Presseschau November 2003
Die Presseschau ist ein Service des durch  entimon geförderten Projektes respectabel.de

Hier finden Sie eine Auswahl unserer Redaktion von Artikeln des täglichen Pressespiegels

Donnerstag, 23. Oktober 2003

Fundstücke deutscher Geschichte

Ausstellung über das Haus Rosenthaler Straße 39

Als "deutsche Geschichte im Brennglas" hat Bundestagspräsident Wolfgang Thierse die Ausstellung "Fundstücke" beschrieben. Bis zum 28. November werden im Haus Rosenthaler Straße 39 im Bezirk Mitte kleinere und größere Alltagsgegenstände gezeigt, die mit der Historie des Komplexes eng verbunden sind. Dokumente zur Rosenthaler Straße 39 können studiert werden. Zeitzeugen erinnern sich in Video-Interviews. Auf diese Weise möchten die Ausstellungsmacher die verborgene Geschichte des großen Geländes lebendig machen. Während der NS-Zeit waren dort in der Blindenwerkstatt von Otto Weidt Juden versteckt worden.

Die vom Anne Frank Zentrum, dem Verein Schwarzenberg und der Blindenwerkstatt Otto Weidt konzipierte Schau ist auch aus aktuellem Anlass enstanden: Am 4. November soll bei einer Auktion das gesamte Gelände an der Rosenthaler Straße verkauft werden. Die Vereine fürchten bereits um ihren Standort.

Für das Projekt "Fundstücke" sollen Jugendliche bis Ende November eigene Interpretationen zur Geschichte des Hauses abliefern. Wie wichtig die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist, machte Thierse deutlich: Mit mehr als 700 rechtsextremen, politisch motivierten Straftaten im August sei ein Höchststand erreicht. Noch nie zuvor seien in einem Monat so viele Taten registriert worden. (mm.)

Die Ausstellung "Fundstücke" in der Rosenthaler Straße 39 (Mitte) ist dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Anmeldungen für Schulklassen unter der Telefonnummer 3087 2988.

Samstag, 25. Oktober 2003

Potzlow-Prozess endet mit hohen Haftstrafen

Gericht wertet Mord an Marinus Schöberl nicht als Gemeinschaftstat der drei angeklagten Neonazis

Jens Blankennagel

NEURUPPIN. Keine dreißig Minuten nach Verkündung des Urteils im Prozess um die Ermordung des 16-jährigen Schülers Marinus Schöberl steht einer der drei Angeklagten am Freitagnachmittag rauchend vor dem Landgericht Neuruppin. Nicht nur viele Prozessbeobachter sind überrascht, dass er vorläufig frei ist. Auch er selbst. "Damit habe ich nicht gerechnet", sagt der 18-jährige Sebastian F. sichtlich erfreut. Ein glatzköpfiger Kumpel sagt zu ihm: "Jetzt kannst du ja ein Bier schlürfen gehen."

In dem fünf Monate währenden Mordprozess war dem jungen Mann vorgeworfen worden, Marinus am 12. Juli 2002 mit zwei anderen Neonazis in Potzlow stundenlang geschlagen, beleidigt, als Juden beschimpft und auf ihn uriniert zu haben. Die Anklage sah es als erwiesen an, dass er mit den anderen später geplant hat, Marinus in einem Stall nach dem Vorbild des Films "American History X" zu ermorden. Klar ist: Die drei Täter hatten Marinus gezwungen, in die Kante eines steinernen Futtertrogs zu beißen, dann war ihm der Hauptangeklagte Marcel Sch. mit seinen schwarzen Springerstiefeln auf den Kopf gesprungen. Um sicher zu gehen, dass er stirbt, warf er ihm dann noch zweimal einen Stein auf den Kopf.

Nach dem Jugendstrafrecht drohte Sebastian F., der zur Tatzeit wie der Haupttäter minderjährig war, eine Höchststrafe von zehn Jahren. Die Staatsanwaltschaft forderte neun Jahre und acht Monate, der Verteidiger war gegen eine Haftstrafe, wollte nur erzieherische Maßnahmen. Richterin Ria Becher verhängte eine Strafe von zwei Jahren. Die muss Sebastian F. erst antreten, wenn das Urteil rechtskräftig ist. Die unterschiedlichen Vorstellungen vom Strafmaß drücken die Schwierigkeit des gesamten Prozesses aus. Wie soll ein Mord ohne wirkliches Motiv geahndet werden, begangen von betrunkenen Jugendlichen mit bestenfalls unterdurchschnittlicher Intelligenz? Wie lässt sich erklären, dass sie Marinus, den sie seit Jahren kannten, "ohne Grund und Anlass" ermordeten? Die Staatsanwaltschaft sah darin eine bestialische Tat, die ihren Ursprung im rechtsextremistischen Gedankengut der Angeklagten hatte. Marinus hatte mit seinen weiten Hosen und den gefärbten Haaren dem Feindbild der rechtsradikal eingestellten Angeklagten entsprochen, deshalb haben sie ihn misshandelt. "Sie wollten ihn demütigen und ihre Überlegenheit demonstrieren", sagte auch die Richterin.

Doch der eigentliche Mord ist laut Gericht keine gemeinsame rechtsextremistisch motivierte Tat, denn die soll Marcel Sch. allein begangen haben. Obwohl die anderen daneben standen, Marinus gar gezwungen hatten, vor dem tödlichen Sprung in den Trog zu beißen. "Sie hatten den Sprung nicht für möglich gehalten", sagte die Richterin. Daher wurde nur der Haupttäter wegen Mordes verurteilt - zu acht Jahren und sechs Monaten Haft. "Er wollte das Gefühl erleben, wie es ist, zu töten. Und er wollte seinem Bruder und Sebastian imponieren", sagte Becher. "Er spielte sich auf als Herr über Leben und Tod."

Marcels großer Bruder, Marco Sch. - ein vielfach vorbestrafter rechtsextremer Schläger, der gerade ein Strafe wegen Misshandlung eines Afrikaners absitzt - bekam nicht die geforderte lebenslange Haft wegen gemeinschaftlich begangenem Mordes. Er soll 15 Jahre wegen versuchten Mordes ins Gefängnis. Denn er hatte nach dem so genannten Bordsteinkick dafür gesorgt, dass sein Bruder dem Opfer einen Stein auf den Kopf wirft, um Marinus zu töten. Außerdem hatte er mit den Misshandlungen begonnen. "Er hat die Spirale der Gewalt erst in Gang gesetzt", sagte die Richterin.

Sowohl Anklage als auch Verteidigung sind mit den Urteilen unzufrieden und prüfen eine mögliche Revision. Im Fall von Sebastian F. allerdings haben sich beide Seiten sofort entschlossen, Widerspruch einzulegen. "Ich sehe keine schädlichen Neigungen bei ihm", sagte sein Anwalt Ulrich Drews, der auch die zweijährige Haftstrafe vom Tisch haben will. Die Staatsanwaltschaft hingegen will eine weitaus härtere Strafe. "Wir haben auch Beschwerde gegen die Freilassung des Mannes eingelegt", sagte Staatsanwältin Lolita Lodenkämper.

Samstag, 25. Oktober 2003

Kommentar

Nur die Tat eines Einzelnen?

Jens Blankennagel

Es gibt keinen rechtsextremen Diebstahl, heißt es unter Juristen. Wenn ein Neonazi klaut, dann ist er einfach nur ein Dieb. Seine Tat wird nicht wegen seiner kruden Ideologie zur politisch motivierten Straftat. Für den Prozess gegen drei junge Neonazis, die am Freitag in Neuruppin wegen der bestialischen Tötung eines 16-Jährigen im brandenburgischen Potzlow verurteilt wurden, muss das gleiche rechtsstaatliche Prinzip gelten: Ihre Gesinnung darf nur dann eine Rolle spielen, wenn sie für die Tat entscheidend ist. Doch genau das ist die nicht entschiedene Frage des Prozesses.

Die Täter erhielten zum Teil hohe Strafen. Doch die Staatsanwaltschaft hatte für sie in zwei von drei Fällen die Höchststrafe gefordert. Die drei hatten einen Jungen, den sie lange kannten, stundenlang misshandelt, nur weil er anders gekleidet war als die Neonazis. Gerade weil ein schlüssiges Tatmotiv fehlt, sah die Anklage die rechtsextreme Gesinnung der drei als Ursache für den Mord an. Wer menschenverachtend denkt, handelt auch so. Stunden später trat einer von ihnen dem Opfer den Schädel ein. Die zwei anderen standen dabei, angeblich waren sie überrascht.

Der Mord sei die kaum erklärliche Tat eines Einzelnen, urteilte dagegen das Gericht und verzichtete auf die lebenslange Strafe. Es ist unverständlich, warum die gemeinsame Gesinnung der Angeklagten, die ihr Opfer zuvor gemeinsam gequält hatten, keine Rolle mehr spielte. Weil sie die Tötung vorher nicht ausdrücklich besprochen hatten? Damit hat das Gericht die Tatbeteiligten aus der gemeinsamen Verantwortung für ihr Tun entlassen.

Samstag, 25. Oktober 2003

Potzlow: Zwei Mordurteile

Weil er eine Hip-Hop-Hose trug und sich die Haare färbte, musste Marinus Sch. sterben. Gestern wurden die beiden Brüder Marco und Marcel S. zu acht und fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Ihr Freund Sebastian F. bekam zwei Jahre wegen Nötigung

aus Neuruppin KIRSTEN KÜPPERS

Die Brüder bekommen hohe Haftstrafen. Der kleine Bruder acht Jahre und sechs Monate wegen Mordes und gefährlicher Körperverletzung, der ältere 15 Jahre wegen versuchten Mordes. Ihr Freund wird zu zwei Jahren wegen Nötigung verurteilt.

Die Richter vom Landgericht Neuruppin haben den Mord, der in der Nacht zum 13. Juli 2002 in dem kleinen Ort Potzlow in der Uckermark geschah, nicht als verirrte Tat von drei betrunkenen Jungs gewertet. Sie haben mehr als 40 Zeugen befragt, sie haben fast das ganze Dorf Potzlow ins Gericht geladen: die Polizisten, den Getränkehändler, die Lehrer, die Schulfreunde, die Alkoholiker. 25 Tage hat der Prozess jetzt gedauert.

Die Richter haben sich Mühe gegeben. Sie haben versucht herauszufinden, was passiert ist in jener Nacht, als die drei Angeklagten, die Geschwister Marco und Marcel S., 23 und 17 Jahre alt, sowie ihr Freund, der 17-jährige Sebastian F. nach einem Abend voller Bier- und Schnapsherrlichkeit den 16-jährigen Marinus Sch. erst stundenlang gequält und geschlagen haben. "Sag, dass du ein Jude bist", verlangten sie. Auf das Gelände einer stillgelegten LPG am Dorfrand haben sie ihn geschleppt. Dort erwartete ihn ein so genannter "Bordstein-Kick", wie er auch in dem Spielfilm "American History X" gezeigt wird: Marinus Sch. musste in die Kante eines Schweinetrogs beißen, Marcel S. sprang ihm mit seinen Springerstiefeln auf den Kopf. Erst Monate später wurde die Leiche von Kindern in der Jauchegrube gefunden.

Das Verbrechen flog auch deswegen auf, weil Marcel S. immer wieder mit der Tat angegeben hatte. "Ich hab einen Penner umgebracht", hat er gerufen, "musste auch mal machen, is geil." Die Angeklagten haben bei der Polizei zugegeben, dass es so war. Den Rest haben Zeugenaussagen bestätigt. Am Ende sahen es die Richter als erwiesen an, dass die Angeklagten Marinus Sch. als Opfer aussuchten, weil er eine weite Hip-Hop-Hose getragen hatte und sich die Haare blond färbte. Ihre rechte Einstellung führte zur Motivation, "ihn zu demütigen, um eigene Überlegenheit zu demonstrieren", sagte die Vorsitzende Richterin gestern. Marcel S. habe vorsätzlich und aus niederen Beweggründen gehandelt. "Er wollte erleben, wie es ist, einen Menschen zu töten."

Die Verteidiger der Angeklagten hatten dagegen kein rechtsextremes Motiv für den Mord ausmachen können, vielmehr handele es sich um eine Tat im Alkoholaffekt. Der Anwalt von Sebastian F. hatte sogar eine Jugendstrafe im Gefängnis abgelehnt. Bei den Auseinandersetzungen habe es sich um "nicht wesentlich mehr als eine Kabbelei" gehandelt. "Ein so genannter Bordstein-Kick ist sicher brutal, aber nicht grausam. Er ist effizient, um jemanden zu töten."

Die beiden Brüder vernahmen mit gesenkten Köpfen ihr Urteil. Beim älteren Bruder Marco S. floss auch dessen langes Vorstrafenregister in das Strafmaß mit ein. Derzeit sitzt Marco. S. bereits im Gefängnis, wegen eines Überfalls auf einen Asylbewerber aus Sierra Leone.

Sein kleiner Bruder wollte ihm mit dem Mord an Marinus S. imponieren, erklärte die Richterin gestern. In der Untersuchungshaft hat Marcel S. sich ein Hakenkreuz auf sein Knie tätowieren lassen. Auch im Gerichtssaal bemühte er sich um ein ausdrucksloses Gesicht. Sein Freund Sebastian F. durfte gestern nach Hause gehen. Bis zur Vollstreckung der Strafe ist er frei. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht, einer Plastiktüte in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand, verließ er gestern den Saal. Die Staatsanwaltschaft hat indes angekündigt, gegen das Urteil in seinem Falle Revision einzulegen. Auch der Anwalt der Nebenklage findet die Entscheidung "viel zu milde".

Samstag, 25. Oktober 2003

Ein Anderer in Potzlow

Bis zum Ende des Prozesses gegen Skinheads, die einen Jungen brutal ermordet haben, findet das Opfer in seinem Dorf kein Mitgefühl

VON PITT VON BEBENBURG (NEURUPPIN)

Es ist ein unheimlicher Prozess gewesen wegen einer grauenvollen Tat. In Potzlow, einem Dorf von 576 Einwohnern in der Uckermark, haben die beiden Brüder Marco und Marcel S., 24 und 18 Jahre alt, und Marcels Schulkamerad Sebastian F. im Sommer vergangenen Jahres einen sprachbehinderten Jungen stundenlang gequält und ermordet. Auf eine Weise, die die Staatsanwaltschaft vor der Zweiten Großen Strafkammer des Neuruppiner Landgerichts "viehisch" nannte. Das Opfer, der 16 Jahre alte Marinus Schöberl, hatte blond gefärbte Haare und trug eine weite Hose, wie sie die eher links-alternativ orientierten Hiphopper mögen. Das passte den Tätern nicht. Sie zwangen ihn zu sagen, dass er "Jude" sei, um ihn dann als einen Menschen zu behandeln, der für sie kein Recht auf Leben hat.

Kaum einer aus Potzlow hat sich auf den Weg nach Neuruppin gemacht, um den Prozess zu verfolgen. Drei Zeugen mussten von der Polizei geholt werden, weil sie nicht von sich aus gekommen waren. Es waren jene beiden Männer und eine Frau, in deren Haus die Tortur von Marinus begonnen hatte. Gegen die drei erging Strafbefehl wegen unterlassener Hilfeleistung. "Ich habe mir nichts vorzuwerfen", sagte die Frau vor Gericht.

In ihrem Haus, auf ihrer Veranda, schlugen die Täter den Jungen. Sie soffen selbst und flößten ihm Schnaps und Bier ein, bis er erbrechen musste. Der Junge lag vor dem Haus, Sebastian F. pinkelte auf den Wehrlosen. Im Morgengrauen des 13. Juli 2002 brachten sie ihn zu verfallenen Ställen am Rande des Dorfes. Dort zwangen sie ihn, in den Betonrand eines Schweinetrogs zu beißen. Dann sprang Marcel mit seinen schwarzen Springerstiefeln auf den Kopf, wie er es in dem Gewaltfilm "American History X" gesehen hatte. Marinus war halb tot und so entstellt, dass der Ältere, Marco, zu dem Schluss kam: "Der wird nicht mehr. Den können wir keinem Arzt mehr vorstellen." Die beiden Brüder wollten ihn endgültig töten, Marcel fand einen Stein und warf ihn zweimal auf den bereits zertrümmerten Kopf des Jungen. Sebastian F. war nach Marcels brutalem Sprung mit den Worten: "Damit will ich nichts zu tun haben", kurz weggegangen. Er kam zurück und half mit, den Jungen zu verscharren. Das Landgericht sah keine Beteiligung von F. an dem Mord.

Strafen für Marcel und Marco S.


Sebastian F. darf am Ende der Urteilsverkündung seine Plastiktüte packen und nach Hause gehen. Er muss zwar später wieder ins Gefängnis, um seine zweijährige Jugendstrafe abzusitzen. Doch zunächst hebt das Gericht den Haftbefehl auf - sehr zum Unwillen der Staatsanwaltschaft. Denn die Vorsitzende Richterin Ria Becher hatte selbst darauf aufmerksam gemacht, dass F. in elf Monaten Untersuchungshaft "nicht von seiner inneren Haltung gegenüber anderen Menschen Abstand genommen" hat. Marcel und Marco gehen dagegen vom Gerichtssaal zurück ins Gefängnis: Marcel wird zu achteinhalb Jahren, Marco S. zu 15 Jahren Haft verurteilt. Dabei bezieht das Gericht frühere Strafen mit ein.

Im Neuruppiner Gerichtssaal hat sich seit dem Prozessauftakt im Mai das Panorama einer völlig verwahrlosten Szene aufgeblättert, der in Potzlow keineswegs nur Jugendliche angehören. Gesoffen wurde dort, Bier und Schnaps vor allem. Mit einem Trinkgelage hatte auch der Samstagabend im Juli vor einem Jahr begonnen, der Sonntag früh mit der Ermordung von Marinus endete. Ungefähr zwei Promille soll jeder der Täter gehabt haben. Den drei jungen Männern attestierte das Gericht stark verminderte Intelligenz. Bei Marcel lag der Intelligenzquotient mit 55 so niedrig, dass es für ihn strafmildernd ausfiel, weil das Gericht nicht ausschließen konnte, dass dieser Mangel im Zusammenspiel mit dem Alkohol dazu geführt hatte, dass er nicht mehr Herr seiner Handlungen war.

Es war keineswegs ein Zufall, dass die Täter auf Nazi-Jargon zurückgriffen. Auch vor Gericht traten sie im rechtsextremen Outfit auf. Marco hat "Skinhead" in den kahlen Schädel tätowiert. Zum Zeitpunkt der Ermordung von Marinus war er erst seit einer Woche frei - nachdem er Vorstrafen wegen Körperverletzung hatte absitzen müssen. Und da der Mord von Potzlow zunächst nicht aufgeklärt wurde, konnte Marco weiter sein Unwesen treiben. Vier Wochen danach fiel er zusammen mit seiner Freundin und einem anderen Skinhead in Prenzlau über einen Schwarzen aus Sierra Leone her. Dafür kam er ins Gefängnis, noch ehe die Ermittler Marinus gefunden hatten.

Ein Grabstein für Marinus


Nur wenige in Potzlow schien es zu stören, dass Marinus verschwunden war, und als seine Mutter herumfragte, erntete sie häufig nicht mehr als ein Schulterzucken. Es hörte auch niemand hin, als Marcel anfing, mit dem Mord zu prahlen. "Das war ein geiles Gefühl, das müsst ihr auch mal machen", soll der 18 Jahre alte Mann gesagt haben. Erst als Marcel um 25 Euro wettete, dass er die Leiche auch zeigen könne, und andere Jugendliche zu den Ställen führte, wo sie Marinus an jenem Sonntagmorgen verscharrt hatten, wendete sich schließlich jemand an die Polizei.

Für den Grabstein von Marinus, dessen kinderreiche Familie in armen Verhältnissen lebt, haben nicht die Potzlower gesammelt. Eine Journalistin von außerhalb brachte das Geld auf.

In Potzlow streitet man sich derweil darüber, ob der Alkoholkonsum der Jugendlichen öffentlich debattiert werden darf. Und darüber, ob das Jugendhaus - und nicht etwa die Eltern - die Verrohung der Jugendlichen hätte verhindern müssen.

"Ich verliere nicht die Hoffnung", sagt Pfarrer Johannes Reimer, "aber es ist sehr schwierig."

