Presseschau August 2003
Die Presseschau ist ein Service des durch  entimon geförderten Projektes respectabel.de

Hier finden Sie eine Auswahl unserer Redaktion von Artikeln des täglichen Pressespiegels

Freitag, 1. August 2003

Institut rügt Diskriminierung in Deutschland

Studie: Rassismus zeigt sich nicht nur in Gewalt

Sigrid Averesch

BERLIN, 31. Juli. Ausländer und ethnische Minderheiten werden in Deutschland nach Angaben des Deutschen Menschenrechtsinstituts noch immer diskriminiert. Sie würden nicht allein Opfer von Gewalttaten. Oft finde die Diskriminierung auch subtil statt, etwa bei der Suche nach Arbeit oder einer Wohnung oder bei der Behandlung durch Behörden, sagte die stellvertretende Leiterin des Instituts, Frauke Seidensticker, am Donnerstag bei der Vorstellung der Studie "Diskriminierung und Rassismus" in Berlin. Sie forderte die Bundesregierung auf, eine umfassende Antidiskriminierungspolitik zu entwickeln und die EU-Richtlinien gegen Diskriminierung schnellstens umzusetzen. "Im internationalen Vergleich ist die Sensibilität in Deutschland nur gering ausgeprägt", stellte Seidensticker fest.

Der Politologe und Autor der Studie, David Nii Addy, empfahl die Einrichtung einer unabhängigen Antidiskriminierungsstelle, die die Gleichbehandlung fördert, Opfer berät und auch rassistische Diskriminierung erfasst. Deutschland habe sich zwar einen hohen Standard gesetzt, erfülle diesen aber nicht, betonte Addy. "Die Wahrnehmung von Diskriminierung ist meist auf Gewalttaten beschränkt", kritisierte der Politikwissenschaftler. Ebenso schwerwiegend seien aber die Benachteiligungen im alltäglichen Leben, die Einwanderer, Flüchtlinge, Sinti und Roma sowie religiöse Minderheiten erführen. Es fehle eine positive Einstellung zur gesellschaftlichen Vielfalt. "Das Signal muss sein: Ihr gehört zu uns. Vielfalt ist etwas Positives", sagte Addy. Die Studie regt zudem an, Verhaltenscodices durch Politiker, Parteien und Medien zu entwickeln.

Dienstag, 5. August 2003

Neonazi zu sechs Jahren Haft verurteilt

23-Jähriger gestand vor Gericht Rassismus und eine Serie brutaler Gewalttaten

Sie kannten keine Gnade. Rücksichtslos droschen Josef I. und seine rechten Gesinnungsgenossen auf Passanten ein. „Wie wilde Tiere“, sagte ein Zeuge. Sie traten einen Engländer mit Springerstiefeln zusammen, hetzten einen gebürtigen Russen durch die nächtlichen Straßen Marzahns, griffen einen Behinderten an und eine Rentnerin, beschimpften in Hellersdorf zwei Libanesinnen, grölten immer wieder Nazi-Parolen, attackierten einen jungen Mann, den sie als „Zecke“ einstuften. Für diese Serie brutaler Gewalt wurde der 23-jährige I. gestern wegen Körperverletzung, Volksverhetzung und Beleidigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt.

Der einschlägig vorbestrafte I. habe aus Ausländerhass und Menschenverachtung ein Jahr lang bewusst Angst und Schrecken verbreitet, hieß es im Urteil des Berliner Landgerichts. Er habe Macht demonstrieren wollen, habe zeigen wollen: „Die Straße gehört mir.“ Die Ermittler seien „leider viel zu spät eingeschritten“. Trotz eines brutalen Übergriffs auf dem U-Bahnhof Eberswalder Straße im Mai 2001 wurde gegen I. kein Haftbefehl beantragt. Dieser Fall war nun der erste von über zehn Anklagepunkten. „Man hätte dem Treiben bereits damals ein Ende setzen können“, kritisierte der Richter.

Josef I. saß im Prozess meist mit verschränkten Armen auf der Anklagebank. Über seinen Verteidiger legte der Klempner mit kurz geschorenen Haaren und der Tätowierung „Skin“ auf einer Hand ein umfassendes Geständnis ab. Er habe nachgedacht, sagte er, der wegen eines anderen Übergriffs bereits seit über 14 Monaten in Haft sitzt. „Mal von meiner Einstellung abgesehen – dit liegt allet an meiner familiären Situation und am Alkohol.“ Sein Vater hatte ihn aus dem Haus geworfen, weil die Polizei CDs mit rechter Musik bei dem Sohn gefunden hatte. Das war in Bayern. Im Herbst 2000 war I. dem Ruf seiner Gesinnungsgenossen gefolgt und nach Brandenburg und schließlich Berlin gezogen. Hier stieg er nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft zu einem Anführer der rechten Szene auf. Er wolle jetzt an einem Anti-Gewalttraining teilnehmen und vom Alkohol wegkommen, beteuerte I. im Prozess. Doch bereits bei einer Verurteilung in Bayern hatte der Angeklagte, der gestern ein T-Shirt mit der Aufschrift „Pit Bull Germany“ trug, Besserung gelobt. Die Richter blieben skeptisch: „Da ist Misstrauen angebracht.“ Kerstin Gehrke


Mittwoch, 6. August 2003

RECHTE GEWALT

Von Frank Jansen

War da mal was? Vor drei Jahren, wenn die Erinnerung nicht täuscht, gab es in der Bundesrepublik reichlich Aufregung. Medien und Politiker und dann auch 200 000 Demonstranten vor dem Brandenburger Tor protestierten gegen Rechtsextremismus, Rassismus, gegen Hass auf Juden und gegen den schlimmsten Auswuchs der Ressentiments, die zahllosen Gewalttaten kurzhaariger Schläger. Für die plötzlich im Sommer 2000 ausgebrochene, landesweite Empörung prägte der Bundeskanzler sogar ein Motto: Mit einem „Aufstand der Anständigen“ sollte der braune Ungeist bekämpft und deutlich zurückgedrängt werden. Und wie sieht es heute aus, drei Jahre später? Die Antwort ist, schon beim Blick auf Brandenburg und Berlin, deprimierend.

Einige Meldungen, nur aus dem Juli: In Potsdam wird eine Afrikanerin von einem jungen Rassisten geschlagen. Ebenfalls in Potsdam traktieren Rechtsextremisten drei ausländische Offiziere mit Schlägen und Tritten. In Berlin dreschen junge Männer mit Billardstöcken auf Vietnamesen ein. In Schwedt foltern Rechtsextremisten stundenlang einen 16-jährigen Schüler. Und so weiter.

Der Aufstand gegen den Anstand geht weiter, mit unverminderter Brutalität. Vom Aufstand der Anständigen hingegen ist fast nichts mehr zu spüren. In Medien und Politik werden rechte Gewalt und rassistische Schikanen meist nur noch als Randphänomene behandelt. Seit dem 11. September erscheinen sie noch kleiner, angesichts der monströsen Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus. Die Bundesrepublik ist offenkundig wieder da, wo sie vor dem Sommer 2000 war: In einem Zustand des Wegsehens, der Gleichgültigkeit und der Gewöhnung an den täglichen Angriff auf Menschenrechte. Im eigenen Land.

Das Scheitern des Aufstands der Anständigen ist wenig überraschend. Der plötzliche Ausbruch der Empörung im Sommer 2000 war weitgehend eine überhitzte Reaktion auf den vagen Verdacht, Neonazis hätten den Anschlag auf zum Teil jüdische Aussiedler in Düsseldorf verübt. Das Verbrechen ist bis heute nicht aufgeklärt. Doch Politik und Medien pumpten mit jeder neuen Meldung über rechte Gewalt eine Hysterieblase auf, die Ende November 2000 platzte. Die Horrorberichte vom angeblichen Rassistenmord an einem kleinen Jungen in Sebnitz stimmten nicht, viele Zeitungen und Sender hatten sich blamiert. Auf einmal war die Empörung über rechte Gewalt out.

Bis auf wenige Ausnahmen mündete der Aufstand der Anständigen in den Medien nicht in den Versuch, eine kontinuierliche Berichterstattung über die anhaltenden Gewaltexzesse und grassierenden Ressentiments aufzubauen. In der Politik sah es kaum besser aus. Hektisch wurden Programme „gegen Rechts“ aufgelegt, oft ohne nachhaltige Konzepte und finanziell nur unzureichend gesichert. Das Kampagnenfieber führte dann auch zum größten Desaster, das die Bundesrepublik im Kampf gegen den Rechtsextremismus jemals erlebt hat: Vor dem Bundesverfassungsgericht scheiterte im vergangenen März der Antrag von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat, die NPD zu verbieten. Ein populistisches Abenteuer, zudem schlecht vorbereitet, fand ein blamables Ende.

Die positiven Folgen des Aufstands der Anständigen sind rasch aufgezählt. Es gibt seit dem Jahr 2000 ein paar Initiativen mehr gegen Rechtsextremismus und Rassismus, trotz aller Schwierigkeiten. Der Bundestag beschloss einen Härtefallfonds für Opfer rechter Gewalt. Die Innenminister verordneten der Polizei eine überfällige Reform: Mehr Delikte als früher, also auch Skinhead-Überfälle auf Obdachlose, gelten nun als politisch motiviert. Und die offizielle Zahl der Todesopfer rechter Gewalt seit der Einheit wurde – bescheiden – nach oben korrigiert.

Ein neuer „Aufstand der Anständigen“ ist nicht in Sicht. Das ist vielleicht auch besser so. Hysterie ist keine Basis für den Aufbau von dauerhaftem Engagement für demokratische Werte und gegen rechte Menschenverachtung. Doch wo ist der Widerwille gegen Rechtsextremismus und Rassismus geblieben, der damals das ganze Land zu erfassen schien? War der Protest wirklich nur eine x-beliebige Modeerscheinung der Mediengesellschaft und nicht der Anfang einer dauerhaften, stärkeren Gegenwehr? Es scheint fast so. Der braunen Szene ist es recht.

Donnerstag, 7. August 2003

NPD will büffeln

Partei plant "nationaldemokratisches Bildungszentrum"

Die NPD plant, in der Nähe ihrer Parteizentrale in der Seelenbinderstraße, Köpenick, ein "nationaldemokratisches Bildungszentrum in der Reichshauptstadt" einzurichten. Laut der Zeitschrift blick nach rechts ist der Umbau eines Gebäudes im Hinterhof vorgesehen.

NPD-Parteichef Udo Voigt rühre per Spendenaufruf die Werbetrommel, heißt es weiter. Das Schulungszentrum solle 180.000 Euro kosten. Das Planungs- und Genehmigungsverfahren sei bereits abgeschlossen. Köpenicks Baustadtrat Dieter Schmitz bestätigte der Zeitschrift, dass die Verwaltung bereits im März die Genehmigung erteilt hat: "Wir können nicht Baugenehmigungen nach politischen Sympathien erteilen."

Das Bildungszentrum soll einen Schulungsraum für bis zu 60 Personen, Zimmer sowie eine "nationale Zentralbibliothek" enthalten.

 

Montag, 11. August 2003

Das Wunder in der Rosenstraße: Frauen-Aufstand gegen die Nazis

Berlin (dpa) - Die Lastwagen mit den SS-Männern kamen im Morgengrauen. «Die Werkssirenen schrillten, die Vorarbeiter schrien "schnell, schnell, Maschinen abstellen und auf den Hof!"», erinnert sich Hans-Oskar Baron Löwenstein de Witt. Es war das Frühjahr 1943. Der damals 16-jährige Berliner, Kind eines jüdischen Vaters und einer evangelischen Mutter, musste als «Geltungsjude» Zwangsarbeit in der Deutschen Waffen- und Munitionsfabrik in Borsigwalde leisten.

«Wir stanzten in Zwölf-Stunden-Schichten Munition», erzählt Löwenstein de Witt in seiner kleinen Sozialwohnung nahe der Gedächtniskirche. Dort erinnern zahllose Fotos, alte Ausweise und kostbares Silber an das außergewöhnliche Schicksal seiner adligen Familie.

An jenem Morgen des 27. Februar vor 60 Jahren holten die Nazis bei der so genannten Fabrik-Aktion zu einem letzten großen Schlag gegen die noch im Deutschen Reich lebenden Juden aus. An ihren Arbeitsstellen wurden in Berlin tausende Menschen verhaftet, um sie kurze Zeit später in die Vernichtungslager zu transportieren.

Nach einem Tag im überfüllten Sammellager in der Levetzowstraße musste Hans-Oskar wieder auf ein Lastauto steigen. Schon auf dem Richtung Innenstadt rumpelnden Wagen merkten er und seine Mitgefangenen, dass sie von Hitlers Schergen offenbar ganz speziell ausgewählt worden waren. «Wir hatten alle entweder eine "arische" Mutter, eine "arische" Ehefrau oder einen "arischen" Vater», sagt Löwenstein de Witt. Zwischen 1500 und 2000 Menschen, die nach den «Nürnberger Gesetzen» als «arisch versippt» galten, wurden in das ehemalige jüdische Wohlfahrtsamt in der Rosenstraße in Berlin-Mitte gebracht.

Wie durch ein Wunder kamen die dort Gefangenen nach zwei Wochen frei. Im einzigen öffentlichen Protest im Nazi-Deutschland widersetzten sich mit jüdischen Männern verheiratete, verlobte und befreundete Frauen den Deportationsplänen. 26 bereits nach Auschwitz deportierte Menschen wurden von den Nazis sogar wieder zurück geholt. Regisseurin Margarethe von Trotta hat die Geschichte verfilmt. Mit dem am 18. September in den Kinos startenden Film «Rosenstraße» nimmt sie auch am offiziellen Wettbewerb der diesjährigen Film-Biennale in Venedig teil.

Unter den Inhaftierten seien die schlimmsten Gerüchte umgegangen, erzählt der heute 77-jährige Löwenstein de Witt. Würden sie alle sterilisiert werden, um weiteren «jüdisch-versippten» Nachwuchs zu verhindern? Werden sie nach Theresienstadt deportiert? Oder hält vielleicht irgendeiner der ganz oberen NS-Bonzen seine schützende Hand über sie? «Erst nach drei Tagen habe ich beim Warten vor den wenigen Toiletten meinen Vater getroffen», sagt Löwenstein de Witt. «Da sind wir uns erst einmal in die Arme gefallen.»

Eine «Mischung aus Angst und Hoffnung» habe ihn beherrscht, sagt er. In der weitläufigen Verwandtschaft der Familie waren auch einflussreiche, dem Regime nahe stehende Männer. «Der Riss ging durch unsere Familie», erklärt Löwenstein de Witt, wenn er vom Großonkel Wolf Heinrich Graf von Helldorf, dem damaligen Polizeipräsidenten von Berlin, erzählt. Oder von Tante Elisabeth, genannt Li, die mit dem ehemaligen Oberbürgermeister von Potsdam, einem Freund des letzten Kaisers Wilhelm II., verheiratet war. Der eingeschlossene Hans-Oskar schöpfte Hoffnung: «Was kann denn schon passieren, Tante Li hat das Goldene Parteiabzeichen», beruhigte sich der Jugendliche.

Immer mehr Frauen versammelten sich in der Rosenstraße. «Gebt uns unsere Männer wieder!», schrien die Verzweifelten den mit Maschinengewehren auf sie zielenden SS-Männern entgegen. Unter ihnen auch Tante Li und Hans-Oskars Mutter Johanna. Warum die Gefangenen schließlich frei kamen, das ist bis heute nicht ganz geklärt. Unter Historikern ist umstritten, ob die Männer ausschließlich auf Druck der Straße freikamen oder tatsächlich zu diesem Zeitpunkt gar nicht deportiert werden sollten. Löwenstein de Witt aber ist sich sicher: «Nur der Protest der Frauen hat unsere Freilassung bewirkt.»

Nach weiterer Zwangsarbeit und einem Leben in wechselnden Verstecken erlebte er das Kriegsende zusammen mit seinem Vater in einem schließlich von den Russen befreiten Lager in Berlin-Wedding. Das Haus in der Rosenstraße 2-4 steht heute nicht mehr. In der Sackgasse zwischen dem Hackeschen Markt und der Marienkirche an der Karl-Liebknecht-Straße erinnert ein Denkmal an den Aufstand der Frauen in der Rosenstraße.

 

Mittwoch, 13. August 2003

Faxe für Schönbohm

Protest gegen Abschiebung: Ein Verein fordert dazu auf, Faxe an Brandenburgs Innenministerium zu schicken

Zu einem "Fax-in" beim Brandenburger Innenministerium ruft der Potsdamer Verein "Opferperspektive" auf. Anlass für die Aufforderung, massenhaft Faxe an die Behörde zu schicken, ist die geplante Abschiebung des togolesischen Asylsuchenden Orabi Mamawi am 4. September. Der 41-Jährige war in Rathenow zweimal von Rechten angegriffen und verletzt worden.

Zunächst sollte Mamawi noch während des laufenden Strafverfahrens gegen seinen Angreifer abgeschoben werden. Erst nach Interventionen der Staatsanwaltschaft Potsdam wurde ein Aufschub erreicht. Nun wurde der Asylfolgeantrag des durch die Angriffe in Rathenow und Foltererfahrungen in Togo traumatisierten Flüchtlings abgelehnt. Damit ist der Weg für die Abschiebepläne des Landratsamts Havelland frei geräumt - obwohl deutsche Behörden Orabis Mitgliedsausweis einer Oppositionspartei an die togolesische Botschaft weitergaben.

"Wir fordern Innenminister Jörg Schönbohm auf, Orabi Mamawi ein sicheres Bleiberecht aus humanitären und politischen Gründen zu erteilen", sagt Kay Wendell von der Opferperspektive. "Als ein klares Signal an die Täter, dass sie ihre menschenverachtenden Ziele nicht erreichen." Schönbohm, in Bleiberechtsfragen ein Hardliner, hat sich bisher nicht geäußert. Auch der Petitionsausschuss des brandenburgischen Landtags hat sich noch nicht mit Anträgen befasst, in denen der Kirchenkreis Kyritz, Brandenburgs Ausländerbeauftragte und die Opferperspektive ein Bleiberecht fordern. "HEIKE KLEFFNER

Mittwoch, 13. August 2003

Zeugenklamauk im Prozess gegen „Landser“

Richter-Fragen nach der rechtsextremistischen Musikgruppe laufen ins Leere – Bandchef Michael R. würdigt die Mitangeklagten keines Blickes

Der Neonazi mit dem Topfhaarschnitt und dem leeren Messerhalfter am Gürtel möchte im Kammergericht spaßig wirken. Als ihn der Vorsitzende Richter fragt, wen er von der Berliner Rockband „Landser“ vor dem Prozess kannte, pumpt sich Thorsten H. ironisch auf: „Zu mir ist niemand gekommen und hat gesagt, ich bin Herr Landser.“ Dann belehrt der Zeuge den Richter, es sei nicht üblich, einen aus der Szene zu fragen, ob er zu der Band gehöre. Es sei ja auch „unfein, jemanden nach Fußpilz zu fragen“. Die drei angeklagten Mitglieder von Landser grinsen, die bizarr tätowierten Neonazis im Publikum auch. Richter Wolfgang Weißbrodt nimmt es hin. Der 56-Jährige mit dem weiß-grauen Vollbart scheint bei Thorsten H., einem notorischen Szeneanführer, den Mangel an Respekt vor Recht und Richter zu ignorieren.

Es ist der der zwölfte Tag im Prozess gegen Michael R. (38), André M. (35) und Christian W. (27), die trotz der schweren Vorwürfe in der Anklage von Generalbundesanwalt Kay Nehm gelassen erscheinen. Nehm beschuldigt die Rechtsrocker, sie hätten eine kriminelle Vereinigung gebildet, die mit ihren CDs und vor allem mit den brutalen Liedtexten zum Hass gegen Ausländer, Juden und andere „Teile der Bevölkerung“ aufstachelt. Und den Völkermord der Nazis verharmlost.

Das Verfahren wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, dabei handelt es sich um ein juristisches Pilotprojekt. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik hat sich ein Generalbundesanwalt eine rechtsextreme Band vorgenommen – um zu demonstrieren, dass dem in Teilen der Jugend so populären Rassistensound mit aller Macht entgegengetreten werden muss. Außerdem gilt Landser in der Szene als Kultband. Die Texte sind an Brutalität kaum zu übertreffen („Kanake verrecke“, „100000 Liter Strychnin für Kreuzberg“), und die Musiker organisierten Produktion und Vertrieb ihrer CDs im In- und Ausland so konspirativ wie gelernte Mafiosi.

Eigentlich kein Grund für Heiterkeit im Gerichtssaal. Doch Richter Weißbrodt hat seit Prozessbeginn nur einmal Härte gezeigt. Mitte Juli verweigerte der als Zeuge geladene Ex-Schlagzeuger der Band, Horst S., jede Aussage. Weißbrodt schickte ihn in Beugehaft. Sie kann bis zu sechs Monate dauern, sollte S. bockig bleiben. Der Schlagzeuger hatte die Band Mitte der neunziger Jahre verlassen, dennoch scheint er aus Furcht oder alter Loyalität zu schweigen. Die Angst wäre begründet: Michael R., Sänger und Chef von Landser, kommt zum Prozess stets in Begleitung eines bulligen Skinheads. Die glatzköpfigen Mitangeklagten Andreas M. und Christian W. haben womöglich auch einiges zu befürchten. Bei der Polizei legten sie Teilgeständnisse ab, Michael R. hingegen sagte zu den Vorwürfen nichts. Seitdem ist Landser gespalten. Andreas M. und Christian W. gelten jetzt offensichtlich als Verräter.

Im Gerichtssaal würdigt Pferdeschwanzträger R. die beiden keines Blickes. Auch die Neonazis im Publikum haben sich offenbar auf der Seite des Landser-Sängers geschlagen. Ein Grund mehr für Andreas M. und Christian W., sich um ihre Gesundheit Gedanken zu machen. Denn unter den Zuschauern befindet sich zum Beispiel ein so gefährlicher Mann wie Marcus B. Der mehrfach vorbestrafte Neonazi mit den großen, buschigen Koteletten hat im Sommer 1999, aus der Haft heraus, in einem Schreiben an den Tagesspiegel indirekt mit Mord gedroht. Im Gericht lächelt B., inzwischen auch Pferdeschwanzträger, kurz über die dreisten Töne des Zeugen Thorsten H. Danach verengen sich die Augen wieder zum starren Blick. Frank Jansen

 

Donnerstag, 14. August 2003

Nazirocker wippen im Takt

Seit Anfang Juli wird in Berlin gegen die mutmaßlichen Mitglieder der Neonaziband Landser verhandelt. Im Gerichtssaal
feiern Anhänger der Rechtsradikalen ihre Helden - während die mit den Richtern über das Musikgeschäft fachsimpeln

von HEIKE KLEFFNER

Im Saal 145 des Berliner Kammergerichts steigt die Stimmung. Richter Wolfgang Weißbrodt kündigt das Abspielen der indizierten CD "Deutsche Wut - Rock gegen Oben" der Neonaziband Landser an. Während die drei mutmaßlichen Landser-Mitglieder, Michael R. (38), André M. (37) und Christian W. (27) auf der Anklagebank starr nach vorne gucken, wippen auf den Zuschauerbänken tatöwierte Neonazirocker im Takt. Der Refrain "Zigeunerpack, jagt sie alle weg, ich hasse den Dreck" dröhnt durch den Saal; ohne Pause geht es weiter mit Texten wie "100.000 Liter Strychnin für Kreuzberg".

"Begleitmusik zu Mord und Totschlag" nennen Experten die Tonträger von Landser. Gespielt wurden sie bei der tödlichen Hetzjagd auf den algerischen Flüchtling Farid Guendoul in Guben und beim Mord an Alberto Adriano in Dessau. Doch nach einem Dutzend Verhandlungstagen gegen Deutschlands bekannteste Neonaziband, der die Bundesanwaltschaft die "Bildung einer kriminellen Vereinigung" nach §129 StGB vorwirft, ist von der politischen Brisanz des Verfahrens nichts zu spüren. Dabei gehört die Verbreitung nationalsozialistischer Ideen durch Musik zum erfolgreichsten Rekrutierungsansatz der extremen Rechten.

Seit Prozessbeginn gibt sich die militante rechte Szene im Kammergericht ein Stelldichein: kahl geschorene Skinheads, die Neonazirocker Vandalen und biedere Scheitelträger im gestreiften Polohemd.

Während der Hauptangeklagte und mutmaßliche Sänger der Band, Michael R. alias "Luni", in einschlägigen Internetforen als "Held" gefeiert wird, stehlen im Prozess zuweilen die Zeugen den schweigenden Angeklagten die Show. Zum Beispiel der bundesweit aktive Neonazi Thorsten Heise aus Frettenroda. Die Ermittler vermuteten, Heise sei bei den Aufnahmen zur indizierten Landser-CD "Republik der Strolche" in Schweden dabei gewesen.

Vor Gericht mag sich der vorbestrafte 34-Jährige daran nicht erinnern. Stattdessen beschreibt Heise, wegen CDs mit rassistischen Texten im September selbst wieder auf der Anklagebank, die Gründe für den "Kultstatus" von Landser. Deren Texte seien eben "radikal, ein bisschen durchdachter, ironisch und humorvoll".

Eine väterliche Ermahnung von Richter Wolfgang Weißbrodt, einige Texte seien "wirklich nicht zum Lachen", verpufft. Es ist die Distanzlosigkeit, mit der zwischen Richtertisch, Anklagebank und Zeugenstand im Plauderton über das Musikgeschäft gefachsimpelt wird, die aus dem als Musterprozess angelegten ersten Verfahren gegen eine Neonaziband wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung eine Provinzposse macht. Und den auffälligen Gedächtnisschwund vieler Zeugen, oftmals langjährige Neonaziaktivisten, unhinterfragt stehen lässt. Lediglich Horst H., erster Schlagzeuger von Landser, wollte gar nicht aussagen und sitzt seit zwei Wochen in Beugehaft.

Ursprünglich wollte der 2. Strafsenat des Kammergerichts den Anklagepunkt "kriminelle Vereinigung" gar nicht zulassen. Nachdem der Bundesgerichtshof die Entscheidung der Berliner Richter verwarf, mühen sich die nun lustlos durch die Beweisaufnahme. Im Zeitraffer werden zehn Jahre rechtsextreme Organisierung, klandestine Bandproben, geheime Studios im Ausland und Presswerke in Osteuropa verhandelt.

Beobachter rechnen frühestens im Oktober mit einem Urteil. Ob die drei Angeklagten dann lediglich wegen "Progandadelikten" oder doch als kriminelle Vereinigung verurteilt werden, mag derzeit niemand prognostizieren.

Samstag, 16. August 2003

HESS-GEDENKMARSCH: DER AUFSTAND DER ANSTÄNDIGEN IST LÄNGST VORBEI

Gesucht: Zivilcourage

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat das Verbot für den "Rudolf-Heß-Gedenkmarsch" in Wunsiedel aufgehoben. Schon im vergangenen Jahr konnten 2.500 Neonazis den Hitler-Stellvertreter in der bayerischen Kleinstadt unbehelligt zum "Märtyrer" stilisieren. Heute wird Wunsiedel nun erneut zum Austragungsort des größten rechten Schaulaufens des Jahres. Problematisch an dem Freifahrtschein für Neonazis vom BVerfG ist dabei vor allem die richterliche Begründung: Mit Störungen sei "nicht zu rechnen".

Diese durchaus zutreffende Feststellung verweist auf eine dramatische Leerstelle, die nicht durch härtere Gesetze und Verbote zu füllen ist. Drei Jahre nach dem "Aufstand der Anständigen" gegen Rechtsextremismus, rassistische Angriffe und antisemitische Bedrohung ist von einer zivilgesellschaftlichen Mobilisierung auf den Straßen ost- und westdeutscher Städte kaum noch etwas zu sehen. Polizeipressestellen vermelden es als Erfolg, wenn, wie unlängst beim Heß-Gedenkmarsch im brandenburgischen Wittstock, "die Bevölkerung kaum Notiz nimmt" von 200 marschierenden Neonazis. Das Scheitern des NPD-Verbots, Medien, die rechten Alltagsterror längst wieder in die Randspalten verbannt haben, die feste Verankerung einer rechten Alltagskultur nicht nur in den neuen Bundesländern, der Paradigmenwechsel vom "Aufstand gegen rechts" zu "runden Tischen gegen Gewalt und Extremismus" - all das zeigt: Die Mitte der Gesellschaft hat den Kampf gegen rechts längst wieder in die Schmuddelecke verbannt.

Derweil wird laut Statistik jeden Tag irgendwo in Deutschland eine rechtsextrem motivierte Straftat begangen. Und in Wunsiedel wird heute ungestört eines verurteilten NS-Kriegsverbrechers gedacht, der vor 16 Jahren Selbstmord beging. Wer gedenkt eigentlich im bayerischen Kolbermoor des 35-jährigen Mosambikaners Carlos Fernando, der am 15. August 1999 von einem stadtbekannten Neonazi mit der Begründung "Die Neger gehören alle totgeprügelt" getötet wurde? " HEIKE KLEFFNER

Montag, 18. August 2003

"Schnappt euch den Blonden"

In Potsdam häufen sich Meldungen über rechtsextreme Gewalt, aber die Polizei sieht nur normale Schlägereien
Von Christoph Seils (Berlin)

Es sollte ein schöner Abend werden. "Sommerferienmäßig" hatte sich Robert mit einem Freund und einer Freundin in einem Potsdamer Park an der Havel unweit des Hauptbahnhofes niedergelassen, Bier getrunken, gequatscht, gescherzt. Doch wenn sich der 18-jährige Gymnasiast an jenen Mittwoch im Juli erinnert, dann wird er wortkarg, spricht über seine Angst, über Drohungen und Prellungen sowie darüber, dass er nimmer damit gerechnet habe, Opfer rechter Gewalt zu werden.

Es beginnt mit einem harmlosen Wortwechsel, eher flapsig streiten sich die drei am Fluss mit einigen Rechten, die in der Nähe standen. Doch plötzlich wächst die Gruppe auf über 20 Personen an. Ein Faustschlag trifft Robert unvermittelt im Gesicht. Später wird die Polizei erklären, die Gruppe und der stark alkoholisierte Haupttäter Christian J. hätten gezielt die Auseinandersetzung gesucht. In Panik springt Robert ins Wasser der Nuhte, die hier in die Havel mündet. "Schnappt euch den Blonden" heißt sodann die Parole, die dieser so schnell nicht vergessen wird.

Der Angriff ist gut organisiert, drei Rechte verhindern, dass Robert auf der anderen Seite wieder aus dem Wasser klettern kann. Christian J. springt hinter her und drückt Robert unter. Unendlich lange kam es Robert vor, er spricht von einer Minute. Nachdem er sich in Todesangst aus der Umklammerung befreit hat und aufgetaucht ist, fragt ihn der grinsende Christian J.: "Haste wieder Luft" und schlägt erneut auf ihn ein. Auch sein Freund René kann ihm nicht helfen, er wird zur selben Zeit von zwei anderen Rechten zusammengeschlagen. Nur die hilflose zuschauende Freundin lassen die Angreifer in Ruhe. Erst als die Polizei anrückt, versuchen die Täter zu fliehen; vergeblich, den Beamten gelingt es, ihre Personalien festzustellen.

Alltag in Ostdeutschland. "Potsdam ist ein Schwerpunkt rechter Gewalt", sagt Claudia Luzar vom Verein "Opferperspektive". Seit zwei Jahren häuften sich in der brandenburgischen Landeshauptstadt die Gewalttaten, 14 waren es nach Angaben von "Opferperspektive" im vergangenen Jahr, acht in den ersten sieben Monaten diesen Jahres. So wurden Mitte Juli drei Verbindungsoffiziere aus Kroatien, Rumänien und den Niederlanden von stark angetrunkenen Angreifern geschlagen und getreten, weil sie in einer Straßenbahn miteinander Englisch sprachen. Ende Juli wurde eine 38-jährige Afrikanerin an einer Haltestelle von einem 21-jährigen rassistisch beschimpft und ins Gesicht geschlagen. "In Potsdam gibt es mehr Angriffe als in anderen Städten Brandenburgs", sagt Claudia Luzar. Doch die Potsdamer Polizei widerspricht. "Deutlich rückläufig" seien die einschlägigen Straftaten, erklärt Polizeisprecher Rudi Sonntag, die Stadt sei "kein ausgesprochener Brennpunkt im rechtsextremistischen Geschehen". Dabei bestreitet auch der Verein "Opferperspektive" nicht, dass es in Potsdam mehr zivilgesellschaftliches Engagement und mehr anti-rassistische Initiativen als in anderen Städten Ostdeutschlands gibt, überdies viele linke und alternative Jugendliche.

Robert und René verstehen sich selbst als "eher unpolitische", sie hören gerne Heavymetall, fühlen sich der Grufti-Szene verbunden, tragen mit Vorliebe schwarze Klamotten, seine Haare trägt René punkermäßig abstehend. Allein das ist für viele Skinheads eine Provokation. Im Dorf Michendorf unweit von Potsdam, wo René zu Hause, stand schon mal die rechte Clique vor seinem Elternhaus und skandierte "Punkerschwein, wir kriegen dich".

Die "kulturelle Hegemonie" in Potsdam ist umkämpft, sagt Claudia Luzar, anders als in den meisten ländlichen Regionen Ostdeutschlands. Rechte Cliquen versuchten sich hier mit Gewalt Freiräume zu erkämpfen. Gerade deshalb würden nicht nur Immigranten und Flüchtlinge zu Opfern, sondern eben auch nicht-rechte, vor allem Punks. Doch hier fehlt den Zuständigen die nötige Sensibilität. Auch der Angriff auf Robert und René wird von der Polizei als normale Schlägerei bagatellisiert. Einen rechtsextremistischen Hintergrund schließt sie aus. Dabei ist der Haupttäter Christian J. unter anderem wegen Körperverletzung vorbestraft. Als Symbol seiner Gesinnung schmückt ihn ein Reichsadler-Tattoo. Der Potsdamer Hauptbahnhof ist sein Revier, hier trifft er sich regelmäßig mit Gesinnungsfreunden.

Als René dem Schläger dort ein paar Tage nach dem Angriff begegnet, stellt sich ihm dieser frech in den Weg und tönt selbstbewusst "ja, man sieht mich immer noch". Eine telefonische Beschwerde des Vereins Opferperspektive bei der Polizei führt zu nichts. Denn anstatt dafür zu Sorgen, dass der Bahnhof nicht länger ein Tummelplatz für rechte Schläger bleibt, fiel der zuständigen Kommissarin nichts Besseres ein, als dem Betroffenen zu raten, diesen zukünftig zu meiden.

Montag, 18. August 2003

DIE ANALYSE
Fatale Gewöhnung

Rechtsextreme Gewalt wird zu häufig übersehen

Von Pitt von Bebenburg

So ein rechtsradikaler Übergriff muss schon richtig spektakulär sein, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Selbst wenn nach der rassistischen Beschimpfung der Hund auf einen Asylbewerber gehetzt wird - über die Region hinaus erfährt davon in der Republik niemand etwas. Wenn ein deutscher Jugendlicher aus der Hip-Hopper-Szene stundenlang gefoltert und mit dem Tode bedroht wird, dann schafft diese Meldung es immerhin bis in die überregionalen Blätter; in den Fernsehnachrichten taucht aber auch sie nicht auf. Das alltägliche Leiden von Menschen anderer Hautfarbe, von alternativen Jugendlichen, von Obdachlosen findet keine öffentliche Beachtung mehr. Und das, obwohl die alltägliche Bedrohung keineswegs geringer geworden ist. Die Zahlen der Verfassungsschützer belegen das ebenso wie die Recherchen nicht staatlicher Quellen.

Deutschland hat sich gewöhnt an den Rechtsradikalismus. Natürlich gibt es mutige Initiativen, kluge Analysen, wache Medien und ernstlich interessierte Politiker, die den Finger in diese Wunde legen. Die Engagierten in der Zivilgesellschaft sind mehr geworden seit dem Sommer 2000, als die Öffentlichkeit aufgeschreckt wurde und sich die Bundesregierung an die Spitze der demokratischen Bewegung stellte. Aber es gibt auch immer noch Bürgermeister, die vor allem den Imageschaden für die eigene Gemeinde fürchten, wenn ein rechtsradikaler Übergriff bekannt wird, und Landesinnenminister, die die Zahlen für ihr Bundesland aus dem gleichen Grund weit nach unten korrigieren. Sie ändern freilich nichts daran, dass selbst die offiziellen Zahlen der Gewalttaten Jahr für Jahr auf einem alarmierend hohen Niveau liegen.

Das Problem ist nicht überall gleich groß. Es gibt Städte und Landstriche, in denen rechtsradikale Gewalt selten vorkommt. Deswegen wirken die dramatischen Meldungen vor allem aus Ostdeutschland, aber auch aus einzelnen Regionen Westdeutschlandes mancherorts wie Berichte aus einem fernen Land. Doch sie sind es nicht.

Nach wie vor gibt es besonders in ostdeutschen Städten und Dörfern Angstzonen, in denen rechtsradikale Cliquen sich demonstrativ breit machen, jedem anders Aussehenden oder sichtbar anders Denkenden mit Gewalt drohen. Vor Ort ist es häufig schwierig, eine Gegenbewegung oder auch nur eine Öffentlichkeit für das Problem zu schaffen - vor allem auf dem Land, wo bürgerschaftliches Engagement viel weniger verbreitet ist als in Städten.

In jedem Sommer haben die rechten Schläger Hochkonjunktur. Doch nur selten nahm die offizielle Politik dies zum Anlass, sich des Themas entschieden anzunehmen. Zuletzt war das der Sommer vor drei Jahren, als Bundeskanzler Gerhard Schröder den "Aufstand der Anständigen" ausrief. Die Aktion zeigte eine gewisse Wirkung, es gab eine intensive öffentliche Debatte, es gab Anerkennung und Geld für Initiativen gegen den Rechtsextremismus und für seine Opfer. Nun, nach drei Jahren, läuft die Anschubfinanzierung für einige dieser Modellprojekte aus, und aus der öffentlichen Wahrnehmung ist das Problem fast völlig verschwunden.

Der Kanzler und sein Volk, sie sind mit anderem vollauf beschäftigt. Der Sommer ist heiß, das Geld ist knapp - das sind die Themen dieser Monate. Die Politik stellt sich dem Umbau der Sozial- und Gesundheitspolitik, und nebenbei denkt man an Afghanistan, Irak und die Rolle Deutschlands in der Welt. Hier kann die Politik Handlungsfähigkeit zeigen - und auf sichtbare, in Zahlen messbare Erfolge hofft. Der Kampf gegen Rechtsradikalismus und Gewalt ist in dieser Hinsicht viel undankbarer. Er setzt in den Köpfen an, er muss die gesamten gesellschaftlichen Bedingungen ins Auge fassen, er baut nicht nur auf kurzfristige Repression, sondern vor allem auf Prävention. Die aber wird in Zeiträumen gemessen, die wesentlich länger sind als Legislaturperioden.

Nicht zuletzt erinnert das Thema Rechtsextremismus die Politik an eine herbe Niederlage. Viel zu sehr hatten sich Bund und Länder auf ein Verbot der NPD konzentriert, das dann in Karlsruhe so kläglich scheiterte und zudem das System der geheimdienstlichen Überwachung rechtsextremer Organisationen in Misskredit brachte. Daran wollen Schröder, Schily & Co. lieber nicht erinnert werden.

Doch das kann kein Grund sein, die Erosion des Gemeinwesens durch rechtsextreme Gewalttäter aus dem Blick zu nehmen. Die Debatte muss weitergehen, da, wo sie irgendwann Anfang 2001 aufgehört hat. Der Kampf gegen Rechtsradikalismus braucht langen Atem - das haben schon damals alle Fachleute betont. Jetzt ist es an der Zeit, es zu beweisen.

Montag, 18. August 2003

Rechtes Partyvolk in Pankow

Neonazis feiern auf einem rechten Konzert in Pankow. Anwohner berichten von rechtsextremen Liedtexten. 200 Polizisten umstellen das Gelände, belassen es jedoch bei "Gefährdeansprachen"

von HEIKE KLEFFNER

Zu einem "Rudolf-Heß-Gedenkkonzert" versammelten sich am Samstagabend rund 100 Neonazis auf dem Gelände einer Gaststätte in Buchholz. Anwohner in der Bahnhofstraße berichteten schockiert von rechtsextremen Liedtexten und einer größeren Anzahl von Naziskins, die sich sowohl in der Gaststätte "Kantine" als auch in einem Zelt davor aufhielten. Nach Angaben der Polizei sollte hier ein Livekonzert des mutmaßlichen Sängers der Neonaziband "Landser", Michael R., und der Band "Spreegeschwader" stattfinden.

Mehrere Stunden nach Beginn der Feier umstellten dann rund 200 Beamte u. a. des Landeskriminalamts und der Sondereinheit "Politisch Motivierte Straftaten" (PMS) das Gelände. Dabei sei es jedoch lediglich zu so genannten Gefährdeansprachen gekommen, so die Polizeipressestelle. Es habe weder Festnahmen noch Beschlagnahmungen gegeben. Nach Angaben der Polizei gab es auch keine Liveauftritte, sondern nur "szenetypische Musik" vom Band.

Beobachter zeigten sich weder über den Termin der Feier noch über die geplanten Auftritte überrascht. Schließlich hatten Berliner Neonazis, darunter die Kameradschaft Tor aus Friedrichshain sowie der bekannte Neonaziaktivist Oliver Schweigert, am selben Tag noch im bayrischen Wunsiedel gemeinsam mit rund 3.000 Gesinnungsgenossen an einem Aufmarsch für den Hitler-Stellvertreter und verurteilten NS-Kriegsverbrecher Rudolf Heß teilgenommen. "Immer häufiger finden im Anschluss an Aufmärsche auch Konzerte statt," so die Beobachter.

Bei den angekündigten Live-Acts handelt es sich um Berlins bekanntes RechtsRock-Vertreter: Michael R. sitzt als mutmaßlicher Sänger der Band Landser unter dem Vorwurf der "Rädelsführerschaft" in einer "kriminellen Vereinigung" derzeit zweimal wöchentlich auf der Anklagebank im Kammergericht Berlin. Die 1994 gegründete Band Spreegeschwader kündigt seit Wochen im Internet die Veröffentlichung ihrer sechsten CD für Anfang August an. Sie trägt den Titel "Gefangen im System", Lieder heißen etwa "Das Lied vom Hasse". In einer Unterzeile heißt es: "Zurück aus dem Dunkel mit neuer Musik. Hart und aggressiv, denn es ist Krieg …"

Ein Sprecher der Pankower Antifa-Offensive kritisierte, dass die Polizei lediglich Gefährdeansprachen durchführte. "Das Problem ist, dass Neonazis vor und nach so genannten Feiern und Konzerten noch mehr als im Alltag eine Bedrohung für alle darstellen, die nicht ins rechte Weltbild passen." Zudem komme es verstärkt zu rechtsextremen Aktivitäten im Bezirk. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine Regionalstudie des Zentrums Demokratische Kultur (ZDK). Laut Verfassungsschutzbericht wurden in Pankow im vergangenen Jahr 129 "politisch rechts motivierte Straftaten", darunter 5 Gewaltdelikte, registriert. Damit liegt Pankow bei der Summe der Delikte berlinweit an zweiter und bei Gewalttaten an vierter Stelle. Das letzte größere Neonazikonzert im Bezirk fand im Februar 1999 im Vereinshaus einer Pankower Schrebergartenkolonie mit rund 300 Rechten und Spreegeschwader statt.

rechte straftaten

Regionale Verteilung

Rechte sind in Pankow immer wieder aktiv: Der Verfassungsschutz registrierte im vergangenen Jahr 129 "politisch rechts motivierte Straftaten", darunter fünf Gewaltdelikte. Damit liegt Pankow bei der Summe der Delikte berlinweit an zweiter Stelle. Im Verfassungsschutzbericht heißt es: Da die regionale Verteilung der Straftaten mit der Verteilung der Wohnorte korrespondiere, "liegt die Vermutung nahe, dass die Mehrzahl dieser Taten im Wohnumfeld der Täter begangenen wurde".

Dienstag, 19. August 2003

Aus deutscher Sicht

Die Vertriebenen-Lobby will in Berlin ein "Zentrum gegen Vertreibungen" etablieren. Der nötigen Erinnerung an Flucht und Unrecht würde dieses Zentrum kaum dienen

"Schneekoppe!" Das klingt seit Jahrzehnten unverändert nach einem Werbejingle für Reformkost - für die einen. Für die anderen, älteren, klingt Schneekoppe nach Sommerfrische und Winterurlaub, nach Riesengebirge, nach Schlesien oder Böhmen. In der Tat, das Logo der Reformkostmarke enthält die Umrisse einer schneebedeckten Bergkuppe in einer charakteristischen Form. Der Schneekoppe nämlich, des höchsten Berges des Riesengebirges, auf dessen Kamm heute die Grenze zwischen Polen und Tschechien verläuft. Die heute in Seevetal ansässige Firma wurde 1927 von Fritz Klein in Schlesien am Fuße der Schneekoppe gegründet. Damals gab es dort zahlreiche Lebensmittel verarbeitende Firmen. Fritz Klein spezialisierte sich auf den Versand von Leinsamen und Leinöl aus der Region. Seit dem 2. August 1945 gehörte das Riesengebirgsvorland nicht mehr zu Deutschland. Die Alliierten sprachen es Polen zu. Die Deutschen wurden vertrieben. Und Schneekoppe war für viele Bundesdeutsche nur noch ein Markenname.

Geschichten wie diese, vom Verlust einer Heimat und vom Verschwinden der Orte aus dem kollektiven Gedächtnis, gibt es viele. Und es ist dringend an der Zeit, sie zu erzählen. Seit einigen Jahren mehren sich die Romane, in denen die Enkelgeneration dem Leben ihrer Großeltern im früheren deutschen Osten nachspürt, auf der Suche nach Orten und Erinnerungen.

Eine andere Gruppe erzählt diese Geschichten schon lange: die Vertriebenenverbände. Ihre Klagen über das Unrecht, das ihnen widerfahren ist, über Flucht und Vertreibung, den Verlust von Heimat und Besitz, ihre Forderung nach finanziellem Ausgleich und nach Rückerstattung von Haus und Hof haben die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik geprägt. In den 80ern waren sie verhaltener geworden, nach dem Mauerfall wurden sie wieder vehementer. Nachdem der Bund der Vertriebenen (BdV) jahrelang die Verhandlungen der Bundesrepublik mit der Tschechischen Republik erschwert hat, gibt es nun einen neuen Vorstoß: die Gründung eines "Zentrums gegen Vertreibungen". Ein etwas verklausulierter Name: Was soll hier zentralisiert werden? Wie soll eine zentrale Institution mit einem negativen Geschäftsziel arbeiten? Und: Warum Vertreibungen im Plural?

Dass sich der BdV zum Thema "Vertreibung" äußert, ist nahe liegend. Schließlich versteht er sich als Lobby aller deutschen Vertriebenen. Nur ist es nach den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte ein Gebot der Vorsicht, genauer hinzusehen, was Frau Steinbach und ihre Gefährten im Schilde führen, wenn sie versuchen, Unterstützer aus allen politischen Lagern in ihr Boot zu ziehen. Was also soll "Vertreibungen" bedeuten? Folgt man der Satzung des "Zentrums", ist es in erster Linie die Vertreibung der Deutschen nach 1945. Um an ihr Leid zu erinnern, soll es eine Ausstellung, eine Forschungseinrichtung und eine "Gedenkrotunde" geben. Die Forderung, die Verluste der deutschen Vertriebenen besonders zu würdigen, vertritt der BdV seit seiner Gründung. Neu ist dessen Ansinnen, die deutsche "Vertreibung" in den europäischen Kontext einzuordnen.

So sah bereits der Friedensvertrag am Ende des Ersten Balkankrieges 1913 groß angelegte Bevölkerungstransfers vor, um ethnisch homogene Nationalstaaten zu errichten. Weitere Umsiedlungen dieser Art folgten. Bei jeder dieser Aktionen wurden zahlreiche Menschen getötet. In die Opferperspektive "Vertreibung ist Unrecht" will also der BdV andere europäische Vertreibungen einbeziehen. Allerdings fehlt dabei die brutalste Vertreibung des 20. Jahrhunderts: der Holocaust. Und hier waren bekanntlich die Deutschen Täter. Doch dies ist ebenso wie etwa die Folgen des Münchener Abkommens für die Tschechen im Sudetenland nicht Gegenstand des "Zentrums gegen Vertreibungen". Es blendet aus, dass die Vertreibung der Deutschen eine Vorgeschichte hat.

Der Versuch, das Thema Vertreibung in die europäische Dimension auszuweiten, ist eher ein Ablenkungsmanöver, um auf die Vorgeschichte verzichten zu können. An dieser Stelle krankt die gesamte öffentliche Debatte, die sich um den Vorstoß von Frau Steinbach entzündet hat. Denn die Frage, die lediglich diskutiert wird, lautet: Wie viel Europa? Doch unklar bleibt, in welcher Rolle vor allem Tschechen und Polen einbezogen werden sollen. Sollen sie in den Chor der Opfer einstimmen, und sich daran erinnern, wie sie von den Deutschen und den Sowjets vertrieben wurden? Oder sollen sie sich schuldbewusst an die eigene Brust klopfen und öffentlich bedauern, dass sie den Deutschen durch die Vertreibung Unrecht getan haben? Warum überhaupt müssen die europäischen Nachbarn in diese innerdeutsche Debatte einbezogen werden?

Die Verengung des Blicks auf die Vertreibung lässt nicht nur die Vorgeschichte, sondern auch die Entwicklung danach im Dunkeln. In der Biografie eines Menschen dauert Flucht nicht lange, oft nur wenige Wochen bis Monate. Viel länger wirkt der Schmerz, den Verlust zu verarbeiten. Dafür war in der Bundesrepublik wenig, in der DDR gar kein Raum. Das lag nicht zuletzt daran, dass der BdV unnachgiebig Mitleid und Kompensation, wenn nicht Rückerstattung einforderte und damit das Diskussionsklima vergiftete. Der BdV hat das Thema "Vertreibung" besetzt und alle anderen Stimmen unter den Tisch gekehrt. Und genau das Gleiche ist nun noch einmal passiert: Der Grundsatzbeschluss des Bundestages vom 4. Juli 2002, einen "europäischen Dialog über die Einrichtung eines europäischen Zentrums gegen Vertreibungen" zu führen, wäre ohne die unermüdliche Lobbyarbeit von Erika Steinbach nicht zustande gekommen. Und nach dem Beschluss - welch Wunder - stellte sich heraus, dass die Institution mit dem merkwürdigen Namen bereits eingerichtet ist. Es gibt ein "Zentrum gegen Vertreibungen", und solange es wie bisher eine Einrichtung des BdV ist, wird es unmöglich sein, es grundlegend zu verändern.

Doch bevor man versucht, mit Gegengründungen dem BdV das Wasser abzugraben, wäre es sinnvoll, noch einmal zu überlegen, welche Art der Auseinandersetzung über die deutsche Geschichte jenseits von Oder und Neiße die Gesellschaft der Bundesrepublik wirklich braucht. Ist es wirklich nur die Erinnerung an die Vertreibung? Oder ist es nicht viel mehr die Erinnerung an das gelebte Leben der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern vor der Vertreibung und auch nach der Vertreibung? Ist es nicht auch die Geschichte des nationalsozialistischen Pommerns, Schlesiens und Ostpreußens? Sind es nicht die Geschichten vom Leben an der Schneekoppe und auf der Kurischen Nehrung, die im allgemeinen Bewusstsein fehlen? Dafür aber, das zeigen die Romane von Stephan Wackwitz und Reinhard Jirgl, die Filme von Volker Koepp, brauchen wir weder den BdV noch ein europäisches Zentrum. Betrachten wir Frau Steinbachs Bemühungen als ein Lehrstück für Lobbyarbeit und wenden uns den wesentlichen Fragen zu.

SABINE VOGEL

Donnerstag, 21. August 2003

Türken bleiben unter sich

Ausländerbeauftragte: Probleme durch Ghettoisierung - Integrationsarbeit verpufft

Von Jörg Alisch

Das Klischee ist tief verwurzelt: Kreuzberg = Klein-Istanbul. Die U 1 heißt im Volksmund schon seit ewigen Zeiten "Orient-Express". Der Wochenmarkt am Maybachufer ("Türkenmarkt") ist längst eine Gesamtberliner Multikulti-Institution. Und auf der Brücke über der Adalbertstraße steht zweisprachig "Zentrum Kreuzberg - Kreuzberg Merkezi". In der Tat überschreitet eine unsichtbare Grenze, wer aus Richtung Westen kommend auf der Oranienstraße den Oranienplatz überquert.

47 058 Ausländer lebten Ende 2002 in Kreuzberg, das damit den höchsten Ausländeranteil aller Berliner Alt-Bezirke hat. Darunter waren allein 23 845 türkische Staatsbürger. Und wo der heutige Stadtteil mit 24 Prozent Arbeitslosen ohnehin in der Berliner Statistik mit ganz vorne liegt, da sind sogar 42 Prozent der Türken arbeitslos. 41,5 Prozent der unter 18-jährigen Ausländer leben in Kreuzberg von Sozialhilfe. 26,4 Prozent der ausländischen Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss.

Die meisten Türken leben in der zweiten Generation hier, sind längst keine Gastarbeiter mehr. Viele betreiben Firmen und Geschäfte speziell für die Bedürfnisse ihrer Landsleute: türkische Cafés und Restaurants, Reisebüros, Zeitungsredaktionen. Sie sind Rechtsanwälte, Zahnärzte oder Betreiber von Internet-Cafés und Telefonläden.

Und doch: "Am meisten zu schaffen macht uns nach wie vor die Ghettoisierung", sagt Ulrike Ehrlichmann, Ausländerbeauftragte von Friedrichshain-Kreuzberg. "Die Türken bleiben unter sich, in ihren Familien und im Dunstkreis ihrer Landsleute. Wie sollen wir Integrationsarbeit leisten, wenn alle unsere Initiativen am mangelnden Interesse verpuffen? Wenn mit Geld des Quartiermanagements etwa ein Spielplatz wiederhergerichtet worden ist, wird er dankbar in Anspruch genommen, aber von Eigeninitiative vorher kann keine Rede sein."

Neben der Sprachbarriere - "Bereits in den Kitas sind oft 60 bis 70 Prozent Türken, da wird dann allen Einwirkungen zum Trotz Türkisch gesprochen" - sieht die Ausländerbeauftragte auch im Islam einen Grund für die Abschottung: "Die Abgeschlossenheit der Gemeinden gegenüber der deutschen Zivilgesellschaft und Verwaltung ist - teils aus Angst, teils wegen der Sprachschwierigkeiten - sehr hoch. Am besten funktioniert das Zusammenleben noch über Mütterkurse, wo die Frauen über ihre Kinder in Kontakt kommen."

Ein solches soziales Klima begünstigt auch Kriminalität. "Es ist unmöglich, aus dem Kottbusser Tor ein gutbürgerliches Umfeld zu machen", sagt Jörg Wuttig, Leiter des für den Bereich zuständigen Polizeiabschnitts 53. Nach Wuttigs Angaben waren 2002 an etwa 50 Prozent der Fälle von gefährlicher Körperverletzung in der Öffentlichkeit ausländische Täter beteiligt, bei Drogenvergehen waren es etwa 40 Prozent, bei Straßenkriminalität rund 45 Prozent. "Insgesamt werden 40,6 Prozent aller Straftaten hier von Tätern ausländischer Herkunft begangen. Andererseits haben wir inzwischen keine Probleme mehr mit organisierten türkischen Jugendbanden."

Trotz aller Probleme: Der Kiez um das Kottbusser Tor ist nach wie vor ein von vielen geliebtes Wohnumfeld. "Es wäre eine Katastrophe, wenn jetzt aus irgendeinem Grund plötzlich alle türkischen Obstgeschäfte oder Döner-Läden nicht mehr da wären" , sagt Horst Wiessner (81), seit drei Jahrzehnten im Kiez ansässig und Vorsitzender des Mieterbeirats im Zentrum Kreuzberg, der 1000 Mieter vertritt. "Sicher sind nicht alle Nachbarn zufrieden mit der Umgebung, aber alles in allem leben wir mit den Türken in guter Nachbarschaft, denn das sind nette Menschen."

Donnerstag, 21. August 2003

Nazihaupt auf Litfaßsäulen in der City
Szene-Köpfe versuchen, aktionsorientierte rechte Jugendliche zu gewinnen 
 
Von Rainer Funke 
 
Rotschwarze Plakate hängen an Litfaßsäulen in der City, etwa am Spittelmarkt und in der Leipziger Straße. Sie sind seit Wochen »in erklecklicher Zahl« stadtweit geklebt worden, wie Berlins Verfassungsschutzsprecher Claus Guggenberger sagt. Auf ihnen wird das Nazioberhaupt und Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß zum Friedenskämpfer gemacht, zum Märtyrer erklärt und sein Selbstmord als Mord hingestellt. Der Mann verbüßte bekanntlich im ehemaligen Militärgefängnis Spandau eine lebenslange Haft wegen »Verschwörung gegen den Weltfrieden« und »Planung eines Angriffskrieges«, so das Urteil von Nürnberg, und erhängte sich am 17. August 1987 mittels eines Verlängerungskabels an einem Fensterriegel.
Zur Urheberschaft des Plakates gibt sich ein bisher weniger bekanntes und mehr im Internet agierendes »Nationales und Soziales Aktionsbündnis Mitteldeutschland« zu erkennen, an anderer Stelle »Nationaler Widerstand Berlin-Brandenburg« genannt. Dem Vernehmen nach sieht sich die konspirative Gruppe als Koordinator diverser Neonazi-Cliquen und Kameradschaften weit über Berlin und das Umfeld hinaus. Sie bestehe aus nicht einmal einer Hand voll Neonazis, die aber den Eindruck einer umfänglichen Gruppe erwecken wollen, wie Guggenberger meint.
Auf seiner Internetseite wirbt das Aktionsbüro mit dem Bild einer vermummten Gestalt und dem Schlagwort »Good Night – Left Side, Taten statt Worte« für eine Truppe, die sich als »Autonome Nationalisten Berlin« bezeichnet. Dabei handelt es sich dabei um ein seit Mitte 2002 existierendes Projekt mit einem bislang »eher appellativen, nach innen gerichteten Charakter« und einen neuerlichen Versuch führender Kameradschafts-Aktivisten, »aktionsorientierte Jugendliche zu mobilisieren und an sich zu binden«. Thematisiert wird vor allem ein militanter Kampf gegen Antifa-Gruppen. Auf einem Demo-Spruchband des Aktionsbüros stand beispielsweise geschrieben, man möge einen nationalen schwarzen Block organisieren, die örtlichen Anti-Antifa-Trupps unterstützen und zurückschlagen.
Das Aktionsbüro dürfte eine Reaktion von Köpfen der Berliner Neonazi-Szene sein, die mit den derzeitigen Aktivitäten der Kameradschaften unzufrieden sind. Die Kameradschaft »Germania« hatte sich im vorigen Jahr aufgelöst, nachdem der Versuch gescheitert war, einen Kameradschafts-Bund unter ihrer Führung zu installieren. Ohnehin war die Zahl solcher Neonazi-Vereine von einst einem Dutzend auf vier geschrumpft.
Wer sich für Nazi-Plakate an Litfaßsäulen und die Entfernung derselben zuständig fühlen muss, war mit dem Bezirksamt Mitte bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe nicht zu klären.

Freitag, 22. August 2003

Kaputt gespielt

Als in der Brunowstraße in Berlin-Reinickendorf plötzlich keiner mehr beim Juden kaufte
Von Axel Vornbäumen (Berlin)

Es gibt nur einen einzigen Grund, warum im Folgenden die Geschichte des Lebensmittelhändlers Dieter T. erzählt wird, ohne dessen vollständigen Namen zu erwähnen: Dieter T. ist Jude.

Diese Geschichte hat sich in Berlin ereignet. Sie zog sich ein deprimierendes Jahr lang hin, bis sie schließlich im Sommer 2003 ihr Ende fand. Sie soll, wenn das denn gelingt, möglichst nüchtern erzählt werden, unaufgeregt, in etwa so, wie Dieter T. sie auf seinem Ledersofa schildert in seinem kleinen Wohnzimmer irgendwo in der Anonymität Berlins. Er sagt: "Ick bin einfach kaputt jespielt worden."

Kaputt gespielt. Berlin-Reinickendorf, Brunowstraße, ein eher kleinbürgerlicher Kiez im Norden der Hauptstadt. Etwa sechs Jahre lang hat T. hier sein Einzelhandelsgeschäft. "Ein typischer Tante-Emma-Laden halt", wie er sagt, mit einem kleinen Frühstücksservice dabei, die Tasse Kaffee für 80 Cent, die zweite, manchmal sogar noch die dritte umsonst nachgeschenkt, der familiären Atmosphäre wegen. Sechs Jahre. Die Geschäfte laufen passabel. T. ist akzeptiert. Er hat sein Auskommen. Der Laden - es ist ein Treffpunkt in der Gegend, von morgens um 6 Uhr bis abends um 19, manchmal 20 Uhr. Man kennt sich. Man achtet sich. "Es war", sagt Dieter T., "mein Leben."

Es war sein Leben. Und vielleicht war es nie so stimmig wie gerade in jenen Tagen im Mai vergangenen Jahres: Da rüstet der gläubige Jude Dieter T. seinen Tante-Emma-Laden in ein koscheres Lebensmittelgeschäft um, nach zuvor intensiven Gesprächen mit seinem Rabbiner. Schweinefleisch ist tabu, T. verkauft nichts mehr, was er nicht auch selber essen würde. Er nennt den Laden "Israel-Deli", hat israelische Produkte im Angebot, ein Delikatessengeschäft, die Schaufensterscheibe beklebt er mit Davidsternen.

"Ich dachte", sagt T., "dass es eine Bereicherung wäre, ein Stück Kultur." Vor dem Laden hängt fortan die Flagge Israels, an den Wänden hängen Ausdrucke aus dem Internet, in denen die Bedeutung des Wortes "koscher" erklärt wird. Die Geschäfte laufen - normal.

Knapp vier Wochen lang. Dann tauchen eines morgens zum ersten Mal zwei Autos vor seinem Laden auf. Junge Leute, Neonazis. Sie kommen nicht regelmäßig, aber sie kommen oft. Und sie pöbeln, mal halb-laut, mal laut: "Juden-Laden". "Judensau". Es sind die Anfänge - und Dieter T. kann sich nicht wehren. Nicht direkt. Er fühlt sich nicht bedroht, eher belästigt. "Sie haben diese Sprüche losgelassen, bei offenem Fenster. Als ob sie sich mit sich selbst unterhalten würden. Ich konnte nichts gegen sie tun."

