Presseschau Juni 2003
Die Presseschau ist ein Service des durch  entimon geförderten Projektes respectabel.de

Hier finden Sie eine Auswahl unserer Redaktion von Artikeln des täglichen Pressespiegels

Dienstag, 3. Juni 2003

 

 

Lichtenberger Schule läuft für Mosambik

»Schule ohne Rassismus« organisiert Spendenaufruf »Run for Help«

 

Erst kürzlich ging der Titel »Schule ohne Rassismus« an die Alexander-Puschkin-Oberschule in Lichtenberg. Die Regionale Arbeitsstelle für Ausländerfragen (RAA) und Schauspielerin Iris Berben als Patin waren sich sicher, dass die multikulturelle Schule die seltene Auszeichnung verdient hat.

Jetzt organisierten Schüler der neunten Klassen zum jährlichen Sommerfest einen Spendenlauf für die Partnerschule in Mosambik. Gestern wurde das Vorhaben von Schülern und Lehrern vorgestellt. Mit dabei war auch Bezirksbürgermeisterin Christina Emmrich (PDS), die sich als Schirmherrin und Sponsorin zur Verfügung stellt. Unter dem Motto »Run for Help« sollen am Sonnabend, dem 14. Juni, Eltern, Lehrer und lokale Prominente den Läufern 50 Cents für jede zurückgelegte Runde spenden. Neben Schülern können ebenso Freunde und Verwandte mitlaufen – vorausgesetzt, sie finden einen zahlenden Unterstützer. »Einige Lehrer trainieren auch schon fleißig«, so Schulleiterin Lilia Orlamünder. Zahlreiche Firmen, Vereine und öffentliche Träger seien als Sponsoren eingeladen worden. »Wir haben nicht nur Firmen angesprochen, die beiden Krankenhäuser des Bezirks und das Bärenschaufenster haben schon zugesagt.« Als ehemaliger Bürgermeister von Lichtenberg und geübter Marathonläufer wird Wolfram Friedersdorff (PDS) die Sportveranstaltung eröffnen.

Die Solidarität mit Mosambik hat nicht nur in der Schule eine lange Tradition. Zwischen dem fünften Bezirk der Hauptstadt Maputo und Lichtenberg besteht eine langjährige Partnerschaft. Seitdem Direktorin Orlamünder 1995 die dortige Bagamoyo-Schule besuchte, gibt es regelmäßig Aktionen zum Thema. Vor allem die Projektgruppe »Jugend und Gemeinwesen« ist im schuleigenen Schülerclub aktiv. Interessierte Schüler haben hier die Möglichkeit, Lesungen, Diskussionsrunden und Partys zu veranstalten. Träger des Clubs ist die RAA, deren Sozialarbeiter Daniel Ibraimovic die Aktionen der Schüler unterstützt: »Wir fördern die Auseinandersetzung mit anderen Ländern und Kulturen.«

Die Gesamtschule umfasst die Klassenstufen sieben bis zehn, die Schüler stammen aus 26 Ländern und arbeiten zum Teil seit Jahren in antirassistischen Projekten mit. Einige haben sich in Eigeninitiative auf die Suche nach Sponsoren und Unterstützern für die Partnerschule gemacht. »Ich bin einfach stolz auf meine Schüler«, so Orlamünder. Besonders freue sie sich, dass nachvollziehbar bleibe, wofür das gesammelte Geld verwendet wird. »Zugeschickte Fotos können die Verbesserungen dort zeigen.« Zahlreiche Wandzeitungen in den Räumen der Puschkin-Oberschule zeugen von früheren Spenden.

Das jährliche Sommerfest ergänze sich mit dem geplanten Spendenlauf hervorragend, meint Uta Schröder. Die Physik-Lehrerin organisiert zusammen mit Kollegen, Eltern und Schülern Kuchenbasar, Bühnenprogramm und Volleyball-Turnier.

»Run for Help«, 14. Juni 2003.

Beginn 10 Uhr auf dem Sportplatz in der Zachertstr. 50, 10315 Berlin

 

 

 

Dienstag, 10. Juni 2003

 

Völlig meschugge
Nach Möllemanns Tod blüht der Antisemitismus im Netz
Von Wolfgang Hettfleisch

Wer Möllemann auf dem Gewissen hat? Die Juden natürlich! Mossad, zionistische Weltverschwörung, jüdisches US-Kapital - suchen Sie sich was aus. Willkommen in der Welt der Focus-Foristen! In den Diskussionszirkeln der Online-Ausgabe des Nachrichtenmagazins steppt seit Möllemanns Sprung in den Tod der Bär, und der Pelz von Meister Petz schimmert in der Internet-Community der Münchner bevorzugt in Brauntönen.

Selbstredend hat die Mordthese Konjunktur. Immerhin starb da einer, wie wir lesen dürfen, für "die Meinungsfreiheit und Wahrhaftigkeit in unserem Lande". Doch die aufrechten Verschwörungstheoretiker im elektronischen Focus-Briefwechsel, stets auf Du und Du mit den kriminellen Machenschaften des jüdischen Kapitals, haben noch Hoffnung. Etwa darauf, dass es "die Israel-Lobby" nicht schaffen wird, "die Menschen so einschüchtern, dass sich niemand traut, die Wahrheit zu auszusprechen".

Die Leute im Focus-Forum trauen sich. Und wie! Dass allerdings einer der mutigen Querdenker am heimischen PC einen Beitrag mit "Heil Hitler" zeichnete, ging der "Communityleitung" dann doch irgendwie zu weit. Der Urheber wurde gesperrt, rechtliche Schritte behielt man sich vor. Was die Mehrzahl der Teilnehmer am kaffeebraunen PC-Kränzchen empörend fand, irgendwie antidemokratisch. Ist doch ein freies Land, oder? Die Forums-Verwaltung machte einen Vorschlag zur Güte: "Wer ist für oder wer ist gegen den Nazigruß im Focusforum?" Es lebe die Meinungsfreiheit!

Der Gerechtigkeit halber sei erwähnt, dass sich etliche Forums-Teilnehmer im falschen Film wähnten. Doch der Wahnsinn hat durchaus Methode. Keine These ist zu abstrus, kein "Ich hab' doch nix gegen Juden"-Gesudel zu abwegig, um nicht als geistreicher Beitrag einer verfolgten und unterdrückten Gegenöffentlichkeit gefeiert zu werden. Er sollte eben mundtot gemacht werden, der Möllemann, oder, um im Duktus des Forums zu bleiben: "Möllemann wurde von lauthals krächzenden Juden, die den Hals nach all den zurecht gezahlten Kriegsentschädigungsgeldern nicht voll genug kriegen (Friedman und Co.), von den arschkriechenden Medien und von den Kollegen so sehr gehetzt, dass es unmöglich für ihn wäre, nach einem Rücktritt ein normales Leben zu führen ohne auf der Straße erkannt zu werden mit dem Ruf ,Da ist ja Mölle, der alte Judenhasser'." So machen sie das mit ihren Gegnern, die Zionisten und ihre Verbündeten. Und überhaupt: "Das ganze jüdische und islamistische Gesocks soll verrecken." So der Freund der alphabetischen Variante der Chiffre 88, dessen Beiträge vorgeblich alle gelöscht werden sollten.

Nicht, dass man braune Parolen dulden würde im Forum, wo schon mal einer launig unter dem Kürzel "Gröfaz" in die Runde grüßt und ein gewisser Martin W. stolz verkündet, das ideologische Rüstzeug mosaischer Möllemann-Meuchler beim Studium des Talmud gefunden zu haben: "Ein Mädchen von drei Jahren und einem Tag ist zum Beischlaf geeignet - Niddaa 71 a, Kethuboth 6 a, Jabmuth 57 a und 60 a, Kidduschin 10 a, Aboda zara 37 a."

Doch niemand weit und breit, mit Ausnahme natürlich der aufrechten Deutschen im Focus-Forum, der die marodierenden Horden jüdischer Kinderschänder und Möllemann-Mörder aufhielte oder die Zustände in unserem Land auch nur anspräche. Denn merke: "Es ist sogar wahrscheinlich, dass, selbst wenn der Mord eindeutig nachzuweisen wäre, weiterhin durch die Politiker und die Medien an der Selbstmordversion festgehalten würde. Wir wissen doch inzwischen, wie es um dieDemokratie und Meinungsfreiheit in Deutschland wirklich bestellt ist. Nur Schwachsinnige können sich noch Illusionen machen."

Und wenn die dann auch noch "erschütternde Dummheit" im Focus-Forum beklagen, lernen sie schnell, wo Bartel den Most holt: "Wirst du vom Mossad bezahlt ?"

 

 

 

Donnerstag, 12. Juni 2003

 

 

PROZESS UM DEN MORD AN MARINUS SCH.

 

Die drei Rechtsradikalen haben vor Gericht gestanden, wie sie den 16-Jährigen quälten und töteten. Details und Umstände der Tat im brandenburgischen Potzlow sind entsetzlich. Dennoch hat im Gerichtssaal eine schleichende Gewöhnung eingesetzt. Die Angeklagten sind ohnehin regungslos

 

Das Grauen der Gewöhnung

 

aus Neuruppin KIRSTEN KÜPPERS

 

Es reicht nicht aus, findet der Anwalt. "Man kann nicht sagen, Rechtsextremismus, und fertig", sagt Volkmar Schöneburg. "Das greift einfach zu kurz. Da gab es weitere Gründe, andere Motive." Der Anwalt steht auf dem Gerichtsflur. Er hat ein glattes Gesicht, seine Stirn fängt schnell an zu glänzen. Er wippt auf den Zehen, wenn er spricht, die Arme hinter dem Rücken verschränkt.

 

Drei Wochen macht der Anwalt das schon: sich in den Prozesspausen auf den Gerichtsflur stellen und den vielen Journalisten immer wieder Erklärungen liefern, neue Argumente. Seit drei Wochen läuft am Landgericht Neuruppin das Verfahren gegen die Brüder Marco und Marcel S. und ihren Freund Sebastian F. Der Verteidiger will das Beste für die Angeklagten. Das ist sein Beruf. Er stellt sich auf den Flur und redet mit den Journalisten, wirbt um Verständnis. Auch wenn es nichts nützt.

 

Der Prozess behandelt das, was im vergangenen Sommer in Potzlow, etwa 100 Kilometer nordöstlich von Berlin, geschehen ist. Den Mord an dem 16-jährigen Marinus Sch. Es geht um zwei Jugendliche und einen großen Bruder, die zusammen das Verbrechen begangen haben. Eine Tat, die zu grausam scheint für alle Antworten und jedes Verstehen.

 

Dabei haben die drei Angeklagten bei der Polizei und vor Gericht alles zugegeben. Jetzt sitzen sie da und gucken an der Aufregung vorbei. Am Entsetzen in den Gesichtern hinter der Zeugenbank und den routinierten Abläufen davor. An den Zeugen, den Richtern, den Staatsanwälten, den Gutachtern, den vielen Journalisten, den Zuschauern hinten im Saal. Sie gucken auf irgendeinen weit entfernten Punkt in der Luft. Was passierte in der Nacht zum 13. Juli 2002, haben ihre Anwälte verlesen.

 

Sie waren an diesem Abend zusammengesessen, hatten Karten gespielt und getrunken. Ein paar von den gestandenen Alkoholikern aus dem Dorf, die beiden Brüder Marco und Marcel S., 23 und 17 Jahre alt, sowie ihr Freund, der 17-jährige Sebastian F. Eine heitere Geselligkeit, Bierdosen und Schnaps auf dem Tisch. Marinus Sch. saß auch mit dabei. Ein Junge mit einem Sprachfehler, der weite Hosen trug, seine Haare waren blondiert. Anstoßen, ein Bier, ein Schnaps, noch ein Bier. Zusammen bewältigte die Runde einen langweiligen Freitagabend im Sommer.

 

Als einer der alten Trinker nach Hause trottete, die anderen alkoholisiert in den Stühlen hingen, nur die Jungen noch wach dasaßen, gab es plötzlich nichts mehr. Nur den Unterschied: die Hose von Marinus und seine Frisur. "Ein anständiger Deutscher trägt so was nicht", riefen die drei anderen, sie selbst hatten Springerstiefel an, die Haare kurz geschoren, "Sag, dass du ein Jude bist!" Sie schlugen fest zu. Sie schlugen Marinus ins Gesicht. Sie flößten ihm ein Gemisch aus Bier und Schnaps ein. Sie prügelten, traten mit ihren Stiefeln auf ihn ein. Nach einer Weile schleppten sie ihn auf das Gelände der stillgelegten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft am Dorfrand. Sie wollten Marinus "ein bisschen Angst einjagen", haben die Angeklagten zu Protokoll gegeben.

 

In der ehemaligen Stallanlage setzten sie die Misshandlungen fort. Die Anfangsszene des Films "American History X" haben sie nachgespielt, den Film kannten sie alle, Marcel S. hat das zugegeben: Marinus musste in die Kante eines Futtertrogs beißen, Marcel S. sprang ihm auf den Kopf. Als das Opfer entstellt dalag, schmiss er noch einen Betonstein. Nach vier Stunden der Qual war Marinus Sch. tot. Den Leichnam versenkten sie in einer Jauchegrube.

 

Potzlow hat knapp 600 Einwohner. Wenn alles so läuft wie immer, passiert weniger als nichts. Die Sache wäre vielleicht niemals rausgekommen. Monate gingen vorüber, die Menschen kauften ihr Brot beim Bäcker, ihr Bier beim Getränkehändler, nichts hob den Ort aus der Gewöhnlichkeit seiner Tage. Auf die Vermisstenanzeige von Marinus Eltern reagierte niemand. Die Täter hielten den Mund.

 

Im August schlug der ältere Bruder im nahe gelegenen Prenzlau einen Asylbewerber aus Sierra Leone zusammen. Er wurde zu 3 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Jauchegrube erwähnte Marco S. nicht. Womöglich wäre nichts davon je rausgekommen. Wenn sein jüngerer Bruder nicht angefangen hätte mit einer kaltschnäuzigen Ungeheuerlichkeit. Er fing an, mit dem Mord zu prahlen.

 

Immer mehr Freunden erzählte er davon. Es war schon November, und Marcel S. befand sich in einer betrunkenen Angeberlaune, als er ein paar Jugendliche zum alten Stallgelände führte. Für 25 Euro, als Eintritt. Auf dem Gelände stocherte er in der Jauchegrube, zeigte den halb verwesten Körper vor. Er hatte eine Axt dabei, mit dieser hieb er auf die Leiche ein, brüllte herum. Keiner der Beteiligten meldete diesen Vorfall der Polizei. Vielleicht auch, weil eine Freundin der Brüder auf einem Schulhof auftauchte und einem Jugendlichen drohte: "Wenn du was verrätst, kann dir auch so was passieren."

 

Man kann sich vorstellen, wie es zuging. Die Sonntage in einem Dorf in der Provinz. Wo fast jeder etwas weiß und keiner etwas sagt. Aber das Geheimnis war zu groß. Es ging herum im Ort. Als die Gerüchte bei den ganz kleinen Kindern angekommen waren, zogen sie los. Die Kinder liefen zusammen zur alten LPG, sie hatten Stöcke dabei und eine Ahnung im Kopf. In der Jauchegrube fanden sie den Toten. Ein Kind hat die Polizei angerufen, ohne seinen Namen zu sagen.

 

Seit drei Wochen sitzen die Angeklagten nun schweigend und regungslos im Landgericht in Neuruppin. Die schriftlichen Geständnisse, die ihre Anwälte verlesen haben, enthalten nur ein mageres Bedauern. Marcel S. gibt an, beim Sprung auf Marinus Kopf "ein Blackout" gehabt zu haben: "Umbringen wollte ich ihn nicht." Ob das so etwas wie Reue sein soll, ist nicht zu erkennen.

 

"Am rechtsextremistischen Hintergrund der Tat gibt es keinen Zweifel", meint der leitende Oberstaatsanwalt Gerd Schnittcher. Die Angeklagten seien "ortsbekannte Rechtsradikale". Marinus Sch. musste sterben, weil sie ihn für "lebensunwert" hielten. Viele Zeugen haben ausgesagt, sie haben die Vorwürfe weitgehend bestätigt. Die Staatsanwaltschaft fordert Höchststrafen.

 

Der Anwalt Volkmar Schöneburg verteidigt die Brüder gemeinsam mit seinem Bruder Matthias, ein weiterer Anwalt vertritt den dritten Angeklagten. Obwohl es nicht gut aussieht, hoffen sie, dass das Gericht beim Urteilsspruch am 18. Juni auf verminderte Schuldfähigkeit erkennt. Wegen des Alkohols, den ihre Mandanten getrunken haben in der Tatnacht. Es wird nicht einfach, die Kammer zu überzeugen. In Deutschland urteilen die Richter mittlerweile streng, wenn Rechtsradikalismus im Spiel ist. Man muss andere Motive finden. Deshalb stellt sich der Anwalt von Marcel S. in den Pausen auf den Gerichtsflur. Deshalb redet er mit den Journalisten, sagt immer wieder, dass es noch andere Gründe gab.

 

Man kennt diese Erklärungen. Eine davon haben im Gerichtssaal die Zeugen gegeben. Ausgesagt haben ein arbeitsloser Eisenbahner, ein arbeitsloser Rinderzüchter, ein arbeitsloser Stallwirt. Die LPG wurde kurz nach der Wende abgewickelt. Seither hat Potzlow eine schöne Landschaft mit schönen Seen und keine Arbeitsplätze. Die Arbeitslosenquote in der Region liegt bei über 20 Prozent. Ein Zeuge kam angetrunken in den Gerichtssaal. Zwischen Alkoholismus, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und erzwungener Untätigkeit bringen viele in Potzlow ihr Leben zu.

 

Dann sind da noch die überforderten Eltern. Eine arbeitslose Mutter und ein arbeitsloser Vater, die hilflos zugucken, wie ihre Söhne Hakenkreuzposter ins Zimmer hängen. Es gibt auch ein schwieriges Geschwisterverhältnis, das der Anwalt Volkmar Schöneburg anführt. Marcel S. sah demnach mit einer Mischung aus Angst und Bewunderung zu seinem Bruder auf. Er gehörte nicht immer zur rechten Szene. Er hatte Phasen, in denen er Schlaghosen trug, Technopartys besuchte und Joints rauchte. Aber jedes Mal wenn sein Bruder aus dem Gefängnis kam, rasierte Marcel sich den Kopf und zog Springerstiefel an. Weil sein Bruder das genauso tat.

 

Der Anwalt erklärt, Marcel S. habe sein Opfer nicht für minderwertig gehalten. Die beiden waren Kumpel, früher hatte Marcel zusammen mit Marinus Autos geklaut und Mofas repariert. Vielmehr sei der Mord eine Form der Selbstbehauptung unter Geschwistern gewesen, glaubt der Anwalt.

 

Hinten auf der Zuschauerbank des Gerichtssaals sitzt der Bürgermeister von Potzlow. Sein Gesicht sieht still und betroffen aus. Er weiß, dass alle diese Argumente viel sagen und nichts entschuldigen. Es bleibt das Verbrechen und seine Folgen. Viele gucken nun auf Potzlow und seine Bewohner wie auf ein Nest voller Ungeheuer. Sooft wie möglich versucht der Bürgermeister jetzt bei der Verhandlung in Neuruppin zu sein. Zu ihm kommen ja später wieder die Journalisten und fragen, er weiß das.

 

Die Journalisten, die anreisen in die Provinz. Die ankommen mit ihren Mikrofonen und Kabeln und ihren Fragen. Die ihre Beiträge abdrehen für die Abendnachrichten und am nächsten Tag in einen anderen Winkel der Welt ziehen für ein Ereignis, das noch keiner erlebt hat, das ist das Geschäft.

 

Ein Mann fällt auf, der durch die Gerichtsflure von Neuruppin läuft. Er fällt auf, weil er noch nicht so weit scheint wie die anderen Zuschauer, sich noch nicht gewöhnt hat an die Nähe zu diesem Verbrechen. Der Mann ist Korrespondent der zweitgrößten niederländischen Tageszeitung. Er ist an diesem Tag zum ersten Mal mit dem Fall Potzlow beschäftigt, und er kann es nicht fassen. Dass der Niederländer nun aufgeregt durch die Gerichtsflure läuft wie kein anderer, sagt etwas über die schleichende Gewöhnung, die sich eingestellt hat, hier im Gerichtssaal, aber auch in Deutschland angesichts der Menge und der Grausamkeit der Vorfälle.

 

Jetzt rennt er herum und stellt Fragen. Er spricht von Statistiken, von rechtsradikalen Gewalttaten, von Politik. Er spricht von der unfassbaren Tatsache, dass es in Deutschland Gebiete gibt, in denen Fremde um ihr Leben fürchten müssen. Er fragt mehr als alle anderen Journalisten an diesem Tag. Er fragt eine Frau, die vor dem Gerichtssaal sitzt. Sie ist Mitglied beim "Mobilen Beratungsteam Brandenburg". Eine Frau, die die Welt erklärtermaßen besser machen will, indem sie mit ihrem Verein jetzt auch in Potzlow mit Jugendlichen und Sozialarbeitern Gespräche führt. Die Frau antwortet dem Journalisten, dass sie Statistiken nicht traut und dass es auch Fortschritte gibt. "Die kleinen Erfolge, die wir im Kampf gegen den Rechtsextremismus erzielen, muss man auch anerkennen", sagt sie.

 

Noch etwas bleibt übrig von diesen Prozesstagen in Neuruppin. Eine kleine Information. Der Anwalt Volkmar Schöneburg hat sie vorhin auf dem Gerichtsflur gegeben, obwohl sie nichts Gutes sagt über seinen Mandanten. Marcel S. hat sich in der Untersuchungshaft ein Hakenkreuz auf sein Knie tätowieren lassen, hat der Anwalt erzählt. Auf wippenden Zehen, mit einem leicht gequälten Gesichtsausdruck hat er das gesagt. Und noch einen anderen Satz: "Es könnte gut sein, dass er von den rechten Jugendlichen im Knast für den Mord an Marinus gefeiert wird."

 

 

 

 

Freitag, 13. Juni 2003

Bewährungsstrafe für 25-Jährigen wegen lautstarken Abspielens von Nazi-Liedern

Michael Mielke

Die Akten stapeln sich, Termine drohen überzogen zu werden - es muss schnell gehen im Moabiter Kriminalgericht. Auch für den Prozess gegen den 25-jährigen Guido A.* scheint wenig Zeit zu sein. Und am Ende ist von Reue die Rede und von einem Geständnis. Aber war es das? Die Anklage lautete Volksverhetzung und Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen. Guido A. hatte in der Nacht zum 15. Juni 2002 in seiner Wohnung in Mitte gemeinsam mit zwei Nachbarn Musik der Skinhead-Gruppe "Landser" gehört. Mit Titeln wie "Polacken-Tango" und deckungsgleichen Versen: "100 000 Liter Strychnin. Für Kreuzberg. Haut das Zeug ins Leitungswasser rein, dann geht die ganze Bande ein." Guido A.: "Ich habe mir eigentlich nicht sehr viel dabei gedacht." Sie hätten Skat gespielt, reichlich Bier und Schnaps getrunken. Die Landser-CD stamme ohnehin von einem der beiden Nachbarn. Anwohner beschwerten sich. Zwei Mal wurde die Polizei gerufen. Ein Beamter erzählt vor Gericht, er habe schon auf der Straße das Gegröle gehört: "Irgendwas von Israel, gegen das gekämpft werden müsse." Passanten hätten empört den Kopf geschüttelt. Und die drei Personen in der Wohnung seien dann auch "dem äußeren Anschein nach der rechten Szene zuzuordnen" gewesen. Einer von ihnen war Guido A. Der will zu diesem Zeitpunkt dieser Szene aber schon nicht mehr angehört haben. Das Porträt eines uniformierten Angehörigen der Waffen-SS in seiner Wohnung - reine Erinnerung, erklärt Guido A., es sei sein Opa. Die Landser-Hefte - "das hat doch damit nichts zu tun". 13 CDs mit Neonazi-Liedern, die sechs Monate später bei einer Durchsuchung seiner Wohnung gefunden wurden - "die lagen in einer Tüte, die habe ich nicht mehr gehört". Er habe jetzt anderes im Sinn und pflege in Neuruppin seinen schwer kranken Vater, beteuert er. Und auch wegen der Lebensgefährtin, die in Kreuzberg ein eigenes kleines Geschäft führe, sei er endgültig weg von der rechten Szene. Das Gericht, so scheint es, möchte ihm seinen Sinneswandel glauben. Es kommt in Absprache mit Staatsanwaltschaft und Verteidigung zur Einigung auf eine Strafe von sechs Monaten Gefängnis - ausgesetzt auf Bewährung. Ein weiteres Verfahren gegen Guido A. wegen einer - an das SS-Zeichen erinnernden - Sieges-Rune an seinem Briefkasten wird eingestellt. Und alles ging wirklich sehr schnell. (* Name geändert)

 

 

Samstag, 14. Juni 2003

KZ-Gedenkstätte geschändet

Fürstenberg - Erneut ist die Gedenkstätte eines ehemaligen Konzentrationslagers in Brandenburg geschändet worden. Jetzt traf es das frühere Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Wie die Staatsanwaltschaft Neuruppin gestern mitteilte, hätten unbekannte Täter drei Text-Tafeln von Holzpfählen gerissen und 500 Meter weiter in einem Waldgebiet weggeworfen.

Eine der vier Tafeln mit einer Chronik der Verfolgung junger Frauen und Mädchen im so genannten "Jugendschutzlager" Uckermark, das einige Kilometer entfernt vom KZ Ravensbrück gelegen hatte, sei samt Holzpfahl aus dem Boden gerissen und in den Wald geworfen worden. Ihren Platz hatten die Tafeln unweit der eigentlichen Mahn- und Gedenkstätte.

Die Texte und Fotos auf den Tafeln erinnerten an das Leid der rund 1000 zwischen 1942 und 1945 inhaftierten Frauen. Sie waren vor zwei Jahren aufgestellt worden. Dass sie fehlten, hatten Polizeibeamte erst am Donnerstagabend bei einer Streifenfahrt bemerkt. Sie sollen aber bereits vor einigen Tagen gewaltsam entfernt worden sein, hieß es gestern.

 

 

Montag, 16. Juni 2003

 

 

Ausländerbeauftragte: Rechtsextremismus gravierendes Problem

Potsdam (dpa/bb) - Der Rechtsextremismus bleibt in Brandenburg nach Ansicht der Ausländerbeauftragten Almuth Berger weiterhin ein gravierendes Problem. Es gehe um die politische und zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit einer menschenverachtenden Ideologie, betonte Berger in Potsdam bei der Tagung «Mut zur Auseinandersetzung» des Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, dessen stellvertretende Vorsitzende sie ist.

 

 

Dienstag, 17. Juni 2003

Rassistische Attacke in Bernau

Auf dem Bahnhof von Bernau (Barnim) sind am Samstag russischsprachige Jugendliche ausländerfeindlich attackiert worden. Die drei einschlägig vorbestraften Männer seien dank Videoüberwachung schon auf dem Bahnhofsvorplatz festgenommen worden und sitzen in Untersuchungshaft, teilte die Polizei am Montag mit. Die 16, 21 und 22 Jahre alten Täter riefen unter anderem "Russen raus". Die Gruppe russischsprachiger Jugendlicher war bereits in der S-Bahn von Berlin nach Bernau beschimpft worden. Als sie in der ostbrandenburgischen Stadt ausstieg, bemerkten eine Russischlehrerin und ihre Tochter die Attacke. Sie riet den Angegriffenen, den Bahnhof zu verlassen. Daraufhin schubste der 16-Jährige die Frau zu Boden. Ein Beobachter der Bahnhofs-Videoüberwachung rief die Polizei. Unklar ist noch, wo die fünf bis zehn Angegriffenen wohnen, da sie sich bisher noch nicht auf einer Wache gemeldet haben. "Vermutlich sind es Spätaussiedler oder deren Kinder", sagte Polizeisprecher Toralf Reinhardt. Zeugen berichteten zudem, dass die drei Männer am Samstag auch einen Zwölfjährigen zusammengeschlagen haben sollen - ebenfalls am Barnimer Bahnhof. Auch dieses Opfer hat sich bislang nicht gemeldet. "DPA

 

 

Mittwoch, 18. Juni 2003

 

Antirassistische Meile gegen NPD auf Blumenfest
Protest gegen Missbrauch der Bezirksveranstaltung 
 
Von Andreas Fritsche 
 
Alles könnte so schön sein beim traditionellen Weißenseer Blumenfest. Doch die Anwesenheit der neofaschistischen NPD ist wieder einmal ein Ärgernis.
Am Freitag eröffnet Bezirksbürgermeister Burkhard Kleinert (PDS) das Fest um 15 Uhr mit einem Freibieranstich auf der Wiese neben der Freilichtbühne. Um 19 Uhr spielt die Ostrockband »Lift«. Am Sonnabend um 15 Uhr führt der Blumencorso die Berliner Allee entlang, die Blumenkönigin wird um 17 Uhr gewählt und um 23.30 Uhr steigt am Strandbad ein Feuerwerk. Im Kulturhaus »Peter Edel« gibt es am Sonntag Tanztee für Senioren (14 Uhr) und Puppentheater (15.30 Uhr). Ein Lampionumzug startet um 19 Uhr neben der Freilichtbühne.
An Ständen bieten Händler ihre Waren feil. Außerdem stellen sich Bezirksamt, Institutionen, Vereine und Parteien vor– darunter auch die NPD, die sich bereits in den vergangenen Jahren einen Stand sicherte. Für dieses Mal kündigt NPD-Sprecher René Bethage Mitglieder von Partei- und Landesvorstand an.
Das Blumenfest werde »seit Jahren von den rechtsextremen Parteien NPD und Rep zur massenhaften Verteilung ihrer Propaganda missbraucht«, berichtet das örtliche Netzwerk gegen Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt. »Gegen Abend verwandelt sich das Familienfest regelmäßig zur Saufmeile für Hunderte Rechtsextreme.« Nachdem im letzten Jahr am Abend des 22. Juni »rechte Schläger Menschenjagden veranstalteten und mehrere Jugendliche verletzten«, soll in diesem Jahr eine antirassistische Standmeile einen demokratischen Akzent setzen. Zum Netzwerk gehören unter anderen Bund der Antifaschisten, Migrantenhilfsverein Oase, Jusos und PDS.
Auseinandersetzungen um den NPD-Stand im Juni 2002 hatten Ende Mai ein gerichtliches Nachspiel. Zu einer Geldstrafe verurteilt wurde Antifaschist Wolfgang S., weil er mit einem Feuerzeug ein Loch in eine NPD-Fahne gebrannt haben soll. Die Neonazi-Partei mischt sich bereits das dritte Mal in die Festlichkeiten.
Das Bezirksamt verweist bei Nachfragen auf den Veranstalter, die Firma Nareyka. Rechtlich gebe es keine Möglichkeit, der NPD einen Stand zu verweigern, heißt es dort. Eine Ausnahme seien Mittelalter- oder Flohmärkte, wo einige Bezirke Parteien und Vereine generell nicht zuließen. Im konkreten Fall fehle jedoch jede Handhabe. »Es gibt doch eine Parteienfreiheit, das ist mein Standpunkt«, so der stellvertretende Nareyka-Geschäftsführer Ulrich Bachmann. Das Bezirksamt Pankow habe auch nicht verlangt, der NPD einen Stand zu verweigern.
Die juristische Einschätzung Bachmanns wird von Fachleuten geteilt. Die NPD könnte vor das Verwaltungsgericht ziehen und dort die Teilnahme erzwingen.
Die Republikaner werden in diesem Jahr nicht dabei sein, sagte Landesgeschäftsführer Detlef Britt auf Anfrage. Die Rechtsaußen-Partei hat derzeit auch andere Sorgen. Die Arbeit der Bundeszentrale wurde vor etwa zwei Monaten aus dem Gartenhaus der ehemals jüdischen Garbáty-Villa nach Nordrhein-Westfalen verlegt. Der Landesverband kann das Pankower Gartenhaus allein nicht finanzieren. Deshalb zieht man demnächst auf die gegenüber liegende Seite der Berliner Straße in Räume, die derzeit noch renoviert werden. Der Einzug der Reps ins Gartenhaus der Garbáty-Villa hatte um die Jahreswende 1998/99 Aufsehen erregt und heftige Proteste bewirkt.

 

 

Donnerstag, 19. Juni 2003

Glatzen und Stiefel

Martina Döckers Dokfilm „Bernau liegt am Meer“

Eigentlich wollte Andreas Müller ja in Kreuzberg kleine Leute verteidigen. Doch dann landete er als Jugendrichter in Bernau. Und die kleinen Leute, mit denen er in seinem brandenburgischen Arbeitsalltag konfrontiert war, trugen Glatzen und ließen ihren Frust mit Baseballkeulen und Stiefeltritten an noch Schwächeren ab. Die Justiz schien da ohnmächtig. Doch irgendwann, es war nach einem brutalen Überfall am Herrentag an einem Badesee, hatte Jugendrichter Müller genug von dem immer gleichen Katz-und-Maus-Spiel aus Bewährungsstrafen und Wiederholungstaten. Er verfügte, was auch in Berlin einige von der Justiz im Umgang mit jugendlichen Serientätern fordern: kurzen Prozeß und schmerzhafte Strafen gleich beim ersten Mal. Außerdem wurde den Tätern das Tragen von Springerstiefeln verboten, eine bei den Betroffenen treffsicher wirkende Maßnahme – wenn auch von manch Außenstehendem als putziges Detail belächelt.

Daniel ist einer von denen, die ihre Stiefel nicht mehr tragen dürfen. Vor ein paar Jahren schon geriet er in Andreas Müllers harte Hände. Jetzt hat er eine Alkoholtherapie hinter sich, spielt in einem Resozialisierungs-Projekt mit Aussiedlern und Polizisten Ball und wartet auf seinen nächsten und erst mal letzten Prozess – und statt Glatze trägt er akkuraten Scheitel und den Hemdkragen zugeknöpft. Auch der Gewalt hat Daniel abgeschworen, einen Polizeioberst nennt er seinen Freund. Nur ein Nazi ist er immer noch, nur dass aus dem prügelnden Skin ein ordentlicher Jungmann „rechter Gesinnung“ geworden ist, wie Daniel es selbst nennt. Sonst spricht er gern im Bürokratenjargon von sich und den „durchgeführten Straftaten“. Daniels Lieblingswort ist „normal“: Eine ganz normale Kindheit habe er gehabt, ein normaler Typ sei er, der Heimat und Familie liebt; und auch Deutschland soll eben einfach ein ganz normales Land werden ohne Holocaust-Mahnmale und Wiedergutmachung und so Zeugs.

Rosemarie Calas ist eine normale Mittvierzigerin, vor dreizehn Jahren vom „Bürger der DDR“ zum „Bundesbürger“ transformiert und jetzt als Streetworkerin mit Jugendlichen wie Daniel tätig. Eine gestandene Frau, der man zutraut, den dummen Sprüchen der jungen Rechten mehr als nur arrogante Gegensprüche entgegenzusetzen, wie Richter Müller es gerne tut. Rosemarie Calas ist neben Andreas Müller und Daniel die dritte Protagonistin von Martina Döckers („Mit Haut und Haar“) neuem Dokumentarfilm „Bernau liegt am Meer“. Doch sie hat hier eigentlich nur eine Sekundantenrolle, auch wenn der Film seine Figuren mit einer kontrollierten Inszenierung formal gleichwertig miteinander verknüpft.

Dreimal Auftritt aus der Natur ins Kameraauge. Dreimal wird zu kurzen Porträts mit Gitarrengezupfe innegehalten. Jede der drei wird auch bestimmten Verfahren unterzogen, Befragungen etwa zu naheliegenden und auf den ersten Blick abwegig erscheinenden Begriffen wie „Hände“ oder „Haut“. Deren Ergebnisse sind persönlich aufschlussreich und auch erheiternd. Trotzdem sieht es manchmal so aus, als hätte sich auch die Hilflosigkeit der Regisseurin gegenüber dem schwierigen Stoff in diesen Inszenierungseifer eingeschrieben. Es ist eine Hilflosigkeit, die ganz unkontrolliert hervorbricht, als sich die Regisseurin bei einer antisemitischen Äußerung Daniels spontan selbst in die Debatte hineinbringt, mit „absoluter“ moralischer Distanzierung und einem Appell an die Menschlichkeit.

Doch Daniels Argumentation ist nicht unmenschlich, sie ist nur falsch. Es ist dieser allgemein menschelnde Grundton, der „Bernau liegt am Meer“ in seiner Aussagekraft bremst. Der Film zeigt drei Menschen, die an einem Punkt ihres Lebens aufeinander treffen, nicht weniger und nicht mehr. Was er nicht zeigt, ist der Kontext, der diese Leben prägt und erst verständlich macht. So erscheint gerade Daniel immer auch ein wenig als einsamer pathologischer Einzeltäter. Rechte Gewalt aber ist ein soziales Phänomen, das von einem breiten Umfeld getragen wird – und immer noch höchst aktuell. Letztes Wochenende erst wieder wurde im brandenburgischen Kebnitz eine Berliner Schulklasse mit Baseballschlägern und Eisenstangen überfallen. Silvia Hallensleben

Hackesche Höfe

 

 

 

Sonnabend, 21. Juni 2003

 

Unfruchtbarer Boden für Rechtsextremismus

Kasseler Verein will mit Mobilem Beratungsteam demokratische Kultur fördern / Vorbilder in den neuen Ländern

Mobile Beratungsteams (MBT) sollen die Gesellschaft in die Lage versetzen, sich gegen Rechtsextremismus und Rassismus zu wehren. In Ostdeutschland existieren sie seit 1998. Jetzt soll ein solches Team auch in Nordhessen gegründet werden. Es wäre das Erste seiner Art in den alten Ländern.

Von Ralf Pasch

KASSEL. Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit sind keine ostdeutschen Phänomene. Benno Hafeneger von der Uni Marburg hatte im Jahre 2001 bei seiner Untersuchung zu rechtsradikalen Jugendcliquen in Hessen festgestellt, dass in 38 hessischen Städten und Gemeinden solche Gruppen existieren, vor allem im ländlichen Raum, die meisten im Main-Kinzig- und im Schwalm-Eder-Kreis. Die Aktivitäten reichen von ausländerfeindlichen Sprüchen bis zu Gewalt. Obwohl keine flächendeckenden Strukturen vorhanden seien, könne man von Ansätzen zur Vernetzung sprechen, so Hafeneger. Er forderte die "lokalen Eliten" dazu auf, das Problem Rechtsradikalismus in seinen "kulturell mentalen und demokratiegefährdenden Ausmaßen" anzunehmen. Doch zumindest für Nordhessen fehlen - abgesehen von einzelnen Bündnissen gegen rechts - "kontinuierlich und flächendeckend arbeitende Organisationen", konstatiert der in Kassel tätige Arbeitskreis für politische Bildung, der Bildungsangebote zum Thema Rassismus organisiert.

Der Arbeitskreis will das ändern: Am 10. Juli soll der Verein "Mobiles Beratungsteam gegen Rassismus und Rechtsextremismus - für demokratische Kultur in Hessen" gegründet werden. Interesse an einer Mitarbeit gibt es unter anderem aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund, der Arbeiterwohlfahrt, den Jugendbildungswerken der nordhessischen Landkreise und dem Evangelischen Forum in Kassel. Der Verein soll Träger eines Mobilen Beratungsteams werden, wie es sie in allen neuen Ländern gibt. Einige werden von den Ländern finanziert, andere über das Bundesprogramm Civitas, mit dem "Maßnahmen zur Stärkung der demokratischen Kultur" unterstützt werden. Sollte ein Beratungsteam in Nordhessen entstehen, wäre es das Erste im Westen.

In Thüringen koordinieren seit 2002 Regionalbüros in Gotha und Saalfeld die Arbeit von Mobit, wie das Team heißt. Laut Cornelia Borstel wird Mobit nur auf Anfrage tätig: "Kämen wir irgendwohin und würden sagen, ihr habt ein Problem, würden wir nur Abwehrreaktionen erzeugen." Die Mobit-Arbeit ziele nicht darauf ab, mit Rechtsradikalen zu arbeiten, sondern "ein gesellschaftliches Klima zu entwickeln, das es der rechten Szene schwer macht, sich zu vergrößern". Freilich kommen Anfragen oft erst dann, wenn ein Problem unübersehbar geworden ist. So zum Beispiel von einem Jugendclub, der von einer Neonazigruppe bedroht wurde - bereits seit sieben Jahren. Das war so weit gegangen, dass Mitglieder aus dem Club krankenhausreif geschlagen wurden. Mobit organisierte einen Runden Tisch, an dem neben dem Träger des Jugendclubs auch Kommunalpolitiker und Polizei saßen. Möglicherweise muss das Thüringer Team die Segel streichen, weil die CDU-Landesregierung es ablehnt, die ab 2004 nötige Co-Finanzierung zu übernehmen.

Der Kasseler Trägerverein für ein Beratungsteam will Land, Bund und EU als Geldgeber gewinnen. Das Team würde zusätzlich zu den Aufgaben, die in den neuen Ländern übernommen werden, Aufklärung über Rechtsextremismus anbieten, Lehrerfortbildung organisieren, mit Sportvereinen arbeiten und sich für die Integration von Migranten einsetzen. Ein erstes Projekt gib es schon: Bei der Diskussion um eine Moschee in Kassel-Mattenberg sollen Kontakte geknüpft werden, um "Konflikte zu entschärfen" und "mehr Toleranz reinzubringen", sagt Christopher Vogel vom Arbeitskreis für politische Bildung. Dazu ist mit der Stadt ein Antrag auf EU-Fördergelder gestellt worden.

 

 

 

Sonnabend, 21. Juni 2003

 

KOMMENTAR
Mobil machen

Von Ralf Pasch


Vielleicht ist das Problem Rechtsextremismus im Westen nicht so massiv wie im Osten Deutschlands. Aber das birgt die Gefahr, dass es klein geredet wird. Dass die Aktivitäten Rechtsextremer zunehmen, ist inzwischen auch für Hessen wissenschaftlich belegt. Gerade bei Jugendlichen trifft braunes Gedankengut immer öfter auf fruchtbaren Boden. Doch von politischer Seite wird das Problem offiziell kaum als solches benannt, geschweige denn etwas dagegen getan.

Es sind einzelne lobenswerte Initiativen, die vor Ort aktiv sind. Von einem "Aufstand der Anständigen" kann also keine Rede sein. Deshalb ist es nur begrüßenswert, wenn in Nordhessen ein Mobiles Beratungsteam gegen Rassismus und Rechtsextremismus entstehen soll, das einerseits aktiv wird, wenn es akut wird, das andererseits durch Bildungsarbeit prophylaktisch wirkt. Bezeichnenderweise kommt der Anstoß dazu wieder nicht aus der Politik.

Wenn jetzt Geldgeber gesucht werden, sollte auch das Land Hessen seiner Verantwortung gerecht werden und dazu beitragen, dass ein solches Team aufgebaut werden kann. Thüringen, wo die CDU-Landesregierung derzeit die Finanzierung verweigert und damit die Existenz des dortigen Beratungsteams aufs Spiel setzt, darf kein Vorbild sein. Bei allen Sparzwängen muss beim Nachdenken über die Finanzierung eines solchen Projekts bedacht werden, dass es dabei um die Stärkung der demokratischen Basis unserer Gesellschaft geht. Und um etwas gegen Rechtsextremismus zu tun, muss er nicht erst das Ausmaß annehmen, das er im Osten hat.

 

 

 

Montag, 23. Juni 2003

Skinhead-Band "Landser" muss vor Gericht

Von Michael Mielke

Die Musik dröhnte über die Straße, Hetzparolen im Stil der NS-Propaganda. "Wir haben das Gegröle schon gehört, als wir aus dem Wagen stiegen", sagt ein Polizist. Wenig später fanden die Beamten bei einer Wohnungsdurchsuchung CDs der Skinhead-Musikgruppe "Landser". Öffentlich abgespielt erfüllte das den Tatbestand der Volksverhetzung. Der 25-jährige Wohnungsinhaber erhielt, wie berichtet, eine sechsmonatige Bewährungsstrafe.

Elf Tage später, vom 24. Juni an, stehen nun die Musiker der Gruppe selbst vor dem Kammergericht. Die Ermittlungen führte die Generalbundesanwaltschaft. Sie wirft den drei Angeklagten die Bildung einer kriminellen Vereinigung, öffentliche Aufforderung zu Straftaten, Verunglimpfung des Staates, Volksverhetzung und Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen vor.

Ziel der Gruppe soll es nach Auffassung der Ankläger gewesen sein, "über Musik-CDs rechtsradikales Gedankengut in der Jugendszene zu verbreiten". Die Musiktexte seien geprägt von rassistischen, nationalistischen und antisemitischen Hasstiraden und riefen zur Gewalt gegen Ausländer, Juden, Sinti, Roma und politisch Andersdenkende auf. Die Anwaltschaft soll es außerdem für nachweisbar halten, dass "Landser"-Lieder wiederholt im Zusammenhang mit rechtsextremen Überfällen standen.

Im September 2001 wurden die "Landser"-Mitglieder verhaftet. Beamte des Berliner Staatsschutzes hatten zuvor 15 Monate lang ermittelt. Nach Auskunft eines Mitarbeiters war das nur mit Hilfe von V-Leuten möglich. Die als rechtsextreme Kultband geltende Gruppe habe fast zehn Jahre konspirativ gearbeitet und öffentliche Auftritte vermieden. Produktion und Vertrieb der CDs erfolgte im Verborgenen. So wurden CDs meist im Ausland hergestellt, über vorgeschobene Abnehmer nach Deutschland eingeführt und mittels eines anonymen Bestellsystems vertrieben.

Welcher Couleur die Skinhead-Musikgruppe war, beweist auch die anhaltende Solidaritätsaktion einer in den USA ansässigen rechtsextremen Vereinigung mit dem Namen NSDAP/AO. Es werde befürchtet, steht auf ihrer Website, dass die Generalbundesanwaltschaft mit dem Prozess gegen "diese legendäre Musikgruppe" ein Exempel statuieren und "anständigen Deutschen" den Zugang zu dieser "Musik Andersdenkender" verwehre wolle.

 

 

Dienstag, 24. Juni 2003

Geschlossene Gesellschaft

Berlin ist die Stadt der kulturellen Vielfalt und des Multikulti. Ihre Repräsentanten sehen das anders. Im Kulturausschuss sprachen Migranten gestern über fehlende Förderung und mangelnde Akzeptanz

von ROLF LAUTENSCHLÄGER

Michael Braun, kulturpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Landtag, blickt multikultimäßig voll durch. Zwei Tage habe er den "Karneval der Kulturen" in der vorvergangenen Woche besucht. Gefallen fand er zudem. Und auch die Stände mit "brasilianischen Cocktails" seien ihm in Erinnerung geblieben. Dass nun "angesichts" der bunten Multikulti-Mischung in der Stadt ausländische Kulturvertreter die Frechheit besaßen, in der Anhörung im Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses am Montag über den Zustand "kultureller Vielfalt von Migranten" zu "jammern", hat Braun "geärgert". Hat der Mann zu viele Cocktails getrunken?

Sicher, niemand - auch nicht die Mehrheit der Fraktionen im Kulturausschuss - wird behaupten, Berlin besitze und fördere nicht kulturelle Aktivitäten seiner ausländischen Mitbürger. Das Land unterstützt die Werkstatt der Kulturen ebenso wie das Radio Multikulti. Im Tiergarten steht ein "Haus der Kulturen der Welt", Projekte polnischer oder türkischer Theatergruppen - wie das Tiyatrom - werden vom Land subventioniert. Doch anders, als Braun meint, und anders als die "Selbstwahrnehmung der Kultur-Metropole Berlin", wie Kultursenator Flierl (PDS) gestern kritische anmerkte, zeigt sich die Realität der kulturellen Vielfalt aus dem Blickwinkel der Akteure nicht so rosig.

Die über 400.000 Migranten und Migrantinnen in der Stadt partizipieren nur in geringem Anteil am Kulturleben Berlins wie auch am kulturellen Leben der eigenen Volksgruppen. Es fehlt an Spielstätten, wirklicher Akzeptanz, einem "interkulturellen Referat" beim Senat und Möglichkeiten zur Vernetzung der Mulitkulti-Kultur. Das "Markenzeichen" der Stadt, nämlich die Vielfalt der europäischen, afrikanischen oder lateinamerikanischen Künstler und Institutionen, müsse mehr Beachtung finden, sagte Giyasettin Sayan (PDS). Rot-Rot habe der interkulturellen Kulturarbeit zwar einen großen Stellenwert gegeben. Doch "ohne die Förderung dieser Kulturen wird es auch keine befriedigende Integration geben", warnte er.

Natürlich mangelt es am Geld: Gerade mal 343.000 Euro stellt das Land den Multikulti-Gruppen derzeit zur Verfügung. Anfang der 90er-Jahre waren es noch 1,5 Millionen Mark. Bei der Projektförderung werden die Gruppen nicht ausreichend berücksichtigt. Zudem besteht ein Ungleichgewicht bei der Verteilung von Geldern. Über 60 Prozent der Mittel fließen in das Kulturprojekt Tiyatrom, wie die Kulturarbeiterin Sevim Türkoglen anmerkte, 80 andere Antragsteller müssen sich den Rest teilen. Flierl will das nun ändern, indem er den Beirat im Tiyatrom umbesetzen möchte, um anderen "mehr Spielraum" zu geben.

Mehr Spielraum erhalten und damit mehr Öffentlichkeit erreichen, das ist das eigentliche Problem der Gruppen, wie die acht Vertreter gestern sagten. Abgesehen von den großen Events "bleiben wir geschlossene Gesellschaften", betonte die deutsch-mexikanische Schauspielerin Darinka Ezeta. Der kulturelle Showroom Berlin entspreche nicht dem einer "wirklichen Weltstadt" wie Paris oder New York mit offenen, nationenübergreifenden Konzepten.

Unterstützung erhielt Ezeta von dem afrikanischen Medienexperten Moctar Kamera. "Die Kultur liegt ausschließlich in den Händen von Nichtafrikanern", obwohl der Kontinent seit Jahren mit Musik- und Theateraufführungen "in Berlin präsent ist". Für Kamera ist neben der finanziell besseren Ausstatttung der Migrantenprojekte noch etwas anderes wichtig: nämlich die "Wahrnehmung einer großen Kultur", die dem Image einer Metropole zugute komme, sei es in Bezug auf Integration, das Zusammenleben oder den Wirtschaftsstandort Berlin.

Es war das erste Mal, dass Migranten im Abgeordnetenhaus die interkulturelle Arbeit und deren Perspektiven thematisierten: Für die Abgeordneten - bis auf einen - eine Lehrstunde "unverzichtbarer" Kultur (Flierl).