Dienstag, 28. Oktober 2003

»Fundstücke« der Geschichte
Projekt in der Rosenthaler Straße mit dem Anne Frank Zentrum 
 
Von Uta Herrmann 
 
»Wenige Tage vor der Zwangsversteigerung zeigen wir, wie viel Geschichte und Geschichten in diesem Haus stecken«, erklärt der Leiter des Anne Frank Zentrums, Thomas Heppener, zur Eröffnung der Ausstellung »Fundstücke. Die verborgene(n) Geschichte(n) des Hauses Rosenthaler Straße 39«. Das Kooperationsprojekt des Anne Frank Zentrums mit dem Verein Haus Schwarzenberg e.V. und dem Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt erforscht einzelne Geschichten und die große Geschichte des Hauses im unverwechselbaren Areal inmitten der Großstadt.
Die kleineren und größeren Fundstücke, die Mieter bei der Rettung und Sanierung des Gebäudes entdeckten, sollen Jugendlichen und Schulklassen Anregungen geben, kreativ die Geschichte zu gestalten und zu interpretieren. Bis zum Ende des Jahres werden sie sich auf Erkundungsreisen im geschichtsträchtigen Ort begeben und nach Antworten suchen. Im Rahmen der Projektwerkstatt werden junge Leute eine für sie ferne Geschichte sich persönlich aneignen, die Historie eines Hauses wird für sie lebendig, erleb- und begreifbar. Ihre Entdeckungen werden die Jugendlichen in einer Broschüre festhalten und der Öffentlichkeit dann zugänglich machen.
Blecheimer, Milchflasche, Gaskocher, Einschusslöcher, Gabelstabler, Schuhe, eine Tür und Tresor, verstaubte Bierkästen oder Zigarettenkisten – all die »Fundstücke« sind in verschiedenen Teilen des Gebäudes – in der Blindenwerkstatt, in Treppenaufgängen, auf dem Hof – ausgestellt. Der Hauptteil jedoch befindet sich im neugestalteten und damit erweiterten Anne Frank Zentrum. Ebenso die auf etlichen Wandtafeln dokumentierte Geschichte des Hauses in der Rosenthalter Straße, die bis ins Jahr 1652 zurückgeht. Damals war es ein Feldweg, der das Dorf Rosenthal mit der Stadt verband. Sechs Jahre später begann mit den Bau von Festungsanlagen die eigentliche Geschichte der Straße. 100 Jahre später entstanden Wohnhäuser, kleine Werkstätten. Die Straße führte zum Rosenthaler Tor, heute Rosenthaler Platz. Für die jüdische Gemeinde Berlins erlangte dieses Bauwerk traurige Berühmtheit, denn nur durch dieses Tor durften die Juden, die vor allem aus Osteuropa kamen, den Weg in die Stadt antreten.
Möglicherweise schon Anfang November soll erneut versucht werden, das Haus Schwarzenberg, verwaltete vom gleichnamigen Verein und Herberge für etwa zwei Dutzend unterschiedliche Einrichtungen, zwangszuversteigern. Dadurch wäre auch die Arbeit des Anne Frank Zentrums gefährdet, die Bundespräsident Wolfgang Thierse, Schirmherr des Projektes »Fundstücke«, als »sehr wichtig in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus« ansieht.

Anne Frank Zentrum, Rosenthaler Straße 39, 10178 Mitte, Di-So 10-18 Uhr, Tel.: 30872988

Mittwoch, 29. Oktober 2003

Revision gegen Potzlow-Urteile

Neuruppin - Die Staatsanwaltschaft Neuruppin will gegen alle drei Urteile im Potzlow-Prozess Revision einlegen. Ihr Hauptkritikpunkt ist, dass nur ein Angeklagter wegen Mordes verurteilt wurde und dieses Urteil mit achteinhalb Jahren Jugendstrafe unter ihrem Antrag blieb. Korrekturbedarf sehen die Ankläger vor allem im Fall Sebastian F., der zwei Jahre Jugendstrafe wegen Körperverletzung erhielt, zunächst aber in die Freiheit entlassen wurde, weil der Haftbefehl wegen Mordes aufgehoben worden war.

Mittwoch, 29. Oktober 2003

Christoph Schulze

 

Gescheitertes Wahlexperiment

 

Brandenburg: Wählen-ab-16-Simulation endete mit Siegen für die NPD

 

Es hatte ein kraftvolles Zeichen für ein Wahlrecht ab 16 werden sollen, aber das Experiment ging gehörig daneben. Für die Brandenburger Kommunalwahlen forderte der Verband »Berlin-Brandenburgische Landjugend« Heranwachsende im Alter von 16 und 17 Jahren auf, per Telefon, SMS, Fax oder in ausgewählten Jugendklubs an die Wahlurne zu treten. Es sollte gezeigt werden, daß die Brandenburger Jugend nicht politikverdrossen ist, sondern ihre Interessen zu vertreten weiß.

Die Auswertung der rund 350 abgegebenen Stimmen liegt nun vor und bestätigt eher Vorurteile über einige Brandenburger Landstriche, als daß aus ihr ein Zeichen für ein Wahlrecht ab 16 abzulesen wäre: Ein großer Teil der Jugend in Brandenburg tendiert nach rechts. In Cottbus bekamen etwa die Neonazis der NPD 15 Prozent aller Stimmen, in der Prignitz knapp 22 Prozent. Im Landkreis Spreewald-Neiße kürte die Jugend mit 28,7 Prozent die NPD gar zum Wahlsieger. Zweitstärkste Kraft wurde dort die CDU mit 21,5 Prozent.

Auf das ganze Land umgerechnet landete die NPD mit 11,9 Prozent auf Platz vier – mehr Stimmen bekamen CDU (23,5), PDS (20,8) und SPD (19,9). Die DVU erreichte lediglich 2,1 Prozentpunkte. Bei den wirklichen Wahlen am vergangenen Sonntag erhielt die NPD 14500 Stimmen – 0,52 Prozent. Die starken Ergebnisse für Rechtsaußen bei der Jugend-Wahlsimulation seien als »Protest« gegen die etablierte Politik zu sehen, analysiert die Landjugend, »andererseits zeigen sich hier deutlich die zunehmend starken Einflüsse rechtskonservativer und rechtsextremistischer Gruppierungen auf Jugendliche.«

Zum Einbruch der SPD – in der Größenordnung vergleichbar mit den Ergebnissen der tatsächlichen Kommunalwahl – sei es gekommen, weil die Sozialdemokraten auf Bundesebene für »ein gewisses Chaos in der Politik« stünden.

Donnerstag, 30. Oktober 2003

Die Hingucker

Viele schauen über die Neonazis in Hohenschönhausen hinweg. Mario Gartner nicht. Er mobilisiert die Bürger

Mario Gartner sagt seinen Namen. Und er zeigt sein Gesicht. Das klingt banal, hat aber Methode. Mario Gartner will Bürger bewegen, ihre Meinung zu sagen, öffentlich, so dass andere Mut fassen, es auch zu tun. Klingt wieder banal, ist es aber nicht. Nicht in Hohenschönhausen. „Es ist schwierig, hier Leute zu finden, die sich engagieren", sagt Gartner, gelernter Kraftfahrer, 44 Jahre alt. Besonders schwierig ist es, Leute gegen den rechtsradikalen Mob zu mobilisieren. Die Tendenz ist eher wegzuschauen. Nazis? Noch nie gesehen.

Gartner hat mit einigen Bekannten die „Unabhängige Anlaufstelle für BürgerInnen (UAB)“ gegründet. Das war vor fünf Jahren, als NPD-Anhänger in großer Zahl durch Hohenschönhausen marschierten. Die UAB hat sich bewusst einen neutralen, fast biederen Namen gegeben, um den „Normalbürger“ nicht abzuschrecken. Den durchschnittlichen Hohenschönhausener, der sich nicht sonderlich für Politik interessiert und schon gar nicht ins Netzwerk linker, antifaschistischer Gruppierungen verstrickt werden möchte - den wollen sie erreichen. Die Bilanz ist bislang bescheiden. Acht bis zehn Leute machen mit, sagt Gartner. Immerhin. Zum Gründungsaufruf 1998 waren mehr als 100 gekommen, „alle geschickt von ihren Vereinen“. Beim Gründungsfest waren es noch 20, weniger als die rechten Jugendlichen, die mal den neuen Gegner beschnuppern wollten.

Gartner saß mal für die Bündnisgrünen in der BVV Lichtenberg. 2001 trat er wegen der rot-grünen Kriegspolitik aus und machte als „Bürger“ weiter. Die Rechten würden ihn kennen, sagt er. Einige wohnen sogar bei ihm um die Ecke. Angst hat er nicht. Manchmal hat er sogar das Gefühl, die Rechten hätten Angst vor ihm – eben weil er nicht auf ihr dumpfes Drohszenario reagiert. Sich mit den Rechten irgendwie zu arrangieren, gehört in Hohenschönhausen nämlich fast schon zum kollektiven Handlungsreflex. Es gibt so genannte „Angst-Räume“, sagt Gartner. No-go-Areas für Menschen, die anders aussehen oder sich auffällig kleiden.

Durch gezielte Befragungen hat die UAB eine Art Angst-Karte für Hohenschönhausen entworfen. Die kann im Internet unter www.kiezraeume.info eingesehen werden. Einer dieser Angst-Räume ist der Prerower Platz hinter dem Einkaufszentrum Linden-Center. Auf die Präsenz rechter Jugendlicher hat sich die Geschäftswelt bereits eingestellt: Es gibt zwei Läden, die Rechtsradikalen beliebte Kleiderlabel anbieten, eine Kneipe, die germanisches Brauchtum pflegt, und einen Kiosk mit rechten Gazetten.

Die UAB versucht dagegenzuhalten. Im September wurde für die Skater und Sprayer, die am Linden-Center quasi das linke Fähnchen hochzuhalten versuchen, ein Hiphop-Event veranstaltet. Höhepunkt war die Premiere des selbst gedrehten Videos „Episoden aus Hohenschönhausen“. Darin erzählen Einwanderer und linke Jugendliche von ihren (Gewalt)-Erfahrungen mit den Rechten. Die Neonazi-Cliquen empfanden das als Provokation und reagierten darauf mit noch mehr Gewalt. Ein 14-jähriger Punk wurde auf einem Hinterhof-Spielplatz zusammengeschlagen. Aus den umliegenden Plattenbauten kam nach Aussage von Gartner keine Hilfe. Man schaut eben weg. Dabei ist Hohenschönhausen eigentlich „links“ - mit einer klaren PDS-Mehrheit in der Bezirksverordnetenversammlung.

Zumindest das Bezirksamt will nicht wegschauen. Es gibt eine Rechtsradikalismus-Beauftragte und einen „Lokalen Aktionsplan für Toleranz und Demokratie“. Da steht drin, was Schulen und Behörden machen können, um das Vordringen rechtsradikaler Ideologie einzudämmen. Darüber werde jetzt beraten und im nächsten Jahr werde was beschlossen, heißt es. Geplant ist auch ein alternatives Jugendzentrum für das Hochhausviertel. Gartner weiß allerdings, dass es solche Pläne schwer haben. Die UAB hatte mal vorgeschlagen, ein Wagendorf zwischen den Plattentürmen anzusiedeln. Da bildeten sich sofort Anti-Wagendorf-Koalitionen und verbreiteten Angst vor Drogen, lauter Musik und was sonst noch zu befürchten ist, wenn Bauwagenbewohner anrücken. Gegen die Rechten gab es keine derartigen Koalitionen.

Mittwoch, 5. November 2003

Zivilcourage macht Pleite

Eine Ausstellung im Abgeordnetenhaus widmet sich Projekten gegen Rechtsextremismus, die besonders mit Jugendlichen arbeiten. Die Zukunft der Initiativen ist ungewiss - es fehlt das Geld

von LIA PETRIDIS

Wenn es um Geld für Jugendarbeit geht, greift Pädagogin Sanem Kleff auch zu ungewohnten Vergleichen: Für 1,5 Millionen Euro kann man in Berlin ungefähr "einen halben Kilometer Autobahn bauen", sagt sie. Oder eben, was offensichtlich mehr in Kleffs Sinne ist, 38 Projekte gegen Rassismus in Teilen fördern. Im letzten Jahr hat der Senat ein Programm eingerichtet, dass Initiativen unterstützt, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten und diese gegen eine rechtsradikale Gesinnung wappnen. Nun ist das Geld verbraucht und die zukünftige Finanzierung steht in den Sternen.

Die Ausstellung "Gemeinsam gegen Rechtsextremismus - Ziviles Engagement fördern" dokumentiert noch bis Freitag im Abgeordnetenhaus die Arbeit dieser Vereine. Es stellen sich vor: das Forum für Familien mit Kindern afrikanischer Herkunft, das Anne-Frank-Zentrum, das Angebote für Schul- und Jugendgruppen entwickelt hat, und die Initiative "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage", der Sanem Kleff als Leiterin des Bundesprojekts vorsteht.

Die eröffnenden Worte zur Ausstellung seitens der Offiziellen geraten blumig. Immerhin ist das Programm von Wissenschaftlern begutachtet und für gut befunden worden. Gut daran sei die Vielfalt der Projekte, Gut daran auch die "bessere Unterstützung von Opfern rassistischer Gewalt", so der Integrationsbeauftragte Günter Piening. Und, zu guter Letzt, lobt er das altbewährte "Signal gegen rechts".

Auch das Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge/MigrantInnen (BZZ) informiert auf der Ausstellung über seine Arbeit. Eine Einrichtung, für die etwa der Angolaner João Nafilo nur lobende Worte findet: "Das BZZ hilft bei Problemen im Alltag, der Schule, im Studium oder in Sachen Aufenthaltsgenehmigung." Gerade Behördengänge empfindet der Student als diskriminierend. Alle sechs Monate muss er zur Ausländerbehörde, hier wird sein Ausweis verlängert. Bislang jedenfalls, und das schon seit 13 Jahren. "Aufenthaltsgestattung" heißt das. "Die sind nicht immer freundlich …", sagt João Nafilo. Sonst schneidet Berlin in Sachen Toleranz in seinen Augen ganz gut ab: Es gebe mittlerweile keinen Stadtteil mehr, den er meiden würde. "Ich gehe sogar nach Marzahn. Wir machen da eher Witze drüber."

Die Weiterfinanzierung der Projekte konnte auch zur Ausstellungseröffnung nicht endgültig geklärt werden - und ist angesichts Haushaltssperre und völlig unklaren künftigen Landesetats mehr als fraglich.

Die 1,5 Millionen Euro, die der Senat in diesem Jahr zur Verfügung gestellt hatte, sind jedenfalls schon weg. "Mit der Summe, die wir zur Verfügung gestellt bekamen, habe ich zwei Stellen finanziert, mit denen ich eine Kampagne in Berlin und Plakataktionen an den Schulen starten konnte", sagt Kleff vom Projekt "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage". Es soll, erstens, die Schüler auf Rassismus an ihren Schulen aufmerksam machen. Und sie, zweitens, in die Pflicht nehmen, etwas dagegen zu tun. "Wenn sich 70 Prozent der Schüler zu diesen Grundregeln bekennen, dann bekommt die Schule den Titel ,Schule mit Courage'."

Eine Mädchengruppe der Jahrgangsstufen 8 bis 10 der Alexander-Puschkin-Schule in Lichtenberg trommelte zur Ausstellungseröffnung auf Djembas und sang afrikanische Lieder. Auch ihre Schule ist eine "mit Courage". Wie denken die Mädchen über rechtsradikale Ansichten? "Na ja, jeder steht zu seiner Meinung", sagt ein blondes Mädchen. Und wie reagieren sie auf Übergriffe auf Schwarze? "Ich finde das nicht gut. Sind ja auch nur Menschen …", sagt eine andere.

Donnerstag, 6. November 2003

"Landser": Zweiter Prozess

Wegen Unterstützung krimineller Vereinigungen und gefährlicher Körperverletzung muss sich ab 20. November der 36-jährige Jean-René B. vor der 2. Großen Strafkammer des Landgerichts verantworten. Die Bundesanwaltschaft wirft dem 36-Jährigen vor, die mutmaßlichen Mitglieder der rechtsradikalen Rockband "Landser" beim Vertrieb ihrer CDs unterstützt zu haben. Außerdem soll B. einen Zeugen, der bei einer polizeilichen Vernehmung Einzelheiten zum Vertrieb einer "Landser"-CD mitgeteilt hatte, im Juni 2001 zusammengeschlagen und so gezwungen haben, seine Aussage schriftlich wieder "zurückzuziehen". Das Verfahren steht in Zusammenhang mit dem "Landser-Prozess" gegen Michael R., André M. und Christian W. vor dem 2. Strafsenat des Kammergerichts. Nach der Anklageerhebung durch die Bundesanwaltschaft hatte das Kammergericht das Verfahren gegen B. abgetrennt und an das Landgericht verwiesen. Aus diesem Grund wird nunmehr die Staatsanwaltschaft Berlin die Anklage vertreten. DDP

Freitag, 7. November 2003

Polizei verbietet Aufmarsch auf Soldatenfriedhof

Rechtsextremisten wollten in Halbe demonstrieren

Katrin Bischoff

FRANKFURT (ODER). Die Polizei hat den für den Volkstrauertag am 16. November geplanten Aufmarsch rechter Gruppierungen auf dem Soldatenfriedhof in Halbe (Dahme-Spreewald) verboten. "Wir haben uns auf das Feiertagsgesetz berufen", sagte Klaus Kandt, amtierender Präsident des Frankfurter Polizeipräsidiums, am Donnerstag.

Die Anmelder hätten gegen dieses Verbot keinen Widerspruch eingelegt. "Sie haben eine Ausweichveranstaltung auf dem Friedhof für Sonnabend, den 15. November angemeldet", so der Polizeidirektor. Auch diese Demonstration unter dem Motto "Ruhm und Ehre dem deutschen Frontsoldaten" sei untersagt worden, da der Soldatenfriedhof ein besonders schutzwürdiger Ort sei. Gegen dieses Verbot hätten die Organisatoren beim Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) geklagt. "Eine richterliche Entscheidung erwarten wir an diesem Freitag", so Kandt. Wenn das Gericht das polizeiliche Verbot aufheben sollte, werde man bei der nächsthöheren Instanz Einspruch einlegen.

"Sollte der Neonazi-Aufmarsch dennoch gestattet werden, so werden rund 1 000 Polizisten im Großeinsatz sein", sagte Hans-Jürgen Mörke, der zuständige Polizeiführer. Es komme dann darauf an, Ausschreitungen zwischen Rechtsextremisten sowie linken Gruppen, die ebenfalls zwei Aktionen in Halbe angemeldet haben, zu verhindern. "Jedermann wird an diesem Tag in Halbe von der Polizei kontrolliert", so Mörke. Alle Zufahrtsstraßen würden gesperrt. Käme es zu der geplanten Neonazi-Demonstration, dann müsse diese vor dem Friedhof beendet werden. "Trommeln, Fahnen und Uniformen sind verboten", sagte Mörke.

Auf dem größten deutschen Soldatenfriedhof in Halbe liegen die sterblichen Überreste von 22 000 deutschen und sowjetischen Soldaten sowie mehreren Tausend Zwangsarbeitern. (kbi.)

Freitag, 7. November 2003

Arzt schlägt Alarm

Urban-Krankenhaus: Vermehrt Übergriffe auf Ausländer. Polizei: Nur subjektiver Eindruck

Das Urban-Krankenhaus schlägt Alarm. "Wir beobachten mit Sorge, dass die Zahl der Übergriffe auf Ausländer stetig zunimmt", teilte der Oberarzt der Rettungsstelle, Michael de Ridder, gestern mit: "Die Behandlung ausländischer Mitbürger, die angegriffen und nicht selten übel zugerichtet werden, gehört bei uns längst zum medizinischen Alltag." Die Polizei kann das nicht bestätigen. "Es handelt sich dabei wohl um einen subjektiven Eindruck, der sich von uns nicht nachvollziehen lässt", sagte ein Polizeisprecher. In ganz Berlin seien im September drei fremdenfeindliche Delikte angezeigt worden. In Kreuzberg und Neukölln seien solche Übergriffe wegen der dortigen Bevölkerungsstruktur "eher unwahrscheinlich".

Auslöser, die Presse zu informieren, war für de Ridder der Fall eines 22-jährigen Schwarzen aus Kamerun, der am Abend des 16. Oktober mit schweren Verletzungen ins Urban eingeliefert worden war. Der Mann sei in der Hasenheide von einer Gruppe junger Männer - seiner Meinung nach Deutsche - umringt und bedroht worden. In großer Panik sei er geflüchtet und auf das "sieben Meter tiefer liegende Bauhausgelände" gestürzt. Dabei habe er sich schwere, teils offene Brüche zugezogen. Von einem Notarztwagen sei er ins Urban gebracht worden.

"Mein Eindruck ist", so de Ridder, "dass Übergriffe auf Ausländer zunehmen." Er könne dies aber nicht mit Zahlen belegen, weil das Krankenhaus darüber nicht Buch führe. Seine Kollegen sähen dies aber auch so. Der Polizei war von dem Vorfall bis gestern nichts bekannt, weil keine Strafanzeige erstattet worden ist. Dass sich einem Menschen Leute in den Weg stellen, reiche aber auch nicht aus, um ein Verfahren einzuleiten, so der Polizeisprecher. " PLU

Freitag, 7. November 2003

Rechte Marschsaison in Brandenburg

Neonazis wollen am Samstag in Belzig gegen Migranten demonstrieren. In Halbe verbietet die Polizei rechte Aufmärsche zum Volkstrauertag. In Potsdam sind hingegen Wehrmachtsdeserteure nicht zur Trauer geladen

Unmittelbar vor dem 65. Jahrestag der nationalsozialistischen Pogromnacht demonstrieren am Samstag Neonazis in der brandenburgischen Kleinstadt Belzig mit antisemitischen Parolen gegen Migranten und Flüchtlinge. Bei dem Drahtzieher des Aufmarsches handelt es sich nach Informationen der taz um den vorbestraften Neonazi Pascal S.

Der heute 25-Jährige hatte mit einem Dutzend Gesinnungsgenossen im September 1997 eine Punkband in Pritzwalk brutal überfallen. Ein Bandmitglied wurde lebensgefährlich verletzt. Pascal S. verbüßte deshalb bis vor kurzem eine mehrjährige Freiheitsstrafe. Vor seiner Haftentlassung hatte Pascal S. in Neonazipostillen angekündigt, sich weiter "am Kampf" zu beteiligen. Im Sommer drohte dann eine "Nationale Aktionsgemeinschaft/Freies Deutschland" auf der alternativen Website "inforiot", man werde "Belzig wieder zu einer national befreiten Zone für Volksgenossen machen". Am 6. Oktober warfen Unbekannte einen Brandsatz in das Alternative Infocafé "Der Winkel" in Belzig, wo sich Flüchtlinge, linke Jugendliche und Migranten treffen.

Belzigs Bürgermeister Peter Kiep (SPD) sagte der taz, das "Belziger Forum gegen Rechtsradikalismus und Gewalt" werde nicht gegen die Neonazis auf die Straße gehen.

Derweil versucht das Polizeipräsidium Frankfurt (Oder) einen der größten Neonaziaufmärsche dieses Jahres in Halbe zu verhindern. Die Sicherheitsbehörden haben für den 15. November und den darauf folgenden Volkstrauertag zwei Aufmärsche von Neonazis auf dem Kriegsgräberfriedhof in Halbe verboten. Im vergangenen Jahr hatte das Bundesverfassungsgericht das Verbot des rechten Gedenkmarsches am Volkstrauertag mit Verweis auf das Brandenburger Feiertagsgesetz bestätigt. Komplizierter ist die Rechtslage für den 15. November. Hier beruft sich das Polizeipräsidium auf das Gräberschutzgesetz. Das Persönlichkeitsrecht der Toten auf dem Kriegsgräberfriedhof in Halbe sei besonders schutzwürdig und würde durch eine politische Demonstration verletzt.

Die Neonazis, die schon Anfang der 90er-Jahre über den Friedhof zogen, wollen allerdings nicht erneut klein beigeben. Sie erhoffen sich für den 15. November einen Sieg vor Gericht und durch offene Verherrlichung der SS mehrere tausend Teilnehmer an diesem Tag.

Gegendemonstranten, die unter dem Motto "Den Kessel zum Kochen bringen" mobilisieren, haben es in Halbe nicht leicht. Das Amt Schenkenländchen untersagte eine Gedenkveranstaltung für 57 in Halbe bestattete ermorderte Zwangsarbeiter und Deserteure mit der Begründung, auch hiermit würde die Ruhe der Toten gestört. Ludwig Baumann, Vorsitzender der "Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz" und Hauptredner bei der geplanten Kundgebung, hofft, dass es bei dem Verbot nicht bleiben wird. Derzeit wird über einen Ausweichort verhandelt.

Auch beim offiziellen "Volkstrauern" in Potsdam ist der ehemalige Wehrmachtsdeserteur Baumann als Redner nicht erwünscht. Potsdams Oberbürgermeister Jan Jakobs (SPD) lehnte einen Vorschlag der Frakion "Die Anderen" ab, den 80-Jährigen bei der städtischen Gedenkfeier sprechen zu lassen.

HEIKE KLEFFNER

Samstag, 8. November 2003

Aufmärsche von Rechtsextremisten in Halbe verboten

Frankfurt (O.) - Ein von Rechtsextremisten geplanter Aufmarsch zum Volkstrauertag am 16. November in Halbe (Dahme-Spreewald) ist verboten worden. Das teilte ein Sprecher des Polizeipräsidiums Frankfurt gestern mit. Gegen das Verbot sei kein Widerspruch eingelegt worden. Auch ein zweiter vom gleichen Veranstalter für den 15. November geplanter Neonazi-Aufmarsch sei verboten worden. Dagegen habe der Veranstalter geklagt.

Das Verbot am Volkstrauertag sei mit dem Feiertagsgesetz begründet worden, das Verbot am Tag davor mit dem Kriegsgräberstättengesetz, das die Würde der Toten sowie ihrer Hinterbliebenen und Angehörigen schütze.

Nach Polizeiangaben liegt auch eine Anmeldung für eine Gegenveranstaltung linker Gruppen vor. Sollte sie genehmigt werden, würde die Polizei dafür Sorge tragen, dass die Gruppen nicht aufeinander träfen, Straftaten verhindert und die Bevölkerung geschützt würde, sagte der Sprecher.

Der Waldfriedhof Halbe ist der größte deutsche Soldatenfriedhof. dpa

Montag, 10. November 2003

Wie antisemitisch sind die Deutschen eingestellt?

Exklusiv-Umfrage der Morgenpost in Kooperation mit der TU Berlin und Emnid

Antisemitismus in Deutschland: Ein Phänomen, das nach den verbalen antisemitischen Verfehlungen des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann und deren Zustimmung durch den Brigadegeneral Reinhard Günzel mehr denn je ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt ist. Doch wie sieht das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen zurzeit wirklich aus?

Berlin - Die Berliner Morgenpost ist in Kooperation mit dem Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin und dem Meinungsforschungsinstitut TNS-Emnid dieser Frage nachgegangen und hat die Deutschen befragt. Ausgewertet und beurteilt hat das Material der Historiker und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz. Damit bei einer Meinungsumfrage aber auch ein repräsentatives Ergebnis herauskommt, müssen Soziologen gewährleisten, dass jeder Einwohner in Deutschland in etwa die gleiche Chance hat, für eine Stichprobe ausgewählt zu werden. Die Auswahl erfolgte in einem mehrstufigen Zufallsverfahren. Zunächst wurden die Bundesländer gerastert, die Gemeinde bestimmt, die wiederum in Größenklassen und Befragungsorten unterteilt. Aus dieser verbleibenden Menge variierte ein Computer im Zufallsverfahren jeweils die letzten beiden Ziffern sämtlicher Telefonnummern in Deutschland. Die ermittelten Klienten gaben in Interviews Auskunft, die Fragen haben Sozialwissenschaftlern zuvor auf ihre Verständlichkeit und Sachlogik geprüft. Bei einer Befragungsgröße von 1006 Befragten rechnen die Demoskopen mit einer Abweichung bis zwei Prozent. Je größer die Anzahl der Befragten einer Stichprobe desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass alle gesellschaftlich relevanten Gruppen im richtigen Verhältnis abgefragt werden können. Genauere Daten gibt es nur im Rahmen einer Volkszählung, wo alle Bewohner erfasst werden.

Ring

Wie beurteilen Sie die allgemeine Einstellung der Bundesbürger gegenüber den Juden? Sind die meisten, eine große Zahl, eine geringe Zahl, oder ist kaum jemand gegen die Juden? Die Mehrheit der Deutschen (79 Prozent) beurteilt es positiv, wie die deutsche Gesellschaft gegenüber jüdischen Bürgern eingestellt ist. Nur ein Prozent von 1006 Befragten gibt an, dass die Deutschen den Juden negativ eingestellt sind. Indes meinen zwölf Prozent, dass eine "große Zahl" der Deutschen Juden ablehnt. Regionale Unterschiede in den einzelnen Bundesländern lassen sich im Trend nicht festmachen. Das bedeutet: Weder in Bayern oder Hessen noch in Brandenburg oder Sachsen gibt es Werte, die - unter statistischen Gesichtspunkten betrachtet - auffällig wären. Im Einzelnen zeigen sich hohe Daten innerhalb der Altersgruppe der 30- bis 49-Jährigen (84 Prozent). Die Angaben der 14- bis 29-Jährigen (79 Prozent) liegen im Bundesdurchschnitt; die der Altersgruppe der 50-Jährigen und Älteren sind niedriger (74 Prozent).

Wolfgang Benz: Zunächst ein Mal ist das ein ausgesprochen positives Ergebnis. Mich überrascht, dass es nur ein Prozent Ablehnung gibt. In der Antisemitismusforschung geht man von drei bis fünf Prozent so genannter ,Unbelehrbarer' aus, die auch nur schwer erziehbar sind und sich von ihrer Meinung nicht abbringen lassen. Erfreut bin ich über den guten Wert der unter 30-Jährigen. Das sind die Früchte der demokratischen Bildungsanstrengung und ein Indikator für meine These, dass der Antisemitismus über die Generationen hinweg betrachtet spürbar nachlässt. Ich gebe aber zu bedenken, dass solche positiven Werte jeden Tag neu erkämpft werden müssen. Die Umfrage zeigt, dass sich das Bewusstsein der Deutschen gegenüber ihren jüdischen Bürgern doch nachweislich normalisiert hat.

Glauben Sie, die folgenden Gruppen haben zu viel Einfluss in unserer Gesellschaft, zu wenig Einfluss oder ist der Einfluss gerade richtig? Den größten Einfluss in der Gesellschaft sprechen die Deutschen den Großunternehmen (60 Prozent) und den Medien (60 Prozent) zu. Es folgen auf Platz drei die Amerikaner (53 Prozent) und dann die Banken (51 Prozent). Den Gewerkschaften misst gerade Mal jeder dritte Deutsche (35 Prozent) einen wichtigen Stellenwert zu. Die Kirchen liegen mit 21 Prozent auf dem vorletzten, die Vertretung der Juden in Deutschland mit 20 Prozent auf dem letzten Platz.

Schaut man sich die Parameter für die Vertretung der Juden etwas genauer an, zeichnet sich hier ein deutlicher Unterschied innerhalb der Generationen ab. So liegt im Bundesdurchschnitt der Wert "zu wenig Einfluss" bei 17 Prozent. Völlig unterbewertet nach Ansicht der Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen: Immerhin zeigt der Wert von 37 Prozent, dass diese Gruppe sich einen durchaus größeren Einfluss der jüdischen Bürger wünschen würde.

Wolfgang Benz: Im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Gruppen ist der Wert der Vertretung der Juden in Deutschland mit 20 Prozent ausgesprochen gering. Das hat - gerechnet vom Zweiten Weltkrieg bis heute - in früheren Jahren ganz anders ausgesehen. Noch in den siebziger Jahren wurde der Einfluss der Juden als gesellschaftliche Gruppe wesentlich stärker eingeschätzt als heute. Beleg für meine These, dass bestimmte antisemitische Stereotypen aussterben. Das verdeutlicht sehr schön der Blick auf die Unterschiede innerhalb der Generationen. Je älter die Deutschen, desto größer der Wert. Bei den 14- bis 29-Jährigen sehen nur sechs Prozent den Einfluss der Vertretung der Juden in Deutschland als zu groß an, bei den 30- bis 49-Jährigen sind es 18 Prozent und bei den 50-Jährigen und Älteren 28 Prozent.

Was würden Sie empfinden, wenn Sie einen Bürger jüdischen Glaubens als Nachbarn hätten? Möchten Sie einen Bürger jüdischen Glaubens als Nachbarn, ist Ihnen das egal oder wollen Sie ihn lieber nicht als Nachbarn haben? Mit "ist mir egal" antwortete eine Mehrheit von 85 Prozent der Deutschen auf diese wohl auf den ersten Blick merkwürdig anmutende Frage. Lieber keinen jüdischen Nachbarn haben zu wollen, dafür sprachen sich zwei Prozent der Deutschen aus und explizit für einen jüdischen Nachbarn 13 Prozent.

Wolfgang Benz: Zunächst ein Mal ist das wieder eines der positiven Resultate, das ich in seiner Deutlichkeit so nicht erwartet hätte. Denn diese Frage hat es in sich. Aus der Erfahrung mit anderen Umfragen weiß ich, dass es nicht viele Möglichkeiten gibt, Antisemitismus in der Bevölkerung wissenschaftlich zu messen. Denn man kann die Menschen schlecht fragen: Sind Sie Antisemit? Dann hätte das Antwortergebnis "Nein" wahrscheinlich zwischen 95 und 99 Prozent erreicht. Warum? Das hat viele unterschiedliche Gründe. Einer davon ist, dass manche nicht wissen, was dieser Begriff konkret meint, beziehungsweise, wie er als Begriff belegt ist. Also sagen dann viele erst ein Mal instinktiv nein, um nichts Falsches zu sagen. Dann gibt es die Gruppe, die wirklich nein meint, wenn sie nein sagt. Auf die Schliche kommen wollen die Demoskopen aber denen, die antisemitische Tendenzen aufweisen, aber von einem klaren Bekenntnis Abstand nehmen würden, weil sie sonst Nachteile für sich befürchten. Diese Gruppe steckt natürlich auch in der 85 Prozent Ist-mir-egal-Antwort. Man erhält also Annäherungswerte, die nur gekoppelt und verknüpft mit anderen Werten Rückschlüsse zu lassen. Das kann allein eine detaillierte Analyse leisten, die dem Material ja erst noch bevor steht.

Es gibt bei uns ja auch kritische Meinungen über Juden. Woran nehmen diese wohl Anstoß? Die Mehrheit der Deutschen (65 Prozent) sieht in der "Politik Israels in den besetzten Gebieten" den Grund dafür, warum Deutsche an jüdischen Bürgern Anstoß nehmen. Jeder Zweite (52 Prozent) nennt "die Wiedergutmachungsleistungen Deutschlands insgesamt" und 39 Prozent "die unterstellten Bereicherungen einzelner Juden bei den Wiedergutmachungsleistungen" als Gründe für Ressentiments. Im unteren Drittel rangieren "die wirtschaftliche Macht" (32 Prozent), der "gesellschaftliche Einfluss" (32 Prozent) als Kritik. Den "jüdischen Glauben" betrachten 19 Prozent als Grund für eine Ablehnung und sieben Prozent machen keine Angaben zu einem der aufgelisteten Antwortfelder.

Wolfgang Benz: Das ist für mich eine spannende Zahlenreihe. Sie gibt fundiert Aufschluss darüber, auf welche antisemitischen Stereotype die Soziologen ihre seismographischen Sensoren ausgerichtet haben. Erfreut bin ich über die Parameter "wirtschaftliche Macht" und "gesellschaftlicher Einfluss". Das sind Stereotypen, die die nationalsozialistische Propagandamaschinerie als Aufhänger ihres Antisemitismus benutzt hat. Dass diese Werte sich im unteren Drittel bewegen, zeigt, wie erfolgreich das demokratische System in Deutschland gegen derartige Vorurteile gearbeitet hat. Auch wenn ich mir persönlich bessere Werte gewünscht hätte, sehe ich sie nicht als bedrohlich. Was die Kritik an der Außenpolitik Israels anbelangt: Jede Kritik an der Politik Israels ist erlaubt, wenn sie dieselben Regeln beachtet, die eine Kritik an der amerikanischen, finnischen oder neuseeländischen Politik berücksichtigen müsste. Ich warne aber gleichzeitig davor, dass Antisemiten Israel nur allzu oft als Ventil für ihre Sache missbrauchen. Handlungsbedarf sehe ich bei der Einstellung der Deutschen zu den Entschädigungsleistungen. Hier sind die Bundesregierung und die politischen Parteien gefordert, Abhilfe zu schaffen. Aufklärung, Verantwortung und wohl auch Demut den Opfern gegenüber sollten hier die Maßstäbe sein, die es zu berücksichtigen gilt, um die relativ hohen Negativwerte auf ein normales Maß zu reduzieren.

Bitte sagen Sie, ob Sie folgende Aussage stark befürworten, eher befürworten, eher ablehnen oder stark ablehnen: "Heute ebenso wie in der Vergangenheit üben die Juden zu viel Einfluss auf die Weltgeschehnisse aus." Dass Juden weltweit zuviel Einfluss haben, meinen 25 Prozent der Deutschen, 67 glauben das nicht, neun Prozent machen dazu keine Angaben. Das größte Vertrauen genießen die jüdischen Bürger innerhalb der Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen. In dieser Gruppe vertreten mit 82 Prozent weit über dem Bundesdurchschnitt der Befragten die Meinung, dass Juden keinen umfassenden globalen Einfluss auf die Geschicke der Welt ausüben. Doch dieses Zutrauen schwindet, umso älter die Deutschen sind.

In der Gruppe der 30- bis 49-Jährigen liegt der Wert bei 68 Prozent, bei den 50-Jährigen und Älteren nur noch bei 59 Prozent. Auch in der Bewertung der Einflussnahme der Juden gibt es Unterschiede innerhalb der Generationen. Glauben nur 13 Prozent der 14- bis 29-Jährigen an deren weltweiten Einfluss, ist dieser Wert in der Gruppe der 30- und 49-Jährigen sowie der 50-Jährigen und Älteren mehr als doppelt so hoch (beide 27 Prozent).

Des Weiteren fällt in der Detailanalyse ein leichtes Ost-West-Gefälle auf. So glauben nur 21 Prozent der Ostdeutschen an einen übergroßen jüdischen Einfluss. Indes sind es in den alten Bundesländern 25 Prozent. Umgekehrt lehnen 71 Prozent der Ostdeutschen solche Hirngespinste deutlich ab, im Westen dagegen nur 66 Prozent.

Wolfgang Benz: Das sind alarmierende Zahlen. Das ist der Nährboden für Redner wie den CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann, der mit perfidem Kalkül tief eingelassene Vorurteile stimuliert hat. Jeder vierte Deutsche glaubt an solche konfusen Weltverschwörungstheorien, die die Juden mal als Wegbereiter des Kapitalismus, mal als Wegbereiter des Kommunismus sehen. Zwar überraschen mich diese Werte nicht, um so entschiedener kann an dieser Stelle wieder nur an die Bundesregierung und die politischen Parteien appelliert werden, alle Anstrengungen zu fördern, damit solche Irrwege wie sie die Verschwörungsfantasien darstellen, als Welterklärungen verschwinden.

Texte und Interview mit Wolfgang Benz: Frank Diering

Zur Person: Wolfgang Benz

Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde Wolfgang Benz mit seinem Werk "Enzyklopädie des Nationalsozialismus" (1998). Seine akademische Laufbahn begann der am 9. Juni 1941 im nordwürttembergischen Aalen an der Jagst geborene Historiker 1969 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München. Nach einer Gastprofessur an der University of New South Wales in Sydney spezialisierte sich Benz in München als Zeitgeschichtler auf die Zeitabschnitte Weimar, Nationalsozialismus und Nachkriegsjahre Deutschlands für die Themen Politik und Gesellschaft. Der Vater von zwei Kindern übernahm 1990 die Leitung des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, an der er zugleich zum Professor berufen wurde.

Dienstag, 11. November 2003

"Task-Force" soll schwere Fälle lösen

Mehr als 100 000 Kriminalfälle im Ostteil

Die Polizei will im Ostteil Berlins stärker gegen Rechtsextremisten vorgehen. "Alles was sich an rechtlichen Möglichkeiten bietet, werden wir konsequent anwenden, damit es nicht heißt, der Osten der Stadt sei ein Eldorado für Neonazis", sagte der Leiter der zuständigen Polizeidirektion 6, Michael Knape, am Montag vor Journalisten. Für die nächsten Monate kündigte er gemeinsame Einsätze mit der Brandenburger Polizei und dem Bundesgrenzschutz an.

Nach dem Neuzuschnitt der Polizeistrukturen ist die Direktion 6 die flächenmäßig größte in Berlin und macht mehr als ein Drittel des Stadtgebietes aus. Rund 2 500 Polizei-Beschäftigte sind für 748 000 Bewohner der Bezirke Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick zuständig. Nach Berlin, Hamburg und München ist diese Direktion die viertgrößte deutsche "Stadt". Sie hat auch ein riesiges Verkehrsaufkommen. Über die Straße Am Tierpark beispielsweise rollen bis zu 85 000 Fahrzeuge pro Tag und auf dem Adlergestell sind es 70 000. Dieses Jahr starben sechs Fußgänger und sechs Radfahrer. "Verkehrssicherheitsarbeit ist ein absoluter Schwerpunkt", so Knape. "Sie steht bei uns auf gleicher Stufe mit der Kriminalitätsprävention."

Auch bei der Kriminalität unterscheidet sich die Direktion im Osten von anderen. "Mit mehr als 100 000 zu bearbeitenden Straftaten pro Jahr liegen wir deutlich über dem Durchschnitt", sagte Kripochef Michael Klös. Deshalb hat die Direktion 6 als Einzige ein Kommissariat gegründet, das flexibel auf neue Entwicklungen reagieren soll. Diese 14 Mann starke "Task-Force" arbeitet bereichsübergreifend, dazu zählt auch die Bekämpfung rechter Gewalt. Knapes Task-Force soll schwere Kriminalfälle in eigener Regie lösen. Wenn es notwendig ist, soll sie dafür auch Beamte aus anderen Bereichen abziehen. Die Truppe soll erkunden, wo sich neue Straftaten zusammenbrauen und sich um Intensivtäter kümmern.

Einen Erfolg konnte Klös Truppe bereits melden: Sie fasste zwölf Jugendliche, die zwischen September und Oktober mehr als 50 Raubtaten auf der Straße begangen hat. Die Bande, aus türkischen und deutschen Jugendlichen stammt aus Neukölln und fuhr für ihre Raubzüge in den Osten. Ihre gleichaltrigen Opfer haben sie nicht nur beraubt sondern auch gedemütigt. Klös: "Sie mussten sich ausziehen, wurden angespuckt und anuriniert." (kop.)

Dienstag, 11. November 2003

Neonazi-Demo von Rudow nach Schöneweide

Andreas Kopietz

Rechtsextremisten wollen am 6. Dezember von Rudow nach Schöneweide demonstrieren. Die Demonstration unter dem Motto "Freiräume schaffen, nationale Zentren erkämpfen!" soll vom U-Bahnhof Rudow über Johannisthal nach Schöneweide verlaufen. Organisiert wird die Demonstration von lokalen rechten Gruppen, die sich unter anderem "Berliner Alternative Süd-Ost" nennen. Bei der Polizei sind 500 Teilnehmer angemeldet. Gruppen wie die "Treptower Antifa" haben Gegenkundgebungen, unter anderem am U-Bahnhof Zwickauer Damm, angekündigt. (kop.)

