubwürdiger erscheinen als Beamte vom Verfassungsschutz oder der Polizei. Damit ist "Exit" erfolgreich. Mit diesem Erfolg bei den rechten Aussteigern steht die Initiative jedoch weit gehend allein da. Denn neben der Nummer des Verfassungsschutzes haben auch einzelne Bundesländer Hotlines für rechte Aussteiger eingerichtet. Doch ähnlich wie bei der Bundes-Hotline bewegt sich das Interesse der Rechtsextremen an den Länder-Telefonen ebenfalls in engen Grenzen.

Auf offene Ohren der potenziellen Aussteiger stoßen die Ermittler von Polizei und Verfassungsschutz nur dann, wenn sie selbst aktiv Personen aus der rechten Szene ansprechen und zum Ausstieg bewegen wollen. Ein solcher Ausstieg durch Überzeugen ist nach der Erfahrung von "Exit" jedoch nicht von langer Dauer. "Der Impuls muss von den Leuten selbst kommen", sagt "Exit"-Mitarbeiterin Kollberg. Die erfolgreiche Initiative finanziert sich übrigens seit ihrem Start im Herbst 2000 von privaten Spendern. Abgesehen von einem Lob kam vom Bundesinnenminister bis jetzt nichts.

Donnerstag, 22. Mai 2003

Rassismus - diesseits und jenseits der Spree

Studie: Ausländische Kreuzberger trauen sich nicht nach Friedrichshain / Friedrichshainer Deutsche wollen nicht nach Kreuzberg

Karin Schmidl

Multikulti-Glück in Kreuzberg, studentischer Szenekiez in Friedrichshain - von solchen idyllischen Beschreibungen leben die Stadtführer. Doch viele Menschen in beiden Teilen des Ost-West-Bezirks sehen sich anders. Auch zwei Jahre nach der Fusion ihrer Stadtteile bestimmen oft Vorurteile die Meinungen, sagt Bürgermeisterin Cornelia Reinauer (PDS). "Friedrichshainer sagen, dass es auf der anderen Seite der Spree zu viele Ausländer gibt, und Kreuzberger ängstigen sich vor rechten Übergriffen im Ostteil", sagt sie. Eine Studie versucht nun herauszufinden, was dran ist an solchen Befürchtungen.

"Wir haben untersucht, welche Phänomene ein gutes Zusammenleben und damit die Demokratie bedrohen", sagt Bernd Wagner, der Chef des Berliner Zentrums Demokratische Kultur. In beiden Stadtteilen fanden die Experten Strukturen und Entwicklungen, die sie als bedenklich einstufen. Dazu zählen der alltägliche Rassismus und rechtsextrem orientierte Jugendgruppen. Auch Rechtsextremismus bei Deutschen und Türken sowie einen Islamismus, der die Demokratie als Feindbild betrachtet.

"Rassismus in Friedrichshain ist vor allem unter Erwachsenen verbreitet, sozusagen als eine Art Alltagskultur", sagt Dierk Borstel, einer der Leiter der Untersuchung. Das gehe von abfälligen Sprüchen und Blicken bis hin zum Ausspucken vor anders Aussehenden. Die Wissenschaftler sprechen von Hausgemeinschaften, die ausländische Mieter mobben und von Cafés, in denen Schwarze nicht bedient werden. Die Ablehnung von Schwarzen wurde in beiden Stadtteilen gleichermaßen registriert. Claudia Dantschke vom Zentrum Demokratische Kultur: "Während es in Friedrichshain generell Vorurteile gegen alles Fremde gibt, werden Schwarze in Kreuzberg oft als Dealer oder Kriminelle stigmatisiert." Diese Haltung, so heißt es in der Studie, finde man auch in Behörden. So gebe es Klagen Schwarzer über Schikanierung durch Polizeibeamte. Aber auch viele Türken lehnten Schwarze ab. Das hat laut Studie mit Rassismus unter den Ausländern zu tun, wie sie eine Sozialarbeiterin am Kottbusser Tor beobachtete: Türken, sagt sie, fühlten sich besser als Araber, Polen dünkten sich besser als Türken, und Schwarze stünden ganz unten in der Hierarchie.

Überrascht waren die Sozialwissenschaftler von einem häufig auftretenden Antisemitismus bei Deutschen und bei Ausländern und in beiden Stadtteilen. In Kreuzberg sei dies nicht nur in arabischen Gruppen festgestellt worden, bei denen man mit Bezug auf den Nahost-Konflikt Erklärungen suchen könnte. Beschimpfungen wie "Juden sind Schweine" gehörten bei vielen türkischen Jugendlichen zum normalen Wortschatz, sagte ein Sozialarbeiter. Antisemitismus, so heißt es in der Studie, komme aber nicht nur in sozial schwachen und in islamistischen Kreisen vor.

Auch Rechtsextremismus haben die Forscher in beiden Stadtteilen festgestellt. In Friedrichshain wird dies mit der Existenz von so genannten Kameradschaften belegt, die in ihren Kiezen aber nicht verankert seien. Wie zum Beispiel die "Kameradschaft Tor Berlin", die sich regelmäßig zum Grillen auf dem Grünstreifen am Frankfurter Tor trifft. In Kreuzberg sei Rechtsextremismus unter Deutschen nicht festgestellt worden. Dagegen zählten die türkischen "Grauen Wölfe" zu jenen Organisationen, die als stark demokratiegefährdend eingestuft werden. Gewarnt wird in der Studie auch vor der Entwicklung so genannter Parallelgesellschaften, in denen Demokratie und Pluralismus generell abgelehnt werden. "Mithilfe der Religion wird ein Verhalten propagiert, das liberale Ansichten verbietet", sagt Dantschke. Das gehe bis hin zu Besuchsverboten für Cafés, in denen es Alkohol gebe, der laut Koran verboten ist.

Unterschiedliche Stadtteile

Die Methode: Vom 1.Februar 2002 bis 28. Februar 2003 wurden acht Gebiete in Friedrichshain und Kreuzberg, so genannte Sozialräume, betrachtet. Das Bezirksamt hatte diese Sozialräume bestimmt, sie sind von der Einwohnerzahl her vergleichbar. In Schulen, Jugendklubs, Wohnhäusern, Kneipen und auf Plätzen wurden 125 Interterviews geführt, jeweils 60 in jedem Stadtteil und fünf mit Amtsleitern und Funktionären.

Die Informationen: Sie stammen vorrangig aus den Gesprächen, dazu kommen eigene Beobachtungen sowie vorhandene Analysen.

Die Ortsteile: Beide Teile des Bezirks wurden 2001 im Zuge der Bezirksfusion zusammen gefügt. Ihre natürliche Trennlinie ist die Spree, die einzige Direktverbindung ist die Oberbaumbrücke.

Friedrichshain: Es ist der kinderärmste Stadtteil Berlins, mehr als die Hälfte aller Haushalte bestehen aus nur einer Person. Knapp zehn Prozent der Bevölkerung sind Ausländer. Davon kommen je rund 1 000 aus den ehemaligen Sowjetrepubliken und aus Vietnam, 790 aus Afrika, 560 aus der Türkei, 520 aus Ex-Jugoslawien, je rund 300 aus Italien, Frankreich und Österreich, rund 250 aus England und 280 aus den USA.

Kreuzberg: Etwa jeder Dritte ist dort nichtdeutscher Herkunft. Nach Neukölln ist der Anteil der Türken berlinweit am größten - etwa die Hälfte aller ausländischen Einwohner in Kreuzberg sind Türken. 1 700 sind aus Ex-Jugloslawien, 1 600 aus Polen, 1 200 aus Afrika, etwa 500 aus Irak und 800 aus den USA. Jeder vierte ausländische Jugendliche ist ohne Arbeit.

Montag, 26. Mai 2003

Beschimpft, gefoltert, totgetreten und verscharrt

Heute beginnt der Prozess um den grausamen Tod von Marinus Schöberl aus Potzlow

Von Michael Mielke

Vier junge Männer in einem Gemenge aus rechtsradikalen Phrasen und literweise Alkohol: Im Neuruppiner Mordprozess müssen die Richter herausfinden, wie genau und warum der 17-jährige Schüler sterben musste und warum die drei anderen zu Mördern wurden.

Neuruppin - Die Erklärung scheint schlüssig: Natürlich war es dieser Film; ausgestrahlt im Fernsehen, auszuleihen in jeder gut sortierten Videothek. Diese Szene aus "American History X", in der ein Skinhead namens Derek einen farbigen Autodieb zwingt, in die Kante eines Bürgersteigs zu beißen und ihm einen tödlichen Tritt in den Nacken gibt. Bei einer Vernehmung hatte der 17-jährige Marcel S. - der sich ab heute mit zwei Kumpanen wegen gemeinschaftlichen Mordes vor dem Landgericht Neuruppin verantworten muss - plötzlich von dieser Szene erzählt. Und dass er sie am 12. Juli 2002 im uckermärkischen Dorf Potzlow mit aller Konsequenz nachgespielt habe.

Das Opfer war sein Freund Marinus Schöberl. Der 16-Jährige musste, nachdem er stundenlang gemartert worden war, in einen Futtertrog beißen. Ob er am Tritt gegen seinen Hinterkopf starb oder nachdem ihn seine Peiniger in der ausgetrockneten Jauchegrube eines verlassenen Schweinestalls verscharrten, ist nicht bekannt.

Wie die drei zu Mördern werden konnten, weiß niemand zu sagen. Das 560-Seelen-Dorf Potzlow ist aber nicht die rechtsextreme Hochburg, zu der es von vielen stilisiert wurde. Einer der drei Täter, der 23-jährige Marco, war wenige Tage vor dem Mord im Dorf wegen seiner rechtsradikalen Sprüche verprügelt worden. Es gibt im Nachbarort ein Jugendzentrum, das für die umliegenden Dörfer zuständig ist. Marcos jüngerer Brüder Marcel sei "oft gekommen", so Ina Schubert, Vorsitzende der Kindervereinigung Strehlow e.V. Man habe sich "vernünftig mit ihm unterhalten" können. Die Familie der Brüder schien intakt. "Die Kinder waren immer sauber und ordentlich gekleidet, die Eltern haben sich gekümmert", sagt der damalige Bürgermeister Peter Feike. Aber mit Marco waren sie wohl überfordert.

In "American History X", trägt Derek ein tätowiertes Hakenkreuz auf der Brust. Der mit 23 Jahren etwa gleichaltrige Marco S. aus Potzlow hat sich im Gefängnis auf die Wade den Spruch "Rotfront verrecke" tätowieren lassen. Marco hat einen Sprachfehler, besitzt nur den Abschluss der siebten Klasse, ist mit dem IQ 56 debil. Es heißt, er sei schon im Kindergarten gehänselt worden. Und das zieht sich dann durch sein ganzes Leben. Immer war er der Schwächere, der Verspottete. Dieses Gefühl hatten auch Bier und Schnaps, die er schon seit dem zwölften Lebensjahr trank, nicht ersticken können.

Bei einem seiner Prozesse, erzählt Verteidiger Matthias Schöneburg, habe Marco vom Hass auf Scheinasylanten gesprochen. Was Scheinasylanten seien, fragte der Richter. Marco zuckte mit den Schultern. Erfolg hatte er zumindest bei seinem 17-jährigen Bruder Marcel. Der kleidete sich erst als Hip-Hopper und färbte sich das Haar. Als Marco im Juli 2002 nach drei Jahren aus dem Gefängnis kam, ließ sich Marcel den Schädel rasieren.

Auch hier gibt es Parallelen zu "American History X", wo der ebenfalls kahl geschorene 16-jährige Danny seinen Bruder Derek nach einem Gefängnisaufenthalt empfängt. Doch hier driften dann Fiktion und Realität auseinander. Der Film-Derek hat sich im Knast von der rechten Szene abgewandt. Er ist intelligent, war bewusst Skinhead und ist es dann ganz bewusst nicht mehr. Aber Marco aus Potzlow will nicht raus aus dieser tätowierten Haut, die den Blick der anderen auf ihn lenkt und einen anderen Kerl aus ihm zu machen scheint, als diesen stotternden, schwerfälligen, belächelten.

Er wird darin an jenem 12. Juli bestärkt durch den 17-jährigen Sebastian, den Marcel bei einem berufsfördernden Lehrgang kennen lernte. Auch er kahl geschoren. Auch er Sonderschüler. Zu dritt ziehen sie durchs Dorf, trinken Unmengen Bier, fühlen sich stark und treffen schließlich auf Marinus. Der kleidet sich immer noch als Hip-Hopper. Das hatte bisher weder Marcel noch Marco gestört. Und das missfällt ihnen anfangs auch an diesem Tage nicht. Marinus läuft mit, trinkt mit, fühlt sich ebenfalls stark.