Einen Monat geht das so, anderthalb. Nicht regelmäßig, aber oft. Es geht an die Nerven. Dieter T. öffnet seinen Laden für gewöhnlich um 6 Uhr, doch bereits ab 5 Uhr steht die Ladentür offen. T. ist im hinteren Teil des Geschäfts, bereitet Kaffee vor, schmiert Schrippen. Jahrelang hat er das so gemacht. Die Stammkunden wissen das. Sie stehen vor verschlossener Tür, weil T. aus Sicherheitsgründen den vorderen Teil des Ladens nicht unbeaufsichtigt lassen will. Die ersten Kunden bleiben weg, gehen eine Ecke weiter. Das Frühstücksgeschäft bricht ein. Dieter T. entschließt sich, seinen Laden erst später auf- zumachen - um 9 Uhr, da ist es hell.

Doch der Niedergang des Geschäfts geht unaufhaltsam weiter. Wenn T. morgens zu seinem Laden kommt, ist die Scheibe bespuckt, besonders das Wort "kosher", das er in englischer Schreibweise angeklebt hatte - "das musste offenkundig immer doppelt bespuckt werden". Dieter T. putzt seine Scheibe, putzt auch den Urin weg, mit dem sein Laden regelmäßig besudelt wird. Der Kampf um seine Existenz hat begonnen, der eklige Kampf. T. kämpft ihn tapfer, verbissen.

Er ist auf verlorenem Posten. T.s "Israel-Deli" wird plötzlich zum bevorzugten Ziel für Pöbeleien arabischer Jugendlicher. Sie spucken bei helllichtem Tag an die Schaufensterscheibe, schmeißen mit Sand auf die vor dem Laden aufgestellten Stehtische, reißen die Fahne herunter. Die Kunden fühlen sich belästigt, vor allem: Sie fühlen sich bedroht. In der Brunowstraße kippt die Stimmung. "Wie schnell das geht", sagt Dieter T., und: "Ich kann das ja verstehen." Im Mietshaus, in dem er sein Geschäft hat, haben sie Angst vor Anschlägen, Angst, dass mal ein Molotow-Cocktail in den Laden fliegt. Eines Tages steht ein Karton vor seiner Tür. T. öffnet ihn vorsichtig, mit einem an einem langen Stock befestigten Messer. Es ist nur Sand drin. Nur Sand.

T. macht weiter. Macht weiter, obwohl die Umsätze sinken. Macht weiter, obwohl er registriert, dass ein Teil seiner Stammkunden begonnen hat, die Straßenseite zu wechseln. Er macht weiter, obwohl ihm im Dezember die Scheibe eingeworfen wird. Er macht weiter, obwohl die Stimmung sich gegen ihn gewandt hat, gegen ihn, den Juden. Im Laden wird der Hitlergruß gezeigt, knallen Hacken zusammen. Die Kneipe in der Nachbarschaft, die T. gelegentlich beliefert, stört sich plötzlich am Belag der Schrippen - dabei, sagt T., "waren es immer zwei Scheiben auf jeder Hälfte". Dieter T. wird angezeigt. Mehrfach kommt die Lebensmittelaufsichtsbehörde in seinen Laden, weil seine Waren angeblich nicht ordnungsgemäß ausgezeichnet seien.


Dieter T. ist dort angelangt, wo er sich nicht hätte vorstellen können, jemals zu sein: In der Brunowstraße in Berlin-Reinickendorf ist er nun der Jude, bei dem man nicht mehr kauft. Es ist Frühsommer in Berlin, 2003.
Das "Israel-Deli" wird zum Zuschussgeschäft. Es gibt Tage, an denen der Laden, der früher bis zu 400 Euro Umsatz verzeichnete, keine zehn Euro mehr abwirft. Es ist eine ökonomische Entscheidung. Dieter T. kann die Miete nicht mehr bezahlen, nicht mehr die Schulden. Er steigt aus, bevor er sich völlig ruiniert. Gerade noch rechtzeitig. Er sagt: "Ick bin kaputt jespielt worden."

Es ist ein stiller Abgang in die Anonymität der Großstadt. Ein unheimlich stiller Abgang. Die Lokalpresse berichtet nicht. Die umliegenden Einzelhändler schweigen. Niemand meldet sich, nicht das Bezirksamt, nicht die Parteien. Einzig im Internet sorgt das Verschwinden des Dieter T. nachhaltig für Wallung. Die Rechtsextremen frohlocken.

In seiner kleinen Wohnung, irgendwo in Berlin, ist Dieter T. am Ende seiner Geschichte angekommen. Er ist nun 60, und will noch einmal neu anfangen. In Israel. Bei der Botschaft hat er die Einreisepapiere beantragt. Seine Frau soll dann später nachkommen, wenn die Schulden abbezahlt sind. Dieter T. wäre ohnehin gegangen - nur eben jetzt noch nicht, noch nicht so früh.

An einer Wohnzimmerwand, über dem Regal, in dem der Talmud steht, hängen die Fotos von seiner Familie - "eigentlich fast alle ins KZ abgewandert". Dieter T. sagt, er habe eigentlich sein Leben lang das Gefühl gehabt, "dass das in Deutschland gar nicht so schlimm ist".

Schon gar nicht an dem Tag, im Frühsommer 2002, als plötzlich eine Kundin in seinem Laden stand und sagte: "Wissen Se, ick bin ooch Jude." T. flüstert, als er die Frau nachmacht.

Samstag, 23. August 2003

STIFTUNG GEGEN RECHTS

Vorsitzende Kahane

Die Berliner Journalistin und Übersetzerin Anetta Kahane soll hauptamtliche Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung werden. Bevor vor einem Jahr ihre Stasi-Tätigkeit bekannt wurde, war Kahane auch als Berliner Ausländerbeauftragte im Gespräch gewesen. (epd)

Montag, 25. August 2003

"Migranten haben keinen Persilschein"

Dogan Akhanli und Heinz Humbach vom NS-Dokumentationszentrum über Verantwortung von Migranten für das Entstehen von Fremdenfeindlichkeit. Türken, Kurden oder Griechen, die auf Dauer in Deutschland leben, sollen wissen, wohin Rassismus führen kann

taz: Am Beispiel der NS-Vergangenheit sollen Migranten einen kritischen Umgang mit Geschichte erlernen, um so die Bundesrepublik richtig verstehen zu können. Was heißt das konkret?

Dogan Akhanli: In der Türkei wurde Türken oder Kurden nie ein kritischer Umgang mit Geschichte vermittelt,sondern eine staatstreue Linie. Wir kennen keine Vergangenheitsbewältigung. Von daher haben türkischstämmige Migranten in Deutschland eine andere Haltung zur Geschichte. Sie verdrängen und verleugnen aufgrund der eigenen Geschichte und haben auch kein Interesse, dies zu ändern. Und diese Haltung finde ich für uns Migranten sehr problematisch. Sie fordern immer ihre Rechte als Minderheit, aber sie sind nicht bereit, für den selbst verursachten Rassismus Verantwortung zu übernehmen. Deshalb wollen wir ihnen einen anderen Umgang ermöglichen. Denn auch Migranten haben nicht nur Rechte, sondern als Teil der deutschen Gesellschaft auch Pflichten.

Heinz Humbach: Die Türkei ist ja nun nicht immer als demokratisches Land bekannt, also auch dort hat es Terror und Unterdrückung gegeben. Man kann Vergleiche ziehen und erfahren, wohin Rassismus führt. Wohin führt das, wenn ich andere Leute wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer anderen nationalen, religiösen oder sonstigen Gruppierung eben für weniger wertvoll halte. Was ist am Ende das Ergebnis? Und als Immigrant ist man dem heutigen Rassismus und Nationalismus besonders ausgesetzt. Von daher müsste man als Türke, Kurde oder Grieche, der auf Dauer hier lebt, wissen, wohin Rassismus führen kann. Also zu begreifen, egal welche Hautfarbe oder Nationalität nun der eigene Gott oder Nachbar hat, dass dies nicht maßgebend dafür ist, wie man zu ihm steht. Zu erkennen, wenn ich meine eigenen Rechte wahrnehmen will - ob religiös oder kulturell -, dann muss ich auch dazu beitragen, dass andere ihre Rechte wahrnehmen können.

Das sind aber Prozesse, die ihre Zeit dauern und nur durch Wissen vermittelt werden können.

Akhanli: Das stimmt. Die meisten türkischstämmigen Migranten wissen nichts über Rassismus und Rechtsextremismus. Aber nur weil Türken oder Immigranten Opfer von Rechtsextremismus sind, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht auch rassistisch oder antisemitisch sind. Wir sind ja nicht mit leeren Köpfen gekommen, aber viele denken, dass sie als Migranten einen Persilschein haben. Wenn wir den Immigranten bei solchen Auseinandersetzungen eine Sonderbehandlung zukommen lassen, dann schüren wir einen positiven Rassismus. Das ist ein Problem. Wir Türken und Kurden haben viele Konflikte - ob nun verachtende Redewendungen, sexistisches Verhalten oder sonst was. Ich persönlich werde ja sogar von meinen türkischen Freunden als israelischer Geheimagent denunziert und beschimpft, weil ich über den Armeniergenozid schreibe. Mit diesen Führungen wollen wir sensibilisieren und zeigen, wie man mit Geschichte umgehen kann.

Humbach: Mein besonderes Interesse an der Aufarbeitung der Nazizeit rührt natürlich auch von meiner persönlichen Vergangenheit her. Aber als Ausländer oder Bürger mit einem anderen Pass, reicht ein Faktenwissen allein über diese Zeit nicht aus. Denn was nützt es, zu wissen, dass 6 Millionen Juden umgebracht wurden, wenn jemand sagt, was solls, das hat ja mit uns nichts zu tun? Genau an dieser gefährlichen und arroganten Haltung möchten wir ansetzen. Darüber nachzudenken, unter welchen Bedingungen haben sich die Leute damals angepasst, mitgemacht und sind dann Schritt für Schritt vom ganz gewöhnlichen Deutschen zu Schuldigen, Tätern oder Mittätern geworden.

INTERVIEW: SEMIRAN KAYA

Dienstag, 26. August 2003

Unmut über NPD-Bildungszentrum

Bauantrag ist genehmigt - Köpenicker Jugendbündnis fordert Diskussion der politischen Folgen

Von Sabine Flatau

Überraschung und Unruhe ruft in Köpenick das geplante Bildungszentrum der NPD auf dem Gelände der Parteizentrale an der Seelenbinderstraße hervor. "Seit einigen Jahren geht die Zahl der gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Rechtsextremen zurück, aber jetzt könnte wieder ein Brennpunkt entstehen", befürchtet Conny Heidrich vom Jugendbündnis "Bunt statt braun".