Dienstag, 11. November 2003

Neue Direktion, neuer Zuschnitt
Chef Knape: Mehr Augenmerk auf »erlebnisorientierte Plattenbau-Skins« 
 
Von Rainer Funke 
 
Eine neue Direktion ist durch die jüngste Polizei-Strukturreform geboren worden. Sie wurde für einen Gutteil der Ostbezirke zuständig gemacht. Hier bündeln sich typische Sicherheitsprobleme moderner Großstädte – Straßenkriminalität, Gewalt, hier vor allem auch die durch Rechtsextremisten, Unfallschwerpunkt, dauerhafte Unsicherheitsgefühle der Leute, vor allem nachts. Wäre der Bereich dieser Direktion 6 eine Stadt, würde sie sich gleich hinter Berlin, Hamburg und München als die viertgrößte im Lande einreihen.
Das skizziert auch die Probleme, die durch schrumpfendes Personal nicht eben leichter zu lösen sind. Deshalb will der Chef der Direktion, Michael Knape, vermehrt Schwerpunkte setzen, wie er gestern vor der Presse sagte. Sein Konzept sieht z.B. vor, der rechtsextremistischen Szene »keinen Fußbreit Entfaltungsmöglichkeit« zu gestatten, sie aber auch nicht ins Umland zu verdrängen. Deshalb werde es künftig eine deutlich verstärkte Zusammenarbeit mit der Brandenburger Polizei geben, etwa gemeinsame Razzien gegen die Szene.
Auch wenn in den Westbezirken die Zahl rechtsextremer Straftaten weiter ansteige, bleibe sein Bereich Schwerpunkt, so Knape, etwa durch die Aktivitäten der in Köpenick ansässigen NPD-Zentrale mit ihrem künftigen Schulungszentrum, der berüchtigten »Weißen Arischen Bruderschaft«, der »Vandalen« und anderer.
Im Direktionsbereich habe sich zudem ein Geflecht von Lokalitäten, Geschäften und Treffpunkten herausgebildet, das u.a. von gewissen Musikern, Hooligans, Türstehern und Tattoo-Ladenbetreibern geprägt wird. »Erlebnisorientierte Plattenbau-Skins« seien die Woche über und einzeln eher unauffällig, pöbelten aber an Wochenenden herum und verbreiteten Angst und Schrecken. Dem gilt laut Knape das besondere Augenmerk der Polizei.
Man wolle sich auch vermehrt um Sorgen ausländischer Bürger kümmern und habe deshalb einen polizeilichen Migrationsbeauftragten als Ansprechpartner für diese Bevölkerungsgruppe berufen. Leider funktioniere Integration am besten bei Straftätern, sagte ein Beamter. Er belegte dies mit einem Fall, bei dem eine 12-köpfige Bande aus deutschen und türkischen Schülern 50 Raubstraftaten begangen haben. Nach dem Treff am Alex zogen sie durch Ostbezirke, bedrohten Bürger, misshandelten und bespuckten sie, nahmen ihnen Handys und Bargeld weg.
Eine gesonderte »schnelle Eingreiftruppe« befasst sich mit aufkommenden Schwerpunkten. So ist eine schnellere Reaktion als in gewohnten Strukturen und Zuständigkeiten möglich. Intensivtäter werden von polizeilichen »Paten« betreut. So hofft man, jenen 5 Prozent der Täter auf der Spur zu bleiben, die für 80 Prozent aller Kriminalfälle verantwortlich sind.


• Die neu gebildete Direktion 6 ist seit 1. August für Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick zuständig.
• Damit trägt sie Verantwortung für die Sicherheit von 748000 Bürgern (22,3 Prozent der Berliner) auf einer Fläche von 282 Quadratkilometern (31,68 Prozent der Stadt).
• Zwei Direktionen wurden zu dieser einen zusammengefasst. Sie beschäftigt knapp 2500 Polizisten, darunter 295 Kriminalpolizisten. 26 Prozent sind Frauen.
• Mit rund 100000 Straftaten im Jahr gehört der Direktionsbereich zu den am stärksten belasteten in Berlin.

Donnerstag, 13. November 2003

Verprügelt und dann auf die Gleise geworfen

Hohe Haftstrafe für Überfall auf Russlanddeutsche

Katrin Bischoff

KÖNIGS WUSTERHAUSEN. Er hatte mit Stahlkappen besetzte Springerstiefel an. Die Stiefel waren mit den für die rechte Szene typischen weißen Schnürsenkeln geschnürt. Mit diesen Stiefeln trat Steven N. im Mai 2003 auf einen am Boden liegenden und schon schwer verletzten Russlanddeutschen ein. Den Freund des Opfers traktierte er mit Faustschlägen. Wegen dieser Taten wurde der 22-jährige Trebbiner am Mittwoch vor dem Amtsgericht in Königs Wusterhausen zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Der einschlägig vorbestrafte Mann habe mit hoher krimineller Energie gehandelt, sagte Richterin Heidrun Griehl. Mit dem Urteil folgte sie dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Neben N. konnte nur noch ein weiterer Täter ermittelt werden.

Die Tat geschah am 3. Mai. Steven N. war beim Baumblütenfest in Werder. Auf dem Heimweg traf er im Zug auf Gesinnungsgenossen. Die Obstweinflaschen gingen reihum. Auf dem Bahnsteig in Schönefeld kamen der Gruppe drei Jugendliche entgegen, die sich auf Russisch unterhielten. Die Russlanddeutschen wollten nach Berlin fahren, wo sie zu Hause sind. Sie wurden angerempelt. Als sie sich beschwerten, folgten die ersten Schläge von "einer Horde angetrunkener Skinheads", die T-Shirts trugen, die auf der Vorderseite eine 88 zeigten, so Staatsanwalt Peter Petersen. H ist der achte Buchstabe im Alphabet, 88 steht für Heil-Hitler.

Auf Intensivstation aufgewacht

Einer der drei Jugendlichen konnte fliehen. Den anderen beiden Schülern gelang dies nicht. Steven N. sei völlig ausgerastet, sagte Petersen in seinem Plädoyer. Er habe sich den 15-Jährigen gegriffen, auf ihn eingeprügelt und diesen schließlich auf die Gleise geworfen. Dort habe er auch gegen den bereits am Boden liegenden 17-jährigen Russlanddeutschen getreten. Wassili K. war bewusstlos. K. überlebte den Überfall nur, weil die Polizei einschritt. Der Schüler kam erst auf der Intensivstation wieder zu sich. "Wir müssen sicherstellen, dass Menschen, die anders sprechen oder aussehen, aus der S-Bahn steigen können, ohne dann Stunden später auf der Intensivstation zu liegen", so der Staatsanwalt. Richterin Griehl fügte hinzu, es sei auch nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ein Zug eingefahren wäre.

Fredrik Roggan, der Anwalt eines der Opfer, hatte eine Haftstrafe von vier Jahren gefordert. Für ihn grenzte die Tat an ein versuchtes Tötungsdelikt. "Mit solchen Stiefeln kann man so schwere Verletzungen zufügen, dass jemand stirbt", sagte er. Dann machte er auf die große Zahl von fremdenfeindlichen Attacken aufmerksam. "Ich lese nach jedem Wochenende in den Zeitungen davon", sagte Roggan.

Laut Innenministerium werden es "zumindest nicht mehr" politisch motivierte Straftaten, so Ressort-Sprecher Wolfgang Brandt. Zudem sei der Anteil von Jugendlichen an der Zahl der Tatverdächtigen geringer geworden. "Trotzdem bleibt die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen in Brandenburg ein Problem."

Montag, 17. November 2003

Rechter Aufmarsch

700 Neonazis demonstrieren am Soldatenfriedhof in Halbe. Polizei hält 400 Gegendemonstranten auf Distanz

Beim ersten Neonazi-Aufmarsch am Waldfriedhof Halbe, südlich von Königs Wusterhaussen, seit 1991 hat am Sonnabend ein starkes Polizeiaufgebot 700 Rechtsextremisten von rund 400 Gegendemonstranten getrennt. Im Umfeld des größten deutschen Soldatenfriedhofs seien 38 Platzverweise ausgesprochen worden, davon 32 an linke Gegendemonstranten, sagte Polizeisprecher Peter Salender. Die rechte Kundgebung wurde kurzfristig von dem 68-jährigen Theologen, ehemaligen PDS-Bundestagsabgeordneten und früheren Rektor der Berliner Humboldt-Universität, Heinrich Fink, und einigen Gleichgesinnten mit "Mörder"-Rufen unterbrochen. Die Polizei wertete den massiven Einsatz mit rund 1.200 Beamten und ihre Taktik, rechte und linke Demonstranten auseinander zu halten, als Erfolg.

Der Neonazi-Aufmarsch war am Vortag vom Oberverwaltungsgericht Frankfurt (Oder) erlaubt worden. Die Richter hatten die Beschwerde des Polizeipräsidiums Frankfurt gegen die Aufhebung des verhängten Versammlungsverbotes in der Vorinstanz abgelehnt. Laut Gerichtsbeschluss war den Rechtsextremisten das Betreten des Friedhofs nicht gestattet. "DPA, TAZ

Montag, 17. November 2003

Andreas Siegmund-Schultze, Halbe

 

Verhöhnung der Opfer des Faschismus

 

Erstmals seit zwölf Jahren durften Neonazis auf dem Soldatenfriedhof in Halbe wieder ihre »Helden« ehren

 

Bundesweit gedenken Neo- und Altnazis jedes Jahr zum »Volkstrauertag« der »gefallenen deutschen Soldaten beider Weltkriege«. Höhepunkt der braunen Zeremonien war am Samstag ein vom Hamburger Neonazikader Christian Worch angeführter Aufmarsch unter dem Motto »Ruhm und Ehre dem deutschen Frontsoldaten« durch das südlich von Berlin gelegene Halbe. Rund 400 Rechtsextreme, vorwiegend Mitglieder der »Freien Kameradschaften«, waren mit Bussen, Pkw und Bahn nach Halbe gekommen. Der Neonaziaufmarsch war erstmals seit 1991 wieder genehmigt worden. Dem Verwaltungsgericht Frankfurt/Oder reichte dafür offenbar der Umstand, daß die Demonstration nicht für den »Volkstrauertag« selbst, also für Sonntag angemeldet worden war. Zeitgleich nahmen rund 250 Menschen an einer von antifaschistischen Gruppen initiierten Gegenkundgebung teil.

Im April 1945 waren insgesamt 40 000 Soldaten von Roter Armee und Wehrmacht, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und Zivilisten bei der Kesselschlacht in den Wäldern um den brandenburgischen Ort umgekommen. Hitlers Generäle opferten Zehntausende, obwohl sie wußten, daß der Krieg längst verloren war. Soldaten, die wenige Tage vor Kriegsende bei Halbe im Verdacht standen, desertieren zu wollen, wurden hingerichtet. 57 von ihnen liegen auf dem Halber Friedhof begraben – wie auch Tausende Zwangsarbeiter.

Redner der antifaschistischen Kundgebung am Sonnabend kritisierten das Vorgehen der örtlichen Behörden. Eine antifaschistische Demonstration war ebenso wie eine Ehrung ukrainischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter von den Behörden verboten worden. Eine Mahnwache für die Wehrmachtsdeserteure auf dem Friedhof, die Ludwig Baumann, Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz, angemeldet hatte, wurde mit der Begründung nicht zugelassen, daß der Antrag dafür zu spät gestellt worden sei.

Die Neonazis zogen am Samstag nach einer rund zweistündigen Kundgebung auf dem Halber Bahnhofsvorplatz durch den Ort zum Soldatenfriedhof. Aus der gesamten Bundesrepublik waren sie angereist, viele wurden von den rund 1200 eingesetzten Polizisten wieder zurückgeschickt.

Eine Beschwerde des Polizeipräsidiums gegen die Genehmigung des Aufzuges durch das Frankfurter Verwaltungsgericht war am Freitag vom Oberverwaltungsgericht abgelehnt worden, der Aufmarsch wurde jedoch mit zahlreichen Auflagen belegt. So durften die Neonazis keine Fackeln mitführen und nicht im Gleichschritt marschieren. Ebenso war die Parole »Ruhm und Ehre der Waffen-SS« untersagt. Und auch die Rechten durften den Friedhof nicht betreten.

Dienstag, 18. November 2003

PDS-Protest gegen NPD-»Freiräume«


(ND). Die PDS Treptow-Köpenick wendet sich entschieden gegen die Errichtung eines Schulungszentrums der NPD in Treptow-Köpenick. In einer Entschließung der Hauptversammlung des Bezirksverbandes wird vor »zunehmenden Aktivitäten zur Verbreitung von antidemokratischem, rassistischem Gedankengut und brauner Unkultur« nachdrücklich gewarnt. Der PDS-Protest richtet sich zugleich gegen eine für den 6. Dezember angekündigte Demonstration Freier Kameradschaften aus Berlin und Brandenburg von Rudow nach Schöneweide unter dem Motto »Freiräume schaffen, nationale Zentren erkämpfen«. Die Partei ruft ihre Mitglieder auf, dieser Demonstration entgegenzutreten, gemeinsam mit anderen Initiativen und Projekten kulturvoll und ideenreich zu reagieren und auf Straßen und Plätzen Zeichen zu setzen.«

Donnerstag, 20. November 2003

Der NPD laufen die Mitglieder weg

Verfassungsschutz registriert dafür Wiederbelebung der örtlichen Kameradschaftsszene

VON ANDREAS KOPIETZ

Berlins Neonazis formieren sich neu. Sie konzentrieren jetzt ihre Arbeit auf die Kieze. Den Grund dafür sehen Sicherheitsbehörden in einer Schwächung der rechtsextremen NPD. "Wir können eine Wiederbelebung der Kameradschaftsszene feststellen", sagt der Sprecher des Berliner Verfassungsschutzes, Claus Guggenberger. Im vergangenen Jahr waren solche lokalen Neonazi-Gruppierungen den Behörden kaum aufgefallen. Mittlerweile gibt es sogar Neugründungen, wie eine Kameradschaft Reinickendorf. Auch das "Nationale Bündnis Preußen", das bislang vor allem Treffs in Dorfgaststätten in der Region Barnim und der Uckermark organisierte, ist erstmals in Berlin aktiv. Gleichzeitig beobachten Verfassungsschützer eine zunehmende Vernetzung der Gruppen.

Diese konzentrieren sich verstärkt auf die Anleitung rechten Nachwuchses - auf "nationale Aufbauarbeit", wie ein Aktivist formuliert: "Wir wollen Teenager von der Straße holen und ihnen eine soziale Perspektive in einer Gruppe geben." Das passiert zum Beispiel gerade im Südosten der Stadt. Dort etablieren sich seit einigen Monaten zwei lokale Bündnisse, die der Verfassungsschutz unter dem Begriff "Kameradschaft" führt: eine "Deutsche Gemeinschaft Süd" in Rudow und die "Berliner Alternative Süd-Ost" (BA-SO) in Treptow-Köpenick. Doch während Kameradschaften sich szene-interne Aktivitäten organisieren, verstehen sich die neuen Bündnisse als "Initiativen" nach außen: Unter anderem machten Mitglieder im Sommer bei einem SPD-Fest in Rudow und einer Bürgerveranstaltung in Köpenick zur Agenda 2010 auf sich aufmerksam.

Beide Gruppen treten auch als Veranstalter einer Demonstration unter dem Motto "Freiräume schaffen, nationale Zentren erkämpfen!" auf, die für den 6. Dezember angekündigt ist. Sie soll von Rudow durch Johannisthal nach Schöneweide führen. Unterstützt wird der Marsch durch mehrere Berliner Kameradschaften.

Vorbei scheinen die Zeiten, in denen die NPD-Führer zur zentralen Demonstration ins Berliner Stadtzentrum befahlen und die Anhänger scharenweise folgten. Nach dem Scheitern des Verbotsverfahrens im März verliert die NPD in der Szene an Einfluss. Obwohl die Partei in Köpenick ein "Nationales Schulungszentrum" plant, das überregional Kader anziehen soll, sind rechte Strukturen außerhalb der Partei für Neonazis interessanter geworden. "Das hängt unter anderem damit zusammen, dass Teile der Rechtsextremen sogar in der NPD eine Systempartei sehen", sagt Claus Guggenberger. Tatsächlich sank die Mitgliederzahl der NPD nach Angaben eines Sprechers bundesweit von 6 500 auf 5 000 und in Berlin von 260 auf 200. Doch selbst Parteimitglieder halten die neue Mitgliederzahl noch für weit übertrieben. Inzwischen ist der Kreisverband Südwest zusammengebrochen, und in Treptow-Köpenick gibt es noch etwa fünf Aktive. Lediglich alte Mitglieder in Reinickendorf, die sich noch aus Mauerzeiten kennen, halten noch zur Sache. Dennoch ist sich Bianca Klose vom Zentrum Demokratische Kultur sicher, dass die NPD nach wie vor großen Einfluss besitzt und Kader der rechten Szene außerhalb der Partei schult. "Da sind schon massive Zusammenhänge zu erkennen", warnt sie.

Tatsächlich machen einstige Funktionäre jetzt ohne ihre Partei weiter. Etwa der 38-jährige René Bethage. Bis zu seinem Austritt Ende September war er im Landesvorstand und Kreisvorsitzender für Treptow-Köpenick. "Die NPD hat den Fehler gemacht, alles von oben nach unten durchzudrücken", begründet er seine jetzige Tätigkeit. "Aber wenn man keine funktionierende Basis hat, klappt es eben nicht." Seine "Basis", das sind bislang noch lose agierende Jugendcliquen, deren Weltbild es Bethage zufolge zu festigen gilt. Er versucht Gleichgesinnte zu organisieren, vor allem in Schöneweide und Köpenick, und gründete besagte "Berliner Alternative Süd-Ost". Bethage ist auch der Anmelder der Demonstration am 6. Dezember.

Dass die Abschlusskundgebung der Demo ausgerechnet in der Brückenstraße vor dem Domizil des Vereins "Brücke 7" geplant ist, macht deutlich, wie hilflos der Bezirk und lokale Initiativen im Umgang mit Rechtsextremismus erscheinen. In den Räumen von "Brücke 7" hatte der Verein, zu dessen Kuratoriumsmitgliedern unter anderem der Schriftsteller Günter Grass und der Ehrenpräsident der Akademie der Künste, Walter Jens, zählen, in diesem Jahr mehrere Versuche unternommen, mit rechtsextremen Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Unter dem Motto "wie national" man eigentlich sein dürfe, gab es eine Diskussionsrunde, bei der die Beteiligten hitzig aneinander vorbei debattierten. Im September versuchte sich dann SPD-Innensenator Ehrhart Körting an den Rechten, bei einer Veranstaltung unter dem Motto "Rechts und Links - wie viel verträgt unsere Demokratie?". Der Senator schlug sich wacker. Doch wenn die Veranstaltung einen Effekt hatte, dann den, dass die Rechten in den Vereinsräumen an dem Abend auf die Idee kamen, die BA-SO zu gründen.

Derweil eskalieren seit Monaten in Treptow und Neukölln die Auseinandersetzungen zwischen Teenagern, die sich als links und rechts bezeichnen. Nur zwei Beispiele von vielen: Am 23. Oktober wird laut Polizei ein rechter Jugendlicher am Bahnhof Schöneweide von Linken zusammengeschlagen. Zwei Tage später versuchen Skinheads einen Jugendclub in der Nähe zu stürmen. Die Zivilbeamten der Polizei achten nicht nur auf die Rechten, sondern auch auf Linke. Zum Beispiel auf eine so genannte Treptower Antifagruppe (T.A.G.), die sich gern konspirativ gibt und zu deren Umfeld etwa zehn bis 20 Jugendliche zwischen 14 und 22 Jahren gehören. Als Sprecher tritt ein 21-Jähriger auf, der sich Silvio Kurz nennt. Seine Truppe bereitet sich schon eifrig auf den 6. Dezember vor, zu "Gegenaktionen" und "Blockaden" auf. Das bezirkliche "Bündnis gegen Rechts" ist Kurz zu lasch, und Sozialarbeitern, die sich um Rechte kümmern, wirft er "akzeptierende Jugendarbeit" vor. Im Internet veröffentlichte Kurz eine Broschüre unter dem Namen "fight back", in der zur Jagd auf Neonazis aufgerufen wird. Sogar Minderjährige werden mit vollem Namen und Foto gezeigt.

Angesichts dessen erhöhte das Bezirksamt die Zahl der Streetworker. Jugendstadtrat Joachim Stahr (CDU) will einen "Runden Tisch" gegen Rechts initiieren. Die Zwölf- bis 15-Jährigen bei den Rechten könne man noch gewinnen, glaubt Stahr. Die Älteren seien jedoch verloren. "Die sind weg. Mit denen kann man nichts mehr machen. Die schmeißen wir auch aus unseren Jugendklubs raus." Einem 13-Jährigen erteilte Stahr im Frühjahr Hausverbot. Der Junge war in einem Johannisthaler Jugendklub beim Surfen auf einer rechten Internetseite erwischt worden. Seine Betreuung übernahm jetzt ein anderer: Ex-NPD-Funktionär Bethage.

Montag, 24. November 2003

Polizei schließt in Johannistal Neonazi-Club

Anzeigen gegen Jugendliche

Andreas Kopietz

Auf einem stillgelegten Industriegelände in Schöneweide hat die Polizei gestern früh einen Treff jugendlicher Neonazis geschlossen. In den Kellerräumen des ehemaligen "VEB Kühlautomat" am Johannistaler Segelfliegerdamm hatten sich Jugendliche illegal einen Club eingerichtet. Den Tresen und die Wände bemalten sie unter anderem mit zahlreichen Hakenkreuzen, SS-Runen, Ku-Klux-Klan-Kürzeln und Werbung für die Terrorgruppe Combat 18. Auf der Eingangstür stand die Aufschrift "Wolfsschanze".

Wie lange der Treff schon existierte, ist unklar. Obwohl sich in unmittelbarer Nähe eine Polizeiwache befindet, stießen die Beamten nur durch Zufall auf die Rechten. Wie ein Sprecher auf Anfrage mitteilte, seien Polizisten einer Anzeige wegen Stromdiebstahls und Hausfriedensbruchs nachgegangen. Unbekannte hatten auf einem benachbarten Telekomgelände ein Stromkabel an einen Verteilerkasten angeschlossen. Als die Beamten dem Kabel folgten, gelangten sie zu den Kellerräumen, die sich unter einer Fabrikhalle befinden. Dort hätten sie fünf Jugendliche im Alter von 15 und 20 Jahren angetroffen, die laute Musik von Nazi-Bands hörten, so der Polizeisprecher. Die Polizisten beschlagnahmten CDs und Kassetten und nahmen Anzeigen wegen des Verwendens verfassungswidriger Kennzeichen auf. (kop.)