Doch die Stimmung schlägt unvermittelt um, als Sebastian sagt, Marinus sehe in seinen Schlabberhosen und mit seinem blond gefärbten Haar "wie ein Jude" aus. Es lässt sich viel hinein deuten in diesen Beginn eines entsetzlichen Szenarios, das der Neuruppiner Oberstaatsanwalt Gerd Schnittcher als "so grausam, dass man die Einzelheiten auch nicht ansatzweise schildern kann" umschreibt. Vielleicht war Marinus im Dunst des Alkohols ja tatsächlich ganz plötzlich der verhasste Hip-Hopper. Vielleicht war der lernbehinderte Junge, der wie Marco einen Sprachfehler hat, einfach nur der Schwächste in dieser Runde. In "American History X" gibt es am Ende einen Monolog des 16-jährigen Danny: "Hass ist Ballast. Das Leben ist einfach zu kurz dafür, dass man immer wütend ist." Der 17-jährige Marcel zeigte Dorfbewohnern vier Monate nach dem Mord, wo er und seine Kumpane die Leiche verbargen. Er soll das getan haben, um eine Handvoll Euro zu bekommen. Das passt trefflich zu dem Bild vom skrupellosen und dumpfen Neonazi. Vielleicht konnte er mit diesem Schweigen aber auch einfach nicht mehr leben.

Dienstag, 27. Mai 2003

Drei mutmaßliche Rechtsextremisten gestehen Mord

Angeklagte bestreiten, aus politischen Motiven 16-Jährigen umgebracht zu haben / Leiche in Jauchegrube versenkt

Zu Beginn des Mordprozesses um den qualvollen Tod eines 16-jährigen Schülers in Brandenburg haben sich drei mutmaßliche Rechtsextremisten am Montag zu der Tat bekannt. Vor dem Landgericht Neuruppin bestritten sie jedoch den Vorwurf, aus politischen Motiven gehandelt zu haben.

NEURUPPIN, 26. Mai (ap/dpa). Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten im Alter zwischen 18 und 24 Jahren vor, den 16 Jahre alten Marinus S. im Juli vergangenen Jahres im Dorf Potzlow bei Prenzlau (Kreis Uckermark) nach einem gemeinsamen Trinkabend grausam gequält und anschließend erschlagen zu haben, um die Misshandlungen zu verschleiern. Die Angeklagten, zwei zur Tatzeit 23 und 17 Jahre alte Brüder und ein damals 17 Jahre alter Bekannter der beiden, seien mit kahl rasierten Schädeln, Bomberjacken und Springerstiefeln aufgetreten und in der rechten Szene verwurzelt gewesen. Ihr Opfer, zunächst ein Kumpel des jüngeren Bruders, hätten sie als "nicht lebenswert" angesehen und den 16-Jährigen wegen seiner HipHop-Hosen und der blondierten Frisur verachtet.

Im Lauf des Trinkabends hatten die Beschuldigten laut Anklagebehörde Marinus S. mehrmals aufgefordert, sich zum Judentum zu bekennen. Später hätten sie ihm mit Gewalt Schnaps eingeflößt, ihn auf das Gelände einer ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) verschleppt und dort getötet. Der Anwalt der Eltern von Marinus S. sagte, das Opfer sei weder Jude noch politisch aktiv gewesen. "Die Angeklagten wollten sich ein Feindbild schaffen", sagte er.

Die drei mutmaßlichen Täter bestritten in getrennten Erklärungen ihrer Verteidiger, aus rechtsextremistischen Motiven gehandelt zu haben. Sie wüssten nicht, warum sie Marinus S. umgebracht hätten. Sie bedauerten die Tat und fänden für ihr Verhalten keine Erklärung, sagten sie übereinstimmend. Ein Verteidiger meinte: "Mich stört die einfache Rückführung auf die rechte Gesinnung. Die Ursachen liegen viel tiefer."

Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft hat der jüngere der Brüder und ehemalige Kumpel von Marinus S. das Opfer auf dem LPG-Gelände mit einem Stein erschlagen. Danach wurde die Leiche in einer Jauchegrube versenkt. Zuvor hatte der zur Tatzeit 17-Jährige laut Anklage Marinus S. nach dem Vorbild des Hollywood-Spielfilms "American History X" gezwungen, in die Steinkante eines Schweinetrogs zu beißen. Danach sei er mit seinen Springerstiefeln auf den Kopf des Opfers gesprungen. In dem extrem realistisch gehaltenen Film aus dem Jahr 1998 spielt Edward Norton einen weißen Rassisten mit tätowiertem Hakenkreuz, der kaltblütig Schwarze ermordet.

