Hier finden Sie eine Auswahl unserer Redaktion
von Artikeln des täglichen Pressespiegels
Donnerstag, 3. Juli 2003
Berlins
Schulsenator Klaus Böger (SPD) plädiert im Kampf gegen die Gewalt an Schulen
für mehr Prävention.
Was kann die Politik gegen
Gewalt an Schulen tun?
Das Wichtigste ist, dass
in den Schulen nicht weggeschaut wird - von allen Beteiligten. Wir bieten Hilfe,
indem wir beispielsweise Schüler zu Konfliktlotsen ausbilden. Sie lernen, wie
man Konflikten Herr wird und welche verbindlichen Regeln man untereinander vereinbaren
kann. So aktivieren wir Schüler, selbst etwas zu tun.
Und weiter?
Ein Jugendlicher kann Gewalt
ja in der Schule ausüben oder in der Freizeit. In der Schule merkt das die Schulbehörde,
in der Freizeit die Polizei, das Jugendamt oder ein Jugendrichter. Diese Bereiche
müssen koordinierter zusammenarbeiten. Denn sonst begeht ein Jugendlicher etliche
Gewalttaten - und das Jugendamt weiß gar nichts davon. Wir dürfen im Labyrinth
der Großstadt nicht die Kontrolle und die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber gewalttätigen
Jugendlichen verlieren.
Tut die Politik genug gegen
die Gewalt an Schulen?
Prävention hat leider nicht
immer die nötige Aufmerksamkeit im politischen Raum.
Müssten die Lehrer besser
auf das Problem vorbereitet werden?
Manchmal sind sie sicher
überfordert. Gerade in den Hauptschulen könnten die Lehrer mehr Unterstützung
gebrauchen. Doch dazu fehlt mir das Geld.
Wird das Problem schlimmer?
Es wird eine dauernde Herausforderung
bleiben. Migrationsprozesse und soziale Verwerfungen hinterlassen Spuren. Wenn
dann noch Städte und Gemeinden riesige Finanznot leiden, wird das nicht einfacher.
Das Gespräch führte Andreas
Lesch.
Donnerstag, 3. Juli 2003
Andreas Lesch
BERLIN,
2. Juli. Die Abschlussfeier schien bestens organisiert zu sein. Viele Schüler
der Heinz-Brandt-Oberschule in Berlin-Weißensee halfen bei der Vorbereitung,
eine Klasse schmierte Brötchen. Die Zehntklässler, die die Schule verließen,
sollten schließlich einen schönen Abschied haben. Doch plötzlich eskalierte
die Situation: Schüler warfen die Brötchen durch den Raum. Ein Junge wurde getroffen,
nahm in der ersten Wut einen Stuhl und schleuderte ihn mit Wucht auf die Werfer.
Er traf sie nicht, doch der Stuhl zerbrach. "Fälle wie dieser sind bei
uns alltäglich", sagt die Leiterin der Schule, Karla Werkentin. Das gilt
auch anderswo: Gewalt an Schulen wird zu einem immer größeren Problem. Die Zahl
extrem schwieriger Schüler nimmt zu. Das ist das Ergebnis einer am Mittwoch
vorgestellten Studie der Universität Erlangen-Nürnberg im Auftrag des Bundeskriminalamtes
(BKA).
Drohen mit dem Messer
Zwei Drittel der 1 163 befragten
Siebt- und Achtklässler gaben an, in den vergangenen sechs Monaten mindestens
einmal einen Mitschüler geschlagen zu haben. 13 Prozent der Befragten hatten
in dieser Zeit Mitschüler bestohlen oder erpresst, acht Prozent drohten bereits
einmal mit Messer oder Pistole. Fünf Prozent der Schüler übten gar regelmäßig
körperliche oder psychische Gewalt gegen andere aus; sie schlugen, beschimpften
oder drangsalierten sie. Schulleiterin Werkentin berichtet sogar von einem Fall,
in dem Schüler einen Mitschüler in eine Mülltonne steckten; andere standen daneben
und schauten zu. Werkentin zeigte die Täter an. "In solchen Fällen",
sagt sie, "hilft dann auch keine Pädagogik mehr."
In den meisten Fällen -
das sagt Werkentin und das zeigt die Studie - ist Gewalt ein Jungenproblem.
Häufig wird sie auf dem Weg zur Schule ausgeübt, auf dem Pausenhof oder im Klassenzimmer,
wenn die Klasse unbeaufsichtigt ist. Typisch für die jungen Täter sind fehlende
menschliche Wärme in der Familie und eine zu lasche Erziehung ohne Vorgabe von
Regeln. Hinzu kommen oft ein unbefriedigendes Freizeitverhalten, der Missbrauch
von Alkohol und Nikotin, das Fehlen sozialer Kontakte und Probleme in der Schule.
Deshalb fordert der Psychologe Friedrich Lösel, Autor der Studie, Programme
zur Förderung der Erziehungskompetenz von Eltern und der sozialen Kompetenz
von Kindern, und zwar möglichst früh.
Besorgt reagierte der Verband
Bildung und Erziehung (VBE) auf die Zunahme der Gewalt in der Schule, gegen
Mitschüler und auch gegen Lehrer. Die Verrohung der Sprache von Kindern und
Jugendlichen zeige, dass die Hemmschwelle gegenüber Erwachsenen extrem niedrig
geworden sei, sagte der VBE-Bundesvorsitzende Ludwig Eckinger. "Wer die
Hemmschwelle im Verbalen verloren hat, ist hoch gefährdet, auch auf körperliche
Gewaltanwendung zu setzen." Eckinger sieht dabei einen klaren Zusammenhang
zwischen dem Konsum gewaltverherrlichender Filme und Computerspiele und den
Aggressionen in der Schule. Psychologe Lösel fordert aus diesem Grund, Kinder
und Jugendliche sollten möglichst rechtzeitig einen verantwortungsvollen Umgang
mit diesen Medien lernen.
In jedem Fall, so meint
der Autor der BKA-Studie, müsse das Problem der Gewalt an Schulen differenziert
betrachtet werden. So seien Mädchen zwar seltener Opfer, hätten aber deutlich
mehr Angst vor Gewalt als Jungen. Diese Erfahrung hat auch Schulleiterin Werkentin
gemacht. Sie glaubt, dass vielen Tätern schlicht das Selbstvertrauen fehlt.
"Wir müssen den Jugendlichen vermitteln: Leute, ihr seid etwas wert",
sagt sie. Eine Aufgabe, die Kraft und Nerven kostet. "Man muss eine Menge
wegstecken", sagt Werkentin. Jetzt, zum Beginn der Ferien, gehe sie "auf
dem Zahnfleisch". Doch sie sagt auch: "Man darf nie aufgeben."
Montag,
7. Juli 2003
Begegnungs-
und Aktionstag gegen Rechts
Vorbereitungen zum 14. September laufen
Zum 14. »Tag der Erinnerung, Mahnung
und Begegnung« am 14. September in Berlin laufen die Vorbereitungen. Bis Mitte
Juli sind bei einem Liedwettbewerb Bands, Chöre oder Einzelinterpreten aufgefordert,
Lieder aus den antifaschistischen Widerstand neu zu interpretieren oder eigene
zum Anliegen des Tages zu schreiben. Die besten werden am Tag der Erinnerung
präsentiert. An eine CD ist auch gedacht. Aus Plakatentwürfen zu einem weiteren
Wettbewerb wird eine Ausstellung zusammengestellt, die am Aktionstag von 13
bis 18 Uhr im Marx-Engels-Form gezeigt wird.
»Ein besonderer Schwerpunkt soll in diesem Jahr eine Bilanz der von der Bundesregierung
im Herbst 2000 nach dem ›Aufstand der Anständigen‹ aufgelegten Programme gegen
Rechts – Civitas, Entimon, Xenos, Bündnis für Demokratie und Toleranz – sein«,
meint Praktikantin Nicole Warmbold vom Vorbereitungskreis. »Wir wollen fragen,
welche Wirkungen diese Programme und einzelne Projekte bislang erzielten. Welche
Ansätze, Rassismus und Neofaschismus und seine Ursachen konsequent und langfristig
zu bekämpfen, werden gefördert, welche Gruppen werden ausgegrenzt?« Dabei erhofft
man sich regen Zuspruch von Berliner und auch Brandenburger Projekten, Initiativen
und Verbänden. »Ihre Aktivitäten sollen erlebbar, sehbar für alle sein – Filme,
kleine Theaterszenen, Präsentationen in künstlerisch-medialer Form, Podiumsgespräch
oder in einer gesonderten Themenecke – über Ideen und Anregungen freuen wir
uns.«
Immer mehr Menschen sind am Aktionstag beteiligt, die von der Bedeutung, der
Tradition und Geschichte des einstigen OdF-Tages wenig oder gar nichts wissen.
Daher wird derzeit eine Ausstellung zum Tag erarbeitet. Wie wurde mit der 1945
begründeten Tradition, jährlich im September der Millionen Opfer des Nationalsozialismus
zu gedenken, in der DDR und der BRD umgegangen, was hat sich seit 1990 geändert?
»Wir wagen den Spagat zwischen der Rückbesinnung auf den Anlass des Tages und
den neuen Darstellungsformen im Jahre 2003.«
»Wichtig sind uns auch die Gespräche mit Überlebenden der Konzentrationslager
und Teilnehmern am Widerstand und Verfolgten des Naziregimes an diesem Tag«,
meint Nicole Warmbold, die derzeit an ihrer Doktorarbeit zur »Lagersprache der
Häftlinge von Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald« schreibt. Vor allem in kleinen
Runden werden Mitglieder der Berliner Vereinigung der VdN für den Dialog mit
jungen Leuten zur Verfügung stehen.
1945 als »Tag der Opfer des Faschismus (OdF)« von Überlebenden der Zuchthäuser
und Konzentrationslager begründet, wird der zweite Sonntag im September seit
1990 als Aktionstag gegen Rassismus, Neonazismus und Krieg fortgeführt und seitdem
von über 500 Gruppen, Verbänden und Initiativen unterstützt. Nach dem Ende der
Nazi-Diktatur und der Befreiung der Konzentrationslager vereinte Millionen Menschen
der Gedenke „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“. Dieser Schwur der Überlebenden
von Buchenwald wurde vielen Menschen unterschiedlichster Überzeugung und Herkunft
Mahnung und Verpflichtung. Auch heute, 70 Jahre nach der Machtübertragung an
Hitler im Januar 1933, hat der Schwur nichts an Aktualität verloren.
Interessenten sind zu den Vorbereitungstreffen
am 15. 7. und am 19.8. 2003, 19 Uhr, in den Räumen der IG Metall, Alte Jacobstr.
149, 4. Stock, eingeladen.
Weitere Informationen: im Internet
www.tag-der-mahnung.de oder Tel.: 29784171/Fax:
29784179.
von HEIKE KLEFFNER
Auf 92 Seiten analysiert der "Lokale Aktionsplan Pankow - Für Demokratie und Toleranz" rechte Treffpunkte, Angriffe und so genannte Gefährdungspunkte für alle, die nicht ins rechtsextreme Weltbild passen. Außerdem schlägt er mögliche Gegenmaßnahmen des Bezirks Pankow und der örtlichen Zivilgesellschaft vor. Doch die Studie, die vom Zentrum Demokratische Kultur (ZDK) und dem Mobilen Beratungsteam gegen Rechts (MBR) im Auftrag der Landeskommission Berlin gegen Gewalt erstellt wurde, liegt sei Ende Mai auf Eis.