 

 

Mittwoch, 25. Juni 2003

Die Lautsprecher der rechten Gewalt

Erstmals muss sich eine Neonazi-Band als kriminelle Vereinigung vor Gericht verantworten – wegen rassistischer Botschaften in ihren Liedern

Sonnenbrille, das Basecap verkehrt herum über den Zopf gestülpt, silberne Ringe im Ohr und schwarze Bomberjacke. Ganz cool, ganz wichtig marschiert Michael R. durch das Berliner Kammergericht. Umringt von einigen Muskelpaketen mit kahl geschorenen Köpfen. Sie schirmen ihn ab. Wie einen Star. Wie ihren Star. Der 38-jährige Michael R. steht in dem Verdacht, Rädelsführer einer kriminellen Vereinigung gewesen zu sein. Als Sänger, Texter und Bandleader der rechtsextremen Rockgruppe „Landser“. Seit gestern sitzen R., der 35-jährige Bassist André M. und der 27-jährige Schlagzeuger Christian W. auf der Anklagebank. Schweigend, denn die Aussage verweigerten sie.

Die Bundesanwaltschaft betrat mit dem Verfahren juristisches Neuland. Erstmals hat sie eine Skinhead-Band als kriminelle Vereinigung angeklagt. „Es liegt ja nicht auf der Hand, eine Musikkapelle als kriminelle Vereinigung zu begreifen“, sagte Bundesanwalt Wolfgang Siegmund am Rande des Prozesses. Bei „Landser“ sei die Musik aber nur ein Transportmittel gewesen. „Um rechtsradikale Botschaften in die Jugendszene zu bringen.“ Die Band habe es aufgrund eines hohen Organisationsaufwandes und mit einem großen Maß an Konspiration geschafft, fast zehn Jahre lang solche Musik herzustellen. „Das spricht dafür, dass es sich um eine kriminelle Vereinigung handelte“, sagte der Bundesanwalt. Sollte das Gericht dieser Auffassung folgen, drohen den rechten Musikern Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren.

Gemeinsames Motiv der Mitglieder der 1992 gegründeten Band war es laut Anklage, den Soundtrack für eine „arische Revolution“ zu liefern. In den Texten werde zu Hass, Massenmord und Gewalt gegen Türken, Afrikaner, Juden, Sinti und Roma, Linke, die Bundesregierung und zum Mord an prominenten Nazi-Gegnern wie Michel Friedman aufgefordert. Der Papst werde beleidigt, führende Politiker als „Bande von fettgefressenen Ratten“ verunglimpft. Neben Bildung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung wird den drei Angeklagten Volksverhetzung, Verunglimpfung des Staates und das Verbreiten verfassungswidriger Propaganda vorgeworfen.

„Heimlichkeit, Konspiration und Abschottung nach außen verbanden die Angeschuldigten zu einer verschworenen Gemeinschaft“, heißt es in der Anklageschrift. Ab 1993 soll „Landser“ in den Untergrund abgetaucht sein. Ihre CDs mit Hetzparolen im Stil der NS-Propaganda wurden im Ausland hergestellt, über Mittelsmänner nach Deutschland eingeführt und über „Vertraute“ in der rechten Szene verkauft. Angeblich mit Gewinn. „Landser“ soll beispielsweise für die CD „Republik der Strolche“ Mitte der 90er Jahre 34 000 Mark kassiert haben.

Im Herbst 2001 schlug die Polizei nach monatelangen Ermittlungen zu. Weil Skinhead-Musik als ein Wegbereiter für rechte Gewalttaten gilt. Aber eine Musikgruppe als kriminelle Vereinigung? „Das ist ist rechtlich heiß umstritten, und ich halte es für nicht nachweisbar“, sagte der Verteidiger von R. Als Zeuge wird möglicherweise auch ein früherer Informant des Bundesamtes für Verfassungsschutz aussagen. Der V-Mann Mirko H. hatte sich am Vertrieb einer CD der rechten Kultgruppe beteiligt und ist in Sachsen bereits zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt worden. Der Prozess vor dem Kammergericht wird voraussichtlich bis Ende August dauern. Kerstin Gehrke

 

 

 

Samstag, 28. Juni 2003

Berliner Straßengangs - jung, brutal, weiblich

Mädchenbanden verüben knapp zehn Prozent aller Gewaltdelikte wie Körperverletzung und Raub - Anstieg im vergangenen Jahr

Von Dirk Banse und Hans H. Nibbrig

Die Frankfurter Allee in Lichtenberg gestern gegen 1 Uhr: Drei junge Frauen nähern sich einer 16-Jährigen, die gerade ihr Fahrrad schiebt, stoßen sie ins Gebüsch und versuchen, ihr die Handtasche zu entreißen. Als sich die Jugendliche wehrt, wird sie von den brutalen Täterinnen gewürgt. Mit der Beute flüchten die drei jungen Frauen in Richtung Buchbergstraße.

Nachdem das Opfer einen Passanten gebeten hat, die Polizei zu alarmieren, verfolgt eine Zivilstreife das räuberische Trio. Während zwei 17- und 18-Jährige festgenommen werden können, kann die dritte Täterin flüchten.

Dass junge Frauen kriminell werden, ist keine Seltenheit. So genannte Mädchenbanden beschäftigen die Berliner Polizei immer mehr. Ihr Anteil an Gewaltdelikten wie Raub oder Körperverletzung ist, wie die aktuelle Kriminalstatistik ausweist, im vergangenen Jahr erstmals wieder gestiegen. Er liegt bei knapp zehn Prozent.

Eine Zunahme der Gewaltbereitschaft bei Mädchen und jungen Frauen registriert auch die Zentralstelle für Jugendsachen beim Landeskriminalamt. "Der Anteil weiblicher Täter an Gewaltdelikten ist zwar verglichen mit dem Anteil in anderen Kriminalitätsbereichen immer noch relativ gering. Aber im Einzelfall gehen Mädchen aggressiver und mitunter auch brutaler vor als männliche Täter", berichtet Christina Burck, Leiterin der Zentralstelle.

Das mussten vor allem die Opfer einer fünfköpfigen Gruppe 13- bis 15-jähriger Mädchen erfahren, die bis zu ihrer Festnahme vor einigen Wochen regelmäßig in der Innenstadt auf Beutezug gingen und dabei vor allem Schüler und Kinder beraubten. Der Spruch "Willst du was auf die Fresse?", wenn die Opfer sich nicht schnell genug von Bargeld und Wertsachen trennten, ging den rabiaten "Damen" genauso problemlos über die Lippen wie ihren männlichen Altersgenossen.

Ein am Potsdamer Platz verübter, besonders brutaler Raubüberfall der fünf türkisch-stämmigen Mädchen auf vier Schülerinnen aus Hamburg motivierte Medien im gesamten Bundesgebiet zu ausführlichen Berichten über die "Mädchen-Gangs" von Berlin.

Ein Begriff, der bei der Polizei wenig Anklang findet. Christina Burck: "Straßengangs im klassischen Wortsinn, also straff organisierte, streng abgeschottete Gruppierungen, gibt es in Berlin inzwischen nicht mehr. Wir haben es eher mit losen Gruppen zu tun, die sich zu zweit, dritt oder viert treffen und dann, mitunter auch ganz spontan, Straftaten begehen." Allerdings, so räumt die Kriminalhauptkommissarin ein, "heißt das keineswegs, dass die ungefährlicher sind".

 

 

Samstag, 28. Juni 2003

"Miteinander muss wachsen"

Trebbin feiert ein "Fest der Begegnung". Nichts Besonderes - hätten hier nicht Neonazis italienische Arbeiter fast totgeprügelt. Das war 1996. Ob Rechtsextremismus heute noch ein Problem ist, darüber herrscht keine Einigkeit

Frau Nguien und ihr Mann verkaufen Kartoffeln und Möhren, Hemden und Strümpfe im Obst-und-Gemüse-Laden an der Hauptverkehrsstraße in Trebbin genau gegenüber vom Marktplatz. Trebbin ist ein kleines Städtchen 30 km südlich von Berlin mit holprigen Straßen, Häusern, kaum höher als zwei Stockwerke, mit 7.000 Einwohnern und einer Ausländerrate von unter einem Prozent. Familie Nguien ist eine von drei vietnamesischen Familien hier. "Trebbin sehr, sehr, sehr schön", sagt Herr Nguien und nickt, "die Leute gut mit Ausländern."

"Det Zusammenleben is ganz jut hier, kann man nich meckern", sagt ein älterer Mann im Laden, der passend bezahlt. An die Schlägerei von 1996 erinnert er sich: "Ach, det hat sich lange erledigt." Familie Nguien zog erst im vergangenen Jahr her, die Schlägerei, die Trebbin über Brandenburgs Grenzen hinaus bekannt machte, kennen sie nicht. Damals prügelten Neonazis italienische Bauarbeiter nieder und verletzten sie schwer. Die beiden Haupttäter wurden 1998 verurteilt und sitzen die nächsten Jahre in Haft. Einer von ihnen hat sich von der Szene abgewandt und Namen genannt. Vor knapp zwei Jahren wurde das Verfahren wieder aufgerollt und gegen die Verdächtigen Anklagen erhoben. Seitdem wird die Stadt mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Auch deshalb soll es heute ein "Fest der Begegnung" geben. Anlässlich eines Partnerstädtetreffens will man für ein friedliches Miteinander werben.

Familie Nguien wird sich daran nicht beteiligen. Ob sie einen China-Imbiss machen wollen, habe eine Frau vom Ordnungsamt gefragt. Geht nicht, erzählt Herr Nguien, er habe keine Ware dafür. Schließlich ist Herr Nguien Gemüsehändler und kein Imbissverkäufer. Außer einer Thailänderin werden auf dem Fest keine Migranten mit einem eigenen Stand vertreten sein. Karin Kroll, in der Stadtverwaltung zuständig für Ordnung, Kultur und Hauptorganisatorin des Festes, sagt, man habe sich bemüht: "Leider hat keiner der ausländischen Mitbürger seine Bereitschaft erklärt, da mitzumachen. Sie meinten, der Umfang sei zu groß. Außerdem müssen sie ja auch in Vorkasse gehen. Damit waren sie wohl überfordert."

Memet K. dagegen behauptet, zu spät davon erfahren zu haben. Aber eigentlich sei es ihm egal, ob er beim Fest dabei ist oder nicht. Von seinem Dönerimbiss zeigt er schräg hinüber zum Ratskeller: Früher sei er da mal hingegangen, jetzt nicht mehr. Er habe gehört und das sei Stadtgespräch: Glatzen sollen dort ein und aus gehen.

Weil man hier noch so richtig anpacken könne, zog Thomas Berger, CDU, vor vielen Jahren aus dem Rheinland in den Osten. "Im Ratskeller sitzt eine Klientel, die mal unangenehm aufgefallen war, genauso wie renommierte Trebbiner", verteidigt der junge Bürgermeister das Ansehen seiner Stadt. Da träfen sich Rechtsradikale, will er so nicht sagen, weil er gegen Vorverurteilung ist. Bis jetzt seien im Ratskeller, der seit eineinhalb Monaten neu verpachtet ist, keine verfassungswidrigen Aktivitäten beobachtet worden. Dennoch gibt der Bürgermeister zu: "Wir haben Probleme mit Rechtsradikalismus, allein die Lösung ist nicht deutlich." Thomas Berger plädiert für Integration, mit Ausgrenzen komme man nicht weiter. Seine Argumente sind: Perspektiven und Glaubwürdigkeit bieten.

Über die Glaubwürdigkeit von angeblichen Aussteigern und wie ernst das rechtsradikale Problem in der Stadt sei, darüber zerstritt sich die Bürgerinitiative "Trebbin miteinander", die der Bürgermeister vor fast zwei Jahren gründete. Von etwa 40 seien 10 Aktive übrig geblieben, sagt Nina Schmitz. Mit Bergers Position ist sie nicht einverstanden: "Sosehr der Bürgermeister auch gegen rechts ist und Aussteigern helfen will, das glaube ich ihm, aber ich sehe nicht, dass sie Aussteiger sind. Wie soll man ihnen glauben können, wenn sie nichts zugeben oder bereuen." Zu dieser verfahrenen Situation könne man keine gute Miene machen und erst recht kein gutes Multikulti-Fest feiern.

Nina Schmitz wohnt außerhalb des Stadtzentrums hinter einem Weizenfeld in den Räumen einer alten Kneipe. Als sie die vor drei Jahren kaufte und nicht eröffnete, habe man ihr das in dem Vorort übel genommen, sagt sie. Auf dem Tisch im Hof steht ein bunter Strauß Feldblumen - die Mittvierzigerin möchte ein schönes Leben und nicht ihre vier Kinder verstecken müssen, die nicht von deutschen Männern sind. In der Kleinstadt gilt die in Westberlin geborene Schmitz als jemand, der sich einmischt. Frau Schmitz sagt: "Es gibt hier nun mal ein massives rechtsextremes Problem, da kann man doch nicht dran vorbeigucken."

Zusehen, was im Ort passiert, will auch Melanie Höse nicht. Sie leitet den städtischen Jugendclub, engagiert sich bei "Trebbin miteinander", beobachtet intensiv die Verhandlungen um die Schlägerei und will die Wahrheit wissen. Trebbin habe lange geschlafen, es sei Zeit, die Trebbiner würden nicht übereinander, sondern miteinander reden. Ein Fest der Begegnung könne es irgendwann mal geben, sagt Frau Höse, dieses Jahr sei es zu früh: "Es sei denn, man will nur etwas abrechnen, aber dann hat man sich nur wieder in die eigene Tasche geschwindelt. So was muss wachsen."" ASTRID SCHNEIDER

 

 

Montag, 30. Juni 2003

Warum Anne Frank für Jugendliche so wichtig ist

Von Johanna Kroll (21)

Die Diskriminierung und Verfolgung von Juden im Nationalsozialismus hatte viele Gesichter. Auch das Schicksal des jüdischen Mädchens Anne Frank gehört dazu. Anne musste sich mit ihrer Familie von 1942 bis 1944 in einem engen Hinterhaus in Amsterdam vor den Nationalsozialisten verstecken. Sie schrieb in dieser Zeit ein Tagebuch über ihr Leben, ihre Gefühle und Gedanken. Sie wollte Schriftstellerin werden.

Die Geschichte des Mädchens ist im Anne Frank Zentrum an der Rosenthaler Straße 39 am Hackeschen Markt sehr anschaulich dokumentiert worden. Das Besondere: Die Ausstellung wird von Jugendlichen mit betreut und richtet sich an Gleichaltrige.

Die Ausstellung schildert chronologisch auf übersichtlichen Schautafeln die Veränderungen in Annes Leben parallel zu den historischen Ereignissen. "Ziel ist, mit den Jugendlichen aktiv ins Gespräch zu kommen und ein schwieriges Geschichtskapitel mit neuen Medien greifbarer zu machen", erklärt Thomas Heppener, der Vorstandsvorsitzende des Zentrums. So kann man am Computer alle Informationen über Anne Frank sehen, hören und lesen. Schüler und Studenten arbeiten hier ehrenamtlich und beantworten Fragen zum Thema Nationalsozialismus, die insbesondere viele junge Besucher beschäftigen.

Anne Frank stammt aus einer liberalen jüdischen Familie und wächst zusammen mit ihrer Schwester Margot in Frankfurt am Main auf. 1933 sieht sich die Familie jedoch gezwungen, nach Amsterdam auszuwandern, wo Annes Vater in einem Unternehmen arbeiten kann. Als das Leben schließlich auch in den Niederlanden zu gefährlich wird, versteckt sich Familie Frank im Hinterhaus jenes Unternehmens.

Doch durch einen bis heute nicht aufgeklärten Verrat wird das Versteck entdeckt und die Familie in die Konzentrationslager Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen deportiert. Nur Annes Vater überlebt die schrecklichen Zustände im Lager. Nach dem Krieg lässt er Annes Tagebuch veröffentlichen.

Annes Geschichte birgt auch viele Parallelen zur Gegenwart. Sie zeigt, wohin Antisemitismus oder die Diskriminierung von Minderheiten allgemein führen können.

Deshalb ist es wichtig, über die Verfolgung von Juden im Nationalsozialismus ausreichend aufgeklärt zu sein. Das Zentrum bietet Schülergruppen Führungen durch die Ausstellung sowie durch das Museum "Blindenwerkstatt Otto Weidt" auf demselben Gelände. Dieses befasst sich mit den blinden und gehörlosen Juden, die zur Zeit des Nationalsozialismus von Otto Weidt couragiert geschützt wurden.

Das Anne Frank Zentrum ist ein multikultureller Anziehungspunkt für Schüler, ältere Menschen, Deutsche, Menschen aus Israel und Touristen. Das Zentrum ist Partnerorganisation des Anne Frank Hauses in Amsterdam.

Die Ausstellung

Info: Tel. 30 87 29 88, geöffnet: Di.-Fr., 10-18 Uhr. Eintritt: 3, erm. 1,50 Euro, www.annefrank.de