Die Anklage in Neuruppin beruht im Wesentlichen auf der Aussage des jüngeren Bruders. Der zur Tatzeit 17-jährige hatte Monate nach dem Verschwinden von S. mit der Tat geprahlt und Mitschüler zum Tatort geführt. Die skelettierte Leiche von S. war im November 2002 in der Jauchegrube gefunden worden.

Die Brüder und der dritte Beschuldigte verfolgten die Anklage mit gesenkten Köpfen und ohne äußerliche Regung. Während der Aussagen zur Person war die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Der Verteidiger des 24-Jährigen sagte, sein Mandant habe einen Intelligenzquotienten von unter 60. Vermutlich seien beide Brüder vermindert schuldfähig, unter anderem auf Grund des Alkoholeinflusses.

Da zwei der Angeklagten zur Tatzeit erst 17 Jahre alt waren, fallen sie unter das Jugendstrafrecht. Sie können wegen Mordes zu höchstens zehn Jahren Gefängnis verurteilt werden. Dem 24-Jährigen, der wegen eines Überfalls auf einen Afrikaner bereits eine dreijährige Freiheitsstrafe verbüßt, droht lebenslange Haft.

Der Prozess wird am morgigen Mittwoch fortgesetzt.

STUDIE
Oft locken Freunde in die rechte Szene

DÜSSELDORF, 26. Mai (kna). Mehr als die Hälfte junger Rechtsextremisten kommt über Mitschüler und Freunde in die rechtsradikale Szene. Das ist das Ergebnis einer Studie des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, die Landesinnenminister Fritz Behrens (SPD) am Montag in Düsseldorf vorstellte. Auch rechtsextremistische Musik oder Verwandte würden junge Menschen häufig in die Szene hineinziehen.

Schwierige soziale Verhältnisse, die als typisch für die Herkunft von Extremisten gelten, seien nicht die Regel, so Behrens. Es seien sowohl durch Scheidung, Alkohol oder Gewalterfahrung belastete familiäre Umfelder festgestellt worden, als auch intakte Familienverhältnisse. Nach der Studie, die auf einer Befragung von 56 Skinheads und Neonazis sowie 20 potenziellen Aussteigern basiert, waren 73 Prozent der Skinheads nicht älter als 21 Jahre. 70 Prozent verfügten über einen Schulabschluss. 65 Prozent waren berufstätig.

Freitag, 30. Mai 2003

Der braune Spuk bleibt aktiv
Von Peter Kirschey 
 

Auch wenn zur Zeit wenig zu hören ist aus der rechten Szene in Berlin. Sie existiert und ist weiter aktiv. Zwar gibt es momentan keine spektakulären Aufmärsche, keine schillernden Personen, die Tausende auf ihren unheilvollen Weg mitziehen, auch keine öffentlichen Provokationen, die nach Gegenwehr mutiger Antifaschisten rufen. Still ist es auch um die Zentralen der beiden etablierten Rechtsparteien in Köpenick und Pankow geworden, rechte Kameradschaften haben sich auf ein paar Splittergruppen reduziert. Doch die latente neonazistische Gefahr gehört noch lange nicht der Vergangenheit an.
Zu Recht haben die Berliner Bündnisgrünen jetzt darauf hingewiesen, dass eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus kaum erfolgt. Dabei sprechen die Zahlen eine klare Sprache: Die Zahl rechtradikaler Straftaten hat sich 2002 im Vergleich zum Jahr davor verdoppelt. Die rechte Alltagskultur etabliert sich besonders im Jugendbereich. In bestimmten Klubs und Szenetreffs werden ohne jede moralische Scheu ausländerfeindliche Parolen verbreitet, an S-Bahnhöfen wie Grünau oder Schöneweide haben sich rechte Kader dauerhaft etabliert. Wer sich dort als Ausländer oder junger Antifaschist zu erkennen gibt, muss mit einer Provokation rechnen.
Nach wie vor grassiert der »kleine, stille Rassismus« in Behörden, nach wie vor haben es ausländische Mitbürger viel schwerer, eine Wohnung zu bekommen, werden sie von einigen Wohnungsbaugesellschaften mit fadenscheinigen Begründungen zurückgewiesen. Schlechte Deutschkenntnisse etwa ist ein Argument, das Menschenrecht auf Wohnen zu verweigern. Deshalb gilt es, wachsam zu bleiben. Oder haben wir uns alle nur daran gewöhnt, dass rechter Unrat zur Stadt gehört? Daran darf man sich nicht gewöhnen.