Der Entwurf des Aktionsplans sei "überarbeitungsbedürftig", sagt Bezirksbürgermeister Burkhard Kleinert (SPD). Dem Aktionsplan mangele es an "einer nötigen Ausgewogenheit" und "differenzierten Würdigung des Phänomens Rechtsextremismus". Öffentlich gelobt wird der Aktionsplan im Bezirk bislang lediglich von unabhängigen Initiativen und lokalen Antifagruppen.
In über einhundert Interviews mit Pädagogen, Bezirksamtsmitarbeitern, Betroffenen und der Polizei kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass in Pankow mindestens zehn Orte existieren, die von Migranten und alternativen Jugendlichen als "Gefährdungspunkte" beschrieben werden. Während der Bezirksbürgermeister bestätigt, dass rassistische Ressentiments durchaus verbreitet seien, spricht er gleichzeitig von einer "gefühlten Angst - wenn man genau nachfragt, dann ist das oft nicht mehr wirklich nachweisbar".
Laut Verfassungsschutzbericht wurden in Pankow im vergangenen Jahr 129 "politisch rechts motivierte Straftaten", darunter fünf Gewaltdelikte, registriert. Damit liegt Pankow bei der Summe der Delikte berlinweit an zweiter und bei Gewalttaten an vierter Stelle. Im Verfassungsschutzbericht heißt es dazu: Da die regionale Verteilung der Straftaten mit der Verteilung der Wohnorte des aktionsorientierten Rechtsextremismus korrespondiere, "liegt die Vermutung nahe, dass die Mehrzahl dieser Taten im Wohnumfeld der Täter begangenen wurde". Bürgermeister Kleinert sagt, nicht alle rechten Täter kämen aus dem Bezirk, und spricht von "durchreisenden Angreifern".
Angriffe auf so genannte politische Gegner registrierte das ZDK auch in Niederschönhausen, Rosenthal und Französisch Buchholz. Hier wurden im Frühjahr Jugendliche durch Sprühereien in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld als vermeintliche Antifaschisten "geoutet".
Während das ZDK die Stärkung einer nichtrechten Gegenkultur empfiehlt, regelmäßige Fortbildungen für Mitarbeiter von Jugendclubs sowie Vernetzungstreffen vorschlägt und mit der Vorstellung von Best-Practice-Beispielen an Pankower Schulen anderen Mut machen will, hält Bürgermeister Kleinert dagegen. Die Handlungsvorschläge seien "zu allgemein". Beim ZDK übt man sich angesichts der Kritik erst mal in Gelassenheit - und verweist darauf, dass ein ähnlicher Aktionsplan in Lichtenberg auf große Zustimmung aller lokalen Akteure gestoßen sei.
Dienstag, 8. Juli 2003
Bislang fand die Idee, durch "lokale Aktionspläne" denjenigen den Rücken zu stärken, die sich in ihren Bezirken gegen Rassismus und Rechtsextremismus engagieren, in Berlin Zustimmung. Schließlich mussten die Sicherheitsbehörden zu Jahresbeginn einräumen, was für alle, die nicht ins rechte Weltbild passen, zur Alltagserfahrung gehört: Fremdenfeindliche Straf- und Gewalttaten haben erheblich zugenommen.
Kommentar
von HEIKE KLEFFNER
Für das Modellprojekt der "lokalen Aktionspläne" hatte die Landeskommission "Berlin gegen Gewalt" zwei Bezirke ausgewählt: Lichtenberg und Pankow. In Lichtenberg folgen längst konkrete Schritte. Mieterversammlungen diskutieren über rechte Treffs in der Nachbarschaft. Eine "Netzwerkstelle" vermittelt Ratsuchenden kompetente Ansprechpartner.
In Pankow dagegen ziert man sich mit Argumenten, die man von kleinstädtischen Bürgermeistern aus Brandenburg gewohnt ist. Statt offensiv einzugestehen, dass die Präsenz rechtsextrem orientierter Jugendcliquen ein Problem und oftmals eine Überforderung darstellt, wird gemauert. Dabei sollte der Bezirk aus den Versäumnissen der Vergangenheit gelernt haben. Jahrelang konnte sich hier mit den "Vandalen" eine der militantesten Neonazigruppierungen Berlins im eigenen Clubhaus treffen. Und manchmal entfaltet dieses "Kameradschafts"-Umfeld tödliche Sogwirkung. Auch in Pankow, genauer: in Buch. Dort wurde am 25. Mai 2000 der Sozialhilfeempfänger Dieter Eich ermordet. Als Motiv nannten die Täter, die zuvor an Kameradschaftsabenden teilgenommen hatten, sie wollten "einen Assi klatschen".
Dienstag, 15. Juli 2003
Jens Blankennagel
POTSDAM.
Zwei Kollegen schnauzen sich an. Er ist berufserfahren, ordentlich, will Ruhe
im Büro. Sie dagegen ist jung, chaotisch, telefoniert ständig mit ihren Freundinnen.
Beide streiten darüber, ob sie sich weiterhin ein Büro teilen können. Neben
ihnen sitzt eine Frau, schreibt mit, stellt Fragen: "Was ist dein Problem?
Auf was könnt ihr euch einigen?"
Die drei Leute spielen den
Streit nur. Sie sitzen in einem Seminarraum der Fachhochschule Potsdam - es
sind keine Kollegen, es sind Lehrer, Polizisten und Sozialarbeiter bei einem
Rollenspiel. "Sie sollen lernen, wie sie als Unbeteiligte in eine Konfliktsituation
geraten, wie sie den Stress und den Ärger der anderen aushalten können, um dann
den Streit zu schlichten", sagt die Kursleiterin Kerstin Lück. Sie betreut
im zweiten Jahr ein bundesweit einmaliges Projekt unter dem Titel "Konfliktmanagement
in der Uckermark".
Dabei soll es aber - anders
als in dem Rollenspiel - nicht um den Streit im Büro gehen. Die zwanzig Kursteilnehmer
sollen helfen, die überdurchschnittlich hohe Jugendkriminalität in der Uckermark
langfristig und wirksam zu bekämpfen. Im Jahr 2000 waren dort 40,9 Prozent aller
Tatverdächtigen jünger als 21 Jahre - zehn Prozent mehr als im Landesdurchschnitt.
Im Jahr 2002 sank der Wert auf 38,5 Prozent. "Wir gehen davon aus, dass
die Partnerschaften zwischen Schulen und Polizei zu den rückläufigen Zahlen
beigetragen haben", sagt Hans-Jürgen Willuda vom Innenministerium. Das
Pilotprojekt werde von der Regierung sehr positiv gesehen.
Potzlow wäre nicht passiert
Dabei geht es nicht um Bestrafung
nach der Tat, sondern um das frühe Erkennen von Konflikten unter Jugendlichen,
die möglicherweise in einer Straftat enden könnten. "Wir wollen, dass die
drei Berufsgruppen, die in dem Landkreis viel mit Jugendlichen zu tun haben,
untereinander Netzwerke bilden", sagt Lück. Sie sollen effektiv kooperieren
und sich rechtzeitig anrufen. "Wenn Konflikte erkannt werden, bevor sie
eskalieren, kann meist Schlimmeres verhindert werden." Lück wagt einen
mutigen Vergleich: "Hätten diese drei Berufsgruppen in Potzlow besser zusammengearbeitet,
dann wäre es nicht so weit gekommen."
Sie meint damit den grausamen
Mord an dem 16-jährigen Marinus Schöberl, der von drei Jugendlichen umgebracht
wurde. Der Haupttäter war mit dem Opfer gut bekannt, sie gingen in den gleichen
Jugendclub - irgendjemand hätte etwas von Problemen mitbekommen müssen.
Dafür dürfen die Erwachsenen
die Probleme unter den Jugendlichen nicht ignorieren. Die Kursteilnehmer sagen
übereinstimmend, dass das Projekt ihnen bei der Arbeit hilft. "Konflikte
begleiten uns jeden Tag", sagt die Prenzlauer Sozialarbeiterin Brigitte
Pinnow, die in einem Asylbewerberheim arbeitet "Sie sind nicht mit einem
Schlag da. Wir dürfen sie nicht wegdrücken und hoffen, dass sie von allein verschwinden."
Sie habe sich schon bei vielen Streitigkeiten völlig hilflos gefühlt. Deshalb
lernen die Teilnehmer des einjährigen Kurses in 39 Tagesseminaren das Handwerk
des Mediators, des Streitschlichters. Sie sollen auf die streitenden Jugendlichen
zugehen, den schwelenden Konflikt offen ansprechen und dazu beitragen, ihn durch
sachliche Diskussionen zu entschärfen. Dabei dürfen sie nicht parteiisch sein,
müssen die kontroversen Meinungen beider Seiten akzeptieren und eine Eskalation
verhindern. Dazu dienen auch die Rollenspiele. "Wir müssen so lange üben,
bis wir die Techniken der Deeskalation so verinnerlicht haben, dass wir gar
nicht mehr überlegen müssen, wenn wir sie anwenden", sagt Kursteilnehmerin
Annette Flade.
Das 150 000 Euro teure Projekt
geht Anfang 2004 zu Ende. Es wird zu 64 Prozent vom europäischen Sozialfonds
der EU bezahlt. Den Rest steuern der Landespräventionsrat und das Bündnis für
Demokratie und Toleranz bei. "Das Projekt sollte in Brandenburg weitergeführt
und von anderen Ländern übernommen werden", sagt Kerstin Lück. Doch dann
nicht mit Vertretern der drei Berufsgruppen, die weit voneinander entfernt in
einem Kreis arbeiten. "Sondern je ein Lehrer, Polizist und Sozialarbeiter
aus einer Stadt", sagt sie. "Dann kann dieses Modell der schnellen
gegenseitigen Hilfe besser funktionieren."
Mittwoch, 16. Juli 2003
von SARAH HARTMANN
Ein wenig unheimlich wirken sie schon, wie sie da mit finsterem Blick an der Straßenecke stehen. Ihre wuchtigen Leiber flößen Respekt ein, und es scheint, als bewachten sie die Straße. Doch die Menschen im Neuköllner Reuterkiez haben sich längst an den Anblick der beiden vier Meter hohen Ochsenfrösche gewöhnt, die seit einigen Wochen an der Weser- Ecke Rütlistraße etwa 20 Meter vor dem Eingang des Jugendclubs "Manege" thronen. Nur wer zum ersten Mal hier vorbeikommt, bleibt noch mit offenem Mund stehen.
Wolfgang Janzer und Martha Janzer de Galvis sind gerade dabei, einem der beiden zwei Tonnen schweren Ungetüme eine letzte Schicht Glasfasern und Leim zu verpassen. Die beiden Künstler und zugleich Leiter des Jugendclubs sind hier mindestens so bekannt wie ihre Ochsenfrösche. Ein Jugendlicher winkt ihnen im Vorbeigehen zu, Deutsche und Türken sowie ein paar Punks mit Schottenrock und Nietengürteln bleiben einen Augenblick stehen, um die Fortschritte zu begutachten und ein Schwätzchen zu halten: "Na, Martha, wieder am Arbeiten?", lautet ihr Kommentar.
Die riesigen Skulpturen sind ein sichtbarer Schritt in der Umsetzung des Projektes, dass Ende letzten Jahres angelaufen ist. Hier im Neuköllner Nordosten entsteht die bisher einzige Jugendstraße Deutschlands. In das Grau aus Gewerbehöfen, Schulen, tristen Wohnbauten und einer leer stehenden Villa ist Farbe eingezogen. 170.000 Euro hat die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung im Rahmen des Programms "Soziale Stadt" in die Aufwertung des Quartiers gesteckt. In den nächsten Wochen soll die Rütlistraße endgültig für den Autoverkehr gesperrt werden, dann wird ein Straßencafé eröffnet.
Dabei geht es den Initiatoren vom Verein "Fusion e. V." mit Vorstand Janzer vor allem darum, Berührungsängste zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen, die hier leben, abzubauen und damit die nachbarschaftliche Kommunikation im "sozialen Brennpunkt" um den Reuterplatz - wo Kinder schon als Sozialhilfeempfänger aufwachsen - zu verbessern.
Die Schüler der beiden nahen Schulen wurden in die Verwirklichung der Jugendstraße ebenso einbezogen wie der Jugendclub, die Kita und die Kleingärtner der benachbarten Schrebergartenkolonie. In mehreren Bürgerversammlungen wurden Anwohner mit der Initiative bekannt gemacht. "Überwiegend wurde die Idee positiv aufgenommen", sagt Wolfgang Janzer, aber es habe auch Skepsis und Ängste von Seiten der Anwohner gegeben. Einige befürchten noch immer, die Straße könnte zum Treffpunkt für Krawallmacher werden und auch die Drogenszene vom Hermannplatz anziehen.
Allerdings zeigt die amtliche Statistik, dass die Anzahl der Polizeieinsätze in der Straße abgenommen hat, seit "Fusion e. V." das Jugendzentrum betreibt. "Früher war es ganz schlimm hier", erzählt ein Nachbar, "da musste man nachts einen großen Bogen um die Straße machen. Jetzt ist es viel ruhiger."
Auch bei den Integrationsbemühungen kann das Projekt erste Erfolge verzeichnen. Walter Witzel, Hauswart in der benachbarten Tellstraße, ist früher schon mal mit Jugendlichen aus der Nachbarschaft aneinander geraten. Doch als er von dem Projekt erfuhr, war er angetan von der Idee und begann, sich an der Planung zu beteiligen. Mittlerweile spricht er nur noch von "wir", wenn es um die Jugendstraße geht.
Als Wolfgang und Martha Janzer 1999 den Verein gründeten und begannen, zusammen mit den Jugendlichen die Fassade des Klubhauses zu renovieren und mit bunten Masken und Figuren zu schmücken, war Witzel noch skeptisch. "Kinders, hab ich gesagt, det wird doch nie was. Keine acht Tage, dann ist das Ding beschmiert und alles kaputt." Doch er hatte sich geirrt. Bis heute ist die Fassade nicht angetastet worden. Witzel und Janzer sind sich einig: "Was sie selbst geschaffen haben, das machen die Kids nicht kaputt. Da sind sie schließlich stolz drauf."
Nach demselben Prinzip soll auch die Jugendstraße funktionieren. Ein Straßencafé soll es geben, das Jugendliche ganz selbstständig betreiben, und eine Bühne für Veranstaltungen. Schließlich will man die leer stehende Villa am Ende der Straße in ein Jugendhotel umbauen.
Als es darum ging, wie das Eingangsportal für die Jugendstraße gestaltet werden soll, erzählte Wolfgang Janzer den Kids von einer Fernsehreportage über Ochsenfrösche. "Das ist eine knallharte Tierart. Sie vermehren sich schnell, sind aggressiv und machen alles platt." Die Kids waren begeistert von den fiesen "Gangsta-Fröschen" und so wurden sie als Bewacher der Jugendstraße auserkoren. Und bisher hat es keiner gewagt, ihnen auch nur ein Haar zu krümmen.
Freitag, 18. Juli 2003
Die Berliner Staatsanwaltschaft hat gegen den Rechtsanwalt und ehemaligen NPD-Funktionär Horst Mahler Anklage wegen Volksverhetzung erhoben. Dies teilte Justizsprecher Björn Retzlaff gestern mit. Die Anklagebehörde wirft dem 67-Jährigen vor, auf einer NPD-Veranstaltung am 2. September vergangenen Jahres an Journalisten einen 400 Seiten umfassenden Schriftsatz verteilt zu haben. Das von Mahler verfasste Schriftstück war im Zusammenhang mit dem gegen die NPD angestrengten Parteiverbotsverfahren an das Bundesverfassungsgericht gerichtet und soll zahlreiche volksverhetzende, insbesondere antisemitische Passagen enthalten.
In dem Schriftsatz, der der Berliner Morgenpost in Auszügen vorliegt, stellt Mahler unter anderem die Behauptung auf, das Verbotsverfahren gegen die NPD sei im Wesentlichen auf Druck "jüdischer Kreise" zustande gekommen.
Der Anwalt, der früher zum Umfeld der terroristischen RAF gehörte, wandte sich in den 90er-Jahren der NPD zu und erregt seither durch ständige heftige Attacken gegen Vertreter der in Deutschland lebenden Juden Aufsehen. Gegen ihn laufen bereits mehrere Verfahren wegen Volksverhetzung.
Montag, 21. Juli 2003
Franziska Frohn
Der
Jahresbericht 2002 "Rechtsextremismus im Internet", der von jugendschutz.net
durchgeführt wurde, ergab, dass der Anteil rechtsextremer Internetseiten im
Web ansteigt und dass sie eine immer größere Bedrohung darstellen. Fanden sich
im Jahr 1999 noch 330 Homepages mit rechtsextremen Inhalten, stieg im Jahr 2002
die Zahl der Seiten auf fast 1 000 an, so die Untersuchung, die vor kurzem vorgestellt
wurde. "Die Ergebnisse sind Besorgnis erregend: Websites mit rechtsextremen
Inhalten werden attraktiver und professioneller", sagt die für Jugend zuständige
Ministerin Renate Schmidt.
Besonders
für Jugendliche sind solche Pages gefährlich, da die Betreiber bewusst die Zukunftsängste
junger Menschen aufgreifen. Häufig beziehen die Internetseiten aktuelle Themen
wie den Irak-Krieg oder das Jahrhunderthochwasser 2002 mit ein und versehen
diese mit einfach gestrickten Lösungsmodellen, deren Basis rechtsextreme Grundgedanken
sind. Schließlich wird dazu aufgerufen, sich diversen Organisationen anzuschließen.
Doch
damit ist das Spektrum rechtsextremer Internetseiten noch nicht erfasst. Häufig
werden die Homepages von der Szene als Forum genutzt, um lokale Aktivitäten
zu planen und "Nachwuchs zu rekrutieren". Wenn Schüler zum Thema "Nationalsozialismus"
Hausaufgabenrecherchen durchführen, ist es nicht selten der Fall, dass sie auf
rechtsextreme Seiten gelangen, die "geschichtsverfälschende Informationen
mit pseudowissenschaftlichem Anstrich" vermitteln, so die Studie. Rassistische
und antisemitische Tendenzen sind oftmals für Jugendliche kaum als solche zu
erkennen und von Tatsachen schwer zu unterscheiden.
Nachdem
die Studie diese Erkenntnisse zu Tage brachte, wäre es fahrlässig gewesen, den
Neonazis die Plattform im Web nicht zu entziehen. Durch das Projekt von jugendschutz.net
wurden im vergangenen Jahr 784 Internetadressen neu entdeckt, davon waren 354
mit strafbaren Inhalten gespickt. 173 Sites wurden sofort gesperrt. Zudem wurde
im September 2002 ein internationaler Verbund gegen Rassismus im Netz gegründet.
Nun soll versucht werden, auch bisher unangreifbare "Nazi-Portale"
im Ausland unschädlich zu machen.
Der
Verfassungsschutz stuft als extremistisch Bestrebungen ein, die gegen die freiheitliche
demokratische Grundordnung gerichtet sind. Deren Kennzeichen sind: Einhaltung
der Menschenrechte, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der
Regierung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte,
das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit der Parteien.
Die
Studie "Rechtsextremismus im Internet" erhält man auf der Seite der
Bundeszentrale für politische Bildung.
Im
Internet unter:
www.bpb.de/publikationen/JM5GRN.html
Mittwoch, 23. Juli 2003
von HEIKE KLEFFNER
Das Publikum im Saal 145 des Kammergerichts hat sich herausgeputzt. "Odins Krieger" hat sich eine Jungglatze in den Nacken tätowieren lassen. "Hate keeps me warm", lautet die Botschaft, die ein Kahlgeschorener auf seinem T-Shirt an der Sicherheitsschleuse vorbeiträgt. Im Flur macht er Platz für eine knappes Dutzend Männer Mitte dreißig. Sie tragen ihre massigen Bierbäuche wie Trophäen vor sich her und schieben breitbeinig germanische Mythengestalten auf Schienbeintattoos durch die Halle des Kammergerichts. Jeden Dienstag und Mittwoch halten sie hier Hof, Berlins älteste Neonazigruppierung, die "Vandalen".
In ihrer Mitte: Michael R., ein schmächtiger Enddreißiger im blau-weiß karierten Holzfällerhemd. Ein knappes Jahrzehnt lang soll der Mann mit dem Spitznamen "Luni" - eine Abkürzung für die russische Wodkamarke "Lunikoff" - den Takt vorgegeben haben in Deutschlands bekanntester Neonaziband namens Landser. Nun steht R. nicht mehr vermummt auf improvisierten Bühnen in Jugendclubs, sondern sitzt stumm mit seinen beiden mutmaßlichen Mitspielern auf der Anklagebank im Kammergericht.
Die Bundesanwaltschaft wirft Michael R. vor, als mutmaßlicher Sänger von Landser "Rädelsführer" in einer kriminellen Vereinigung gewesen zu sein. Sein ehemaliger Freund André M., der mit Vorliebe in schwarzem Anzug und schwarzem Hemd erscheint, soll dabei die Bassgitarre gespielt haben. Auch der jüngste des Trios, der 27-jährige mutmaßliche Schlagzeuger von Landser, gibt sich mit Hemd und Markenjeans trotz kahl rasiertem Kopf bürgerlich: Als Polizeibeamte der Sondereinheit "Politisch motivierte Straßengewalt" (PMS) von der biederen Ordnung in seiner Wohnung und den Kinderfotos mit Landser-T-Shirts berichten, knetet Christian W. nervös einen Stoffteddy mit roten Herzen. Weil W. nach seiner Festnahme im Herbst 2001 umfangreiche Aussagen zu seinen Aktivitäten bei Landser machte, wird er von den Zuschauerbänken mit "Verräter"-Rufen empfangen.
Im Publikum steigt die Stimmung immer dann, wenn der Vorsitzende Richter Wolfgang Weißbrodt die CDs abspielen lässt. Fünf CDs hat Landser seit 1993 auf den Markt gebracht, keine einzige davon kann legal im Plattenladen gekauft werden. Trotzdem schätzen Szenekenner, dass derzeit in Deutschland rund 100.000 Landser-CDs mit Titeln wie "Republik der Strolche", "Rock gegen oben" und "Ran an den Feind" im Umlauf sind. Die meisten werden schwarz gebrannt und unter der Hand auf Schulhöfen oder in Jugendclubs weitergegeben. Für Originale verlangten die Zwischenhändler der Band bis zu 30 DM; heute zahlen "Liebhaber" Stückpreise ab 50 Euro. Mehrere 10.000 Mark sollen die Bandmitglieder selbst kassiert haben.
Landser, so die Bundesanwaltschaft in ihrer Anklage, mit der erstmals in Deutschland einer rechtsextremen Band der Vorwurf "kriminelle Vereinigung" gemacht wird, habe mit ihrer Musik vor allem ein Ziel verfolgt: massenhaft rechtsextreme Ideologie an jugendliche Konsumenten zu bringen. Dafür habe die Band bewusst gegen Strafgesetze verstoßen.
Um diesen Vorwurf zu untermauern, lässt die Bundesanwaltschaft die zehnjährige Geschichte der Band Revue passieren. Puzzlestück um Puzzelstück fügen sich die Aussagen von Gründungsmitgliedern und Zeugen zu einem Bild zusammen, das vor allem den Sicherheitsbehörden und "akzeptierenden Sozialarbeitern" ein schlechtes Zeugnis ausstellen.
Glaubt man Landser-Gründungsmitglied Sören B., begann die Karriere der Band im ehemaligen "Judith-Auer-Club" in Lichtenberg, wo ein Sozialarbeiter sein Schlagzeug zur Verfügung stellte. Es sind die Jahre 1992 und 1993: In Rostock-Lichtenhagen wird ein Heim vietnamesischer Vertragsarbeiter unter dem Beifall von tausenden Zuschauern von militanten Neonazis und Jungskins in Brand gesetzt. Türkische Migranten sterben in Mölln und Solingen bei Brandanschlägen. Und Landser verbreitet auf einem Demotape Lieder wie "Berlin bleibt deutsch" und "Schlagt sie tot".
Im November 1992 zeigt diese Aufforderung Wirkung: Der Hausbesetzer Silvio Meier wird im U-Bahnhof Samariterstraße von Naziskins erstochen. Im Zeugenstand sagt der ehemalige Landser-Produzent Jens O., Anfang der 90er-Jahre selbst Mitglied der verbotenen Nationalistischen Front (NF): "Nationalismus gab es damals überall. Überall wurden Deutschlandfahnen gezeigt." Dass Landser, die sich selbst gerne als "Terroristen mit E-Gitarre" bezeichneten, in ihren Liedern über hilflose Polizisten und Politiker spotteten und zum "Totschlagen" von Afrikanern, Türken und Juden aufriefen und damit Karriere machten, habe vor allem an ihrem "konspirativen Image" und an ihrer eingängigen Tanzmusik gelegen, findet ein anderer Zeuge. Und offenbar auch an den Strafverfolgern, die jahrelang nur mit Nadelstichen gegen die Band vorgingen, obwohl deren Besetzung in der rechten Szene ein offenes Geheimnis war. Mal wurde ein Bandmitglied bei der Einfuhr von Landser-CDs aus dem Ausland festgenommen und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, mal wurde - erfolglos - nach CD-Covern gesucht.
Dabei traf sich die Band unter dem Codewort "Frühschoppen" immer sonntags zum Proben im Berliner Umland und bediente sich eines Netzwerks aus polizeibekannten Neonazis, um die CDs an die Kundschaft zu bringen.
Erst nachdem die Bundesanwaltschaft 1999 auf die Band aufmerksam wurde, weil Rechtsextremisten beim Überfall auf zwei Vietnamesen in Eggesin das Landser-Lied "Fidschi, Fidschi, gute Reise" sangen, verschärfte sich die Gangart. Ein Jahr lang überwachten die Fahnder nun Telefone und observierten die Bandmitglieder.
Die Botschaft der Musik, die schon Jahre zuvor von antifaschistischen Publikationen als "Begleitmusik zu Mord und Totschlag" bezeichnet worden war, hatte sich da längst verselbstständigt. Der Landser-Song "Afrika-Lied" lief in den Autos der Rechten, die in Guben den algerischen Flüchtling Farid Gouendul in den Tod trieben, und im Walkman des Angreifers, der in Dessau den Mosambikaner Alberto Adriano erschlug.
Zu der Frage, ob der Prozess Einfluss auf die weitere Entwicklung der neonazistischen Musikszene haben wird, will man sich beim LKA in Berlin derzeit nicht äußern. In der Szene wird Michael R. als Märtyrer gefeiert. Bundesweit stieg die Zahl neonazistischer Konzerte im vergangenen Jahr wieder auf über einhundert an, mit teilweise über 1.000 Zuschauern. Keinen Rückgang gibt es auch bei der Zahl der Bands, die versuchen, die Nachfolge von Landser anzutreten, oder bei den einschlägigen "Rechts-Rock"-Versandquellen.
Ob die Angeklagten am Ende tatsächlich wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung oder lediglich wegen Volksverhetzung, Aufstachelung zum Rassenhass und Verherrlichung des Nationalsozialismus verurteilt werden, ist derzeit nicht absehbar. Ein Urteil wird frühestens Ende August erwartet.
Donnerstag, 24. Juli 2003
von HEIKE KLEFFNER
Schwere Vorwürfe gegen die deutschen Behörden erhebt der Rechtsanwalt des togolesischen Oppositionellen Orabi Mamavi, der im Dezember 2002 im brandenburgischen Rathenow Opfer eines rassistischen Angriffs wurde und von der Ausländerbehörde des Landeskreises Havelland abgeschoben werden soll.
Die deutschen Behörden haben den Parteiausweis des 41-jährigen Togolesen, der ihn als Mitglied der oppositionellen "Convention Démocratique des Peuples Africains" (CDPA) identifiziert, an die togolesische Botschaft in Bonn weitergegeben. Damit beschafften sich die Beamten die zur Abschiebung notwendigen Reisedokumente. Rechtsanwalt Rolf Stahmann sagt, sein Mandant habe den CDPA-Ausweis vor neun Jahren bei seiner Asylanhörung beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vorgelegt, um seine politische Verfolgung in Togo zu beweisen. Mamavi war dort vor seiner Flucht nach Deutschland wegen seines politischen Engagements gefoltert worden. Ob das Nürnberger Bundesamt oder die Behörde des Landkreises Havelland für die Weitergabe des Dokuments verantwortlich ist, lässt der Anwalt derzeit prüfen.
"Es kann nicht sein, dass Asylsuchende von deutschen Behörden ihren Verfolgerstaaten de facto ans Messer geliefert werden", kritisiert Stahmann. Er geht davon aus, dass Mamavi im Falle einer Abschiebung hochgradig gefährdet ist, da die togolesischen Behörden von den deutschen Kollegen vor der Abschiebung über die Ankunft des Flugs informiert werden. Der Rechtsanwalt will nun einen Asylfolgeantrag für Mamavi einreichen.
Dessen erster Asylantrag wurde Ende 2002 letztinstanzlich abgelehnt. Damit begann für den schwer traumatisierten Asylsuchenden eine Phase anhaltender Ungewissheit. Zunächst wollte die Ausländerbehörde ihn im Juni abschieben, obwohl das Strafverfahren gegen den Angreifer, der Mamavi im Dezember letzten Jahres in Rathenow auf offener Straße schwere Augenverletzungen zufügte und mit rassistischen Sprüchen wie "Scheiß Neger" beleidigte, noch nicht abgeschlossen war. Es könne nicht sein, dass das Opfer abgeschoben werde und der Täter davonkomme, empörte sich daraufhin die Staatsanwaltschaft in Potsdam und intervenierte bei der Ausländerbehörde. Die hat nun einen neuen Abschiebetermin Anfang September festgelegt, nachdem das Amtsgericht Rathenow am Dienstag nach einer Zeugenaussage Mamavis den rassistischen Schläger zu einer viermonatigen Bewährungsstrafe sowie einer Geldbuße verurteilte.
Für Mamavi war es nicht der erste rassistische Angriff. Im September 1997 war er gemeinsam mit drei anderen Flüchtlingen vor einer Diskothek in Rathenow von einer rechtsextremen Gruppe schwer misshandelt worden. Am 8. August sollen nun die Ermittlungen gegen die Täter aufgenommen werden.
Im August muss auch der Petitionsausschuss des Potsdamer Landtags über die Anträge der "Opferperspektive" und des Flüchtlingsrats Brandenburg entscheiden, Mamavi als Opfer rechter Gewalt eine Aufenthaltsbefugnis zu erteilen. "Mamavi sollte ein Bleiberecht verliehen werden, als Wiedergutmachung für das, was er von rassistischen Tätern in neun Jahren Rathenow erlitten hat", fordert Kay Wendell von der "Opferperspektive".
Dienstag, 29. Juli 2003
Von Claus-Dieter Steyer
Schwedt. Sie traten ihn gegen Gesicht
und Körper, schlugen seinen Kopf mehrfach auf eine Holzbank, drückten ihn unter
Wasser – ein 16-jähriger Schüler wurde in Schwedt durch zwei Gleichaltrige und
einen 19-Jährigen gequält. Tatort: ein Spielplatz, auf den die Täter den Jungen
verschleppt hatten. Dreieinhalb Stunden dauerten die Misshandlungen. Wie die
Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) am Montag mitteilte, wurden die Tatverdächtigen
festgenommen. Sie sollen zur rechtsextremistischen Szene gehören. Der 19-Jährige
und ein 16-Jähriger befinden sich seit Ende vergangener Woche in Untersuchungshaft,
der dritte Verdächtige wurde gegen Auflagen auf freien Fuß gesetzt.
Der Überfall ereignete sich schon am Abend des 20. Juli. An jenem Tag suchten
die drei Rechtsextremisten offenbar zielgerichtet nach einem Opfer. Sie fanden
es in der Nähe der Schwedter Uferpromenade in dem 16-jährigen Schüler, den sie
zunächst als „Zecke“ beschimpften. In der rechten Szene steht dieser Begriff
für „Linke“. Dann schleppten die drei Angreifer den Jungen auf den Spielplatz
und prügelten los. Das Datum 20. Juli ist aus Ermittlersicht aber eher zufällig,
ein Zusammenhang mit dem Jahrestag des Hitler-Attentats bestehe nicht.
Bei den Misshandlungen bedrohten die Tatverdächtigen ihr Opfer sogar mit dem
Tod. „Sie wollten den Schüler auf brutalste Weise einschüchtern“, sagte der
Sprecher der Staatsanwaltschaft, Michael Neff. „Sie packten den Schüler an den
Füßen und hielten ihn mehrmals mit dem Kopf unter Wasser. Er sollte ihnen zusagen,
keine Anzeige zu erstatten.“ Anschließend machten sich die Täter aus dem Staub.
Der Schüler trug nach Neffs Angaben Prellungen, Blutergüsse und Schürfwunden
davon.
Trotz der Drohungen ging der Misshandelte zur Polizei. Die Tatverdächtigen konnten
nach drei Tagen festgenommen werden, sagte Neff. Weitere Einzelheiten nannte
er nicht. In den Vernehmungen hätten die Jugendlichen die Tat zugegeben, sagte
Neff. Darauf erließ das Amtsgericht Schwedt Haftbefehle wegen Nötigung, gefährlicher
Körperverletzung, Beleidigung und Freiheitsberaubung. Die Staatsanwaltschaft
will nun schnell Anklage erheben. Der 19-jährige mutmaßliche Haupttäter war
erst im Frühjahr wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen
verurteilt worden.
Schwedt, die umliegende Uckermark und der nördliche Teil des Landkreises Ostprignitz-Ruppin
gelten in Brandenburg seit mehreren Jahren als Hochburg der rechten Szene. Die
Zahl ihrer Anhänger in der Gegend wird auf 200 geschätzt, die der gewaltbereiten
Personen auf bis zu 40. Während der Misshandlung auf dem Spielplatz hatten sich
die Angreifer zwar mit ihren Vornamen angesprochen. Doch diese waren offensichtlich
falsch. Jedenfalls konnte die Polizei mit den Angaben desOpfers zunächst nicht
viel anfangen.
Der Fall erinnert an die Ermordung des 16-jährigen Schülers Marinus Schöberl
im uckermärkischen Potzlow vor einem Jahr. Drei Männer im Alter von 18 und 24
Jahren hatten den Jungen als „Jude“ beschimpft, ihn stundenlang gefoltert, getötet
und die Leiche in einer Jauchegrube verscharrt. Der Prozess gegen die mutmaßlichen
Täter am Landgericht Neuruppin wird am 11. August fortgesetzt.