Zusätzlich müsse man sich auf eine subtilere Auseinandersetzung mit rechtem Gedankengut einstellen. "Bislang suchten ältere, gesetzte Herren die NPD-Zentrale auf, künftig werden sich dort auch der Jugendverband und die Studentenorganisation der NPD treffen." Conny Heidrich fordert, dass die politischen Folgen des Bildungszentrums öffentlich diskutiert werden. "Das hätte schon längst passieren müssen, denn die Bezirksverwaltung kennt das Vorhaben seit langem." Im März sei die Baugenehmigung erteilt worden, im Herbst wolle man mit dem Bau beginnen, sagt NPD-Pressesprecher Klaus Beier. Baustadtrat Dieter Schmitz (SPD): "Der Bauantrag ist ordnungsgemäß gestellt worden. Wir können eine Genehmigung nicht verweigern, weil uns die Partei missfällt. Es ist außerdem kein riesiges Bauvorhaben."

Das zweistöckige Gebäude soll auf dem Hof der Parteizentrale entstehen. Auf insgesamt 300 Quadratmetern ist ein Schulungsraum für 60 Personen geplant. Zimmer zur Unterbringung von Seminarteilnehmern sollen eingerichtet werden, außerdem die Zentralbibliothek. Die Kosten liegen bei 180 000 Euro, rund 50 000 Euro muss die NPD noch auftreiben. "Die Arbeiten sollen unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen ablaufen", sagt Beier. Bereits jetzt sei das Grundstück gut bewacht.

Bürgermeister Klaus Ulbricht (SPD) zeigt sich überrascht und schockiert vom geplanten NPD-Bildungszentrum. Der Schirmherr des Bündnisses für Demokratie und Toleranz in Treptow-Köpenick will das Thema beim nächsten Treffen des Bündnisses im September diskutieren. "Alle demokratischen Parteien und Vereine müssen sich auf eine stärkere inhaltliche Diskussion mit rechtsextremen Kräften einstellen." Er erwarte jedoch keine großen Konflikte. Es gebe keine rechtliche Möglichkeit, den Bau zu verhindern, da das NPD-Verbot gescheitert sei. Eine Anwohnerin aus der Seelenbinderstraße sagt: "Glücklich sind wir mit dieser Einrichtung nicht. Aber wenn sich das Bezirksamt dagegen nicht wehren kann, was sollen wir dann tun?"

Info: Parteizentrale

Im Februar 2000 zog die NPD-Parteizentrale von Stuttgart nach Köpenick. Als Reaktion darauf bildeten sich das Jugendbündnis "Bunt statt braun" und auf Beschluss der BVV das Bündnis für Demokratie und Toleranz, gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Die NPD hat nach Aussagen ihres Pressesprechers etwa 300 Mitglieder in Berlin.

Mittwoch, 27. August 2003

Menschen in der Illegalität
Anne Frank Zentrum zeigt eindrucksvolle Fotografien 
 
Von Uta Herrmann 
 
In der Ausstellung »Leben in der Illegalität« – ein Gemeinschaftsprojekt vom Anne Frank Zentrum und dem Caritasverband für Berlin e.V. – bekommen Schattenmenschen Gesichter. Die Aufnahmen der Fotojournalistin und Filmemacherin Nina Rücker belegen eindrucksvoll, dass die Illegalität viele Facetten hat.
Menschen, die sich illegal in Deutschland aufhalten, gehen täglich an uns vorbei. Sie bemühen sich aber, nicht wahrgenommen zu werden. Sie wohnen und arbeiten hier, ihre Kinder gehen in den Kindergarten oder zur Schule. Dennoch: Menschen ohne Papiere besitzen keinerlei Rechte, die sie einklagen könnten.
Auf Grund des Stigmas Illegalität sind sie de facto vom öffentlichen Gesundheitssystem ausgeschlossen, von Obdachlosigkeit bedroht, können keine Ausbildung oder legale Arbeit aufnehmen, obwohl Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft bestünde. Sie sind mittlerweile keine Einzelfälle mehr und leben nicht am Rande, sondern mitten unter uns. In Berlin halten sich schätzungsweise 100000 Menschen heimlich auf. Die Erfahrungen deuten darauf hin, dass die Zahl steigt.
Es gibt nicht nur die Bilder von Razzien, Verhaftungen, Polizeikontrollen oder Abschiebungen. Auch der für uns so normale Alltag der Menschen mit Kindern auf dem Weg zur Schule oder auf dem Spielplatz, bei der Arbeit oder beim Arzt werden gezeigt. Dennoch ist dies für Menschen ohne Aufenthaltsrecht nicht normal. Sie versuchen, sich korrekt und unauffällig zu verhalten. Sie leben in ständiger Angst, entdeckt zu werden. »Schwarzfahren« kann für einen »Illegalen« Haft oder Abschiebung bedeuten.
»Ich fühlte mich so elend als Mensch ohne Ausweis und wurde wie ein Schwerverbrecher behandelt. Es ist eine Katastrophe, so zu leben.« Der Mann aus Laos wurde zum »Illegalen«, weil er nach dem Studium nicht nach Hause zurückkehrte. Er schildert sein Schicksal in einem der drei Filme, die zur Ausstellung gehören.
»Mit dieser ersten Wechselausstellung im Anne Frank Zentrum möchten wir nicht nur das Angebot unseres Hauses bereichern. Ein Anliegen ist es, Menschen, die sonst nicht offiziell in der Gesellschaft vorkommen, in der Öffentlichkeit ein Gesicht zu geben,« meint Thomas Heppener, Vorstandsvorsitzender des Zentrums.
Auch dem Kooperationspartner Caritasverband für Berlin, der sich stark für illegal lebende Menschen engagiert und humanitäre Hilfe leistet, war es wichtig, auf die Schicksale von Menschen ohne Papiere öffentlich aufmerksam zu machen. »Wir hoffen, vor allem Schüler und Jugendliche für das Leben von ausgegrenzten Migranten zu sensibilisieren«, wünscht sich Ursula Reishaus vom Caritas-Migrantendienst. »Sie sollten sich aktiv mit den heutigen Gründen von Flucht auseinander setzen.«
Während die Organisation von lateinamerikanischen Migranten in Berlin »Solatina« ein Bleiberecht für Menschen ohne Papiere fordert, sieht der Beauftragte des Senats für Integration und Migration, Günter Piening, keinen Weg, mittelfristig aufenthaltsrechtliche Veränderungen zu erlangen. »Die Illegalität in Berlin ist eine Realität, mit der wir umgehen müssen. Wir wissen, dass es ein Netzwerk von Helfern gibt, das sehr gut funktioniert.«
Die Ausstellung, die Fotos von Opfern und aktive Menschen zeigt, wird durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Civitas-Programms gefördert. Sie ist vorerst bis zum 10. September im Anne Frank Zentrum zu sehen. Weitere Ausstellungsorte sind vor allem Städte im Osten Deutschlands.

Anne Frank Zentrum, Rosenthaler Str. 39, 10178 Berlin, Tel.: 30872988.

Donnerstag, 28. August 2003

Skandal hinter Gittern?

Frühere Rechtsextremistin soll trotz Vorstrafe Wärterin werden

Von Frank Jansen

Die Schlagzeilen schreien „Justizskandal“ und erschrecken die Leser mit Rufen wie „Nazi-Braut soll Justizbeamtin werden“ und „Nazi-Schlägerin wird Knast-Wärterin“. Für einige Blätter scheint der Fall klar zu sein: Es darf nicht sein, dass eine Frau, die 1992 an einem Anschlag auf ein Asylbewerberheim beteiligt war, heute zur Justizvollzugsobersekretärin – also Gefängniswärterin – ausgebildet wird. Dass eine „Nazi-Braut“ nun Nazi-Schläger bewachen soll. Doch es könnte sein, dass die Boulevardpresse irrt – und sich der Fall Monika S. als eines der seltenen Beispiele gelungener Resozialisierung erweist.

Sommer 1992. Im Osten ziehen junge Rechtsextremisten vor Flüchtlingsheime und randalieren. Die Krawalle in Rostock sind der Höhepunkt. Auch die Asylbewerberunterkunft in Lübbenau ist Angriffsziel. An einer Attacke beteiligt sich Monika S., Mitglied der Neonazi-Organisation „Deutsche Alternative“. Mit zwei anderen Frauen wirft sie in der Nacht zum 24. Juli Brandflaschen auf das Heim, in dem 130 Asylbewerber leben. Der Hausmeister und eine Polizeistreife können das Feuer rechtzeitig löschen.

Im Januar 1993 verurteilt das Kreisgericht Lübben Monika S. zu zweieinhalb Jahren Haft. Ihre Komplizinnen kommen mit Bewährungsstrafen davon. Monika S. verbüßt zwei Drittel ihrer Strafe und wird auf Bewährung entlassen. Während der Haft im Gefängnis Luckau spricht sie mit dem Tagesspiegel. Monika S. sagt hässliche Sätze über Asylbewerber. „Wenn denen was passiert, das stört mich nicht, das sind für mich keine Menschen“ und ähnliches.

Seitdem sind zehn Jahre vergangen. Was hat sich bei S. getan? 2002 erkundigt sie sich, inzwischen Mutter von drei Kindern, bei der SPD, wie man Mitglied wird. Allerdings meldet sich S. dann nicht mehr. In Justizkreisen heißt es, die Frau habe sich in der Ausbildung bewährt. Und sie habe geweint, als jetzt ihre Biographie plötzlich in die Schlagzeilen geraten ist. Dabei hat Monika S. von ihrem Arbeitgeber, dem Justizministerium, nichts zu befürchten. Der Behörde ist die Vergangenheit von Monika S. schon bekannt.

Im April 2002 hat S. ihre Ausbildung begonnen. Warum die Frau ins Gefängnis zurückwill, diesmal als Wärterin, ist unklar. Monika S. war gestern für den Tagesspiegel nicht zu erreichen. Kurze Zeit nach Beginn ihrer Ausbildung hat es Ärger gegeben: Bei einem Praktikum in der JVA Cottbus wird S. von Wärtern wiedererkannt, die einst in Luckau Dienst hatten. Das Brandenburger Justizministerium befasst sich mit dem Fall und kommt zu dem Schluss, dass es keinen Grund gibt, S. zu entlassen. Sie gilt als „engagiert“, wird überprüft und besteht im November einen Persönlichkeitstest.

Es gebe keinen Skandal, sagt Ministeriumssprecherin Petra Marx. Vielmehr handele es sich um einen „gelungenen Fall der Resozialisierung“. Und die Fortsetzung der beruflichen Laufbahn von Monika S. „hängt nicht vom Geschrei der Boulevardpresse ab“