Presseschau Dezember 2003
Die Presseschau
ist ein Service des durch entimon geförderten Projektes respectabel.de
Hier finden Sie eine Auswahl unserer Redaktion
von Artikeln des täglichen Pressespiegels
Montag, 1. Dezember 2003
Von M. Behrendt
Polizeischlag gegen die internationale Skinhead-Szene: 250 Polizisten, darunter auch Mitglieder des Spezialeinsatzkommandos (SEK) und des Staatsschutzes, haben am Sonnabend die Jahresfeier der "Hammer-Skins" in Pankow gestürmt. Die Veranstaltung wurde beendet, die Beamten schrieben Anzeigen.
Gegen 20.30 Uhr hatte sich die Berliner Sektion der einst in Nordamerika gegründeten Skinhead-Organisation in einer Gaststätte an der Waldstraße getroffen. Punkt 21 Uhr öffneten schwer bewaffnete Anti-Terror-Polizisten den ehemaligen DDR-Bowling-Club. Durch ihr martialisches Aussehen und das konsequente Einschreiten der Bereitschaftspolizisten wurden Aggressionen bereits im Keim erstickt.
Insgesamt wurden 127 Personen überprüft, die Beamten trafen neben den deutschen Rechtsextremisten auch Gleichgesinnte aus der Schweiz und Frankreich an. Sie schrieben vier Strafanzeigen wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, eine wegen Beleidigung und zwei wegen Widerstandshandlungen. In diesem Zusammenhang gab es eine Festnahme. Dazu kamen weitere sieben Anzeigen wegen Verstoßes gegen das Uniformierungsverbot, sieben Bomberjacken wurden deshalb sichergestellt. Ferner wurden ein gestohlenes Handy und Rauschgift beschlagnahmt.
"Bei den Hammer-Skins handelt es sich um den harten Kern dieser Szene", sagte Polizeikommissarin Peggy Rienow. "Der Betreiber des Lokals hatte nicht gewusst, wer seine Räume mietete. Ihm wurde nur mitgeteilt, dass es sich um eine kleine Geburtstagsparty handeln soll." Gegen Mitternacht wurde die Veranstaltung vom Einsatzleiter der Polizei für beendet erklärt.
Die Hammer-Skins traten früher in Berlin weniger in Erscheinung, bildeten kürzlich aber eine eigene Hauptstadt-Sektion. Nach dem Verbot der Skinhead-Organisation "Blood & Honor" im Jahr 2000 haben sie laut Verfassungsschutzerkenntnissen starken Zulauf erhalten. Sie werden von dem Nachrichtendienst als zunehmend gewaltbereit beschrieben.
Die Sozialstruktur der rechtsextremistischen Skinhead-Szene ist laut Verfassungsschutz
stark von jungen Männern dominiert. Der Frauenanteil liegt in Berlin bei knapp
20 Prozent. Die Skinheads halten sich vorwiegend im Ostteil der Stadt auf.
Präventionsrat
diskutiert Civitas-Projekt |
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[ORT] Der Präventionsrat des Amtes Niepars kommt
am 3. Dezember um 19 Uhr im Amtsgebäude zur nächsten Sitzung zusammen.
Auf der
Tagesordnung steht vor allem das
Civitas-Zwangsarbeiterprojekt. Hier werden sowohl die Schule Niepars als auch
das Franzburger Gymnasium einen Zwischenbericht ihrer bisherigen Projekte geben.
Außerdem gibt es Informationen zur Korrespondenz mit den Betroffenen aus Polen.
Dienstag, 2. Dezember 2003
Etwas läuft schief in Deutschland. Als im Sommer 2000 in Düsseldorf ein Bombenschlag auf jüdische Aussiedler verübt wurde und ein Brandanschlag auf eine Synagoge, standen die Deutschen Kopf. Denn vermutet wurde ein rechtsextremistischer Hintergrund. Eine ganze Nation forderte: Null Toleranz! Kein vernünftiger Mensch wäre damals auf die Idee gekommen, den Nahostkonflikt oder gar die US-Hegemonie in der Welt für diesen Terror verantwortlich zu machen.
Ganz anders waren die Reaktionen nach den jüngsten Anschlägen in Istanbul. Die Toten waren noch nicht aus den Trümmern geborgen, da war die Schuldfrage schon geklärt. "Bush und Blair kann sich die Welt nicht leisten", meinte die taz in ihrem Kommentar. Unterstellt wurde eine Kausalität zwischen der Irakpolitik George W. Bushs und Tony Blairs und den Terroranschlägen in Istanbul. Das ist mehr als eine mutige Interpretation. Denn die organisatorischen Hintergründe und die Tatmotive sind auch vierzehn Tage später nur unzureichend aufgeklärt.
Die Bereitschaft zu schnellen Schlussfolgerungen lässt aufhorchen. Sollte hier der islamistische Terror missbraucht werden, um die eigene, durchaus berechtigte Kritik an der Politik des amerikanischen Präsidenten mit blutigen Argumenten zu untermauern? Getreu dem Motto: Seht ihr, das kommt davon! Wer die Dinge so sehen will, der wird den Islamismus nicht als eine dem Faschismus vergleichbare totalitäre Ideologie interpretieren, sondern als eine Bewegung der unterdrückten und ausgebeuteten Massen gegen die amerikanische Hegemonie.
Tatsächlich wird dies von vielen in Deutschland so betrachtet. Seit Islamisten und nicht Rechtsextremisten bomben und Juden jagen, hält sich die Empörung gegenüber den Tätern in Grenzen. Der Anschlag auf die Synagoge in Düsseldorf wurde von jungen Islamisten verübt, die Anschläge vom 11. September wurden maßgeblich in Deutschland vorbereitet. Ein Aufstand der Anständigen? Fehlanzeige. Lieber vertiefen sich Millionen Bürger in Verschwörungstheorien rund um den 11. September. Und während in Frankreich jüdische Einrichtungen von Islamisten arabischer oder nordafrikanischer Herkunft angezündet oder in die Luft gesprengt werden und in Berlin sich die Übergriffe auf Juden häufen, unterschlägt die EU eine brisante Studie, die genau diese Beobachtung bestätigt. Stattdessen wird über die Frage sinniert: Hat das alles vielleicht doch etwas mit dem Nahostkonflikt, dem Verhalten der Juden oder der Politik der USA zu tun?
Seit die indische Schriftstellerin Arundhati Roy George W. Bush zum dunklen Wiedergänger Bin Ladens erklärte und Michael Moore diese These in seinen Erweckungsshows unterhaltsam bestätigt, gilt nicht nur für Globalisierungskritiker als ausgemacht: Die Gewalt, die die Hegemonialmacht USA weltweit in Form eines enthemmten globalisierten Kapitalismus sowie der Missachtung von Menschenrechten und internationalen Abkommen ausübt, kehrt in den Westen zurück. Somit könnte man die USA auch für den Aufstieg des europäischen Faschismus in den Dreißigerjahren verantwortlich machen. Schließlich breitete sich von dort nach 1929 die Weltwirtschaftskrise aus.
Es ist ein eurozentristischer Blick, der den Akteuren der Peripherie nur Reaktionen auf das Treiben des Westens zutraut. Islamistische Terroristen werden folglich als etwas ungezogen, überspannt und zugegebenermaßen fragwürdig in der Wahl ihrer Mittel wahrgenommen. Und nicht als Menschen mit eigenen sozial- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen, für die sie ganz allein die Verantwortung zu tragen haben. Die Folgen sind dramatisch. Statt sich einen klaren Begriff des Islamismus zu erarbeiten, führen europäische Intellektuelle gespenstische Diskurse, die Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern machen.
Der türkische Islamismus zum Beispiel hat in seinem Kern weder mit den Irakkriegen, dem Kolonialismus, dem Afghanistankrieg noch mit der US-amerikanischen Dominanz in der Welt nach 1945 zu tun. Er ist ein Produkt innertürkischer Auseinandersetzungen und des militanten Islamismus von außen. Seit der Gründung der Türkischen Republik im Jahr 1923 tobt ein Kulturkampf zwischen Laizisten und Islamisten. Letztere haben bis heute die strikte Trennung von Staat und Religion, die Gleichstellung der Frauen, das bürgerliche Recht und den Parlamentarismus nicht akzeptiert.
Um die radikalislamistische Herausforderung in ihrer ganzen Dimension zu begreifen, wäre es nützlich, sich eingehender mit den Gemeinsamkeiten zwischen Faschismus und Islamismus auseinander zu setzen. Es ist kein Zufall, dass die 1928 gegründeten Muslimbrüder, die für den gegenwärtigen Islamismus das sind, was die Bolschewiki für die kommunistische Bewegung des 20. Jahrhunderts waren, bis 1945 eng mit den Nationalsozialisten kooperierten, später dann mit aus Deutschland geflohenen Altnazis. Obgleich die einen ihr Wahnsystem religiös begründen, die anderen rassisch, wollen beide Ideologien ganz Ähnliches: unter anderem die Beseitigung des parlamentarischen Systems, die Abschaffung aller Parteien, die Wiedererrichtung patriarchaler Dominanz, die Vernichtung der Juden.
Beide Bewegungen führen einen kulturellen Kampf gegen alle sinnlichen und materiellen Versuchungen der kapitalistischen und kommunistischen Welt. Beide Bewegungen schrecken nicht vor Massenmord zurück. Der islamistischen Bewegung sind in der Vergangenheit hunderttausende von Menschen im Nahen Osten, im Iran, in Afghanistan, Pakistan und der Türkei zum Opfer gefallen. Interessiert hat das europäische Intellektuelle nur peripher. Bewegt hat das Thema sie erst, als die USA in den Achtziger- und Neunzigerjahren temporär mit Radikalislamisten zusammenarbeiteten und das Setting vom "bösen Amerika", das die Welt aus den Fugen sprengt, wieder greifbar war. Seitdem hält sich der Irrglaube, der Islamismus wäre erst durch die Intervention der USA zu der Gefahr geworden, die er seit nahezu achtzig Jahren vor allem für die muslimischen Gesellschaften darstellt.
Warum fällt es vielen so schwer, den totalitären Gehalt der islamistischen
Bewegungen ähnlich klar und kritisch zu sehen, wie sie es beim Faschismus und
Rechtsextremismus inzwischen gelernt haben? Warum sind die Reaktionen auf beide
Herausforderungen so unterschiedlich, obgleich der islamistische Terror seit
mehr als zehn Jahren auch den Westen heimsucht? Es ist zu befürchten, dass der
Islamismus als Stellvertreter gesehen wird, der den "antiimperialistischen"
Kampf gegen Israel, die Juden und die USA mit der Militanz führt, die man sich
selbst nicht mehr gönnt. Es fällt auf, dass ehemalige Aktivisten der Dritt-Welt-Bewegung
bei den gegenwärtigen Debatten viel Mühe darauf verwenden, die islamistischen
Täter zu Opfern internationaler Kapital- und Machtverhältnisse zu stilisieren.
Die Rechtsextremisten in Deutschland dürften dies alles mit Interesse zur Kenntnis
nehmen. " EBERHARD SEIDEL
Dienstag, 2. Dezember 2003
Jugendliche
gegen Fremdenhass |
Viola
Kröger gestaltete „Entimon“- Projekttage |
In der letzten
Woche fanden in der Kunstschule von Viola Kröger zwei künstlerische Projekttage
gegen Fremdenausgrenzung und Ausländerfeindlichkeit statt. Drei Wismarer Schülerinnen
und drei Studentinnen aus der ehemaligen Sowjetunion haben gemeinsam mit Farben
gearbeitet, sich gegenseitig portraitiert und Erfahrungen ausgetauscht, um sich
besser kennen zu lernen. So berichtete Olga Hoppe (20), die vor zwei Jahren
von Russland nach Deutschland eingewandert war, von ihren bedrückenden Erlebnissen
im Rostocker Aussiedlerheim.
Julia Besedina
(23) aus der Ukraine erzählte, dass sie in den letzten drei Jahren auch nicht
wenige diskriminierende Beschimpfungen und dumme Bemerkungen, z. B. in der U-Bahn
von Hamburg, über sich ergehen lassen musste. Die drei Studenten meinten jedoch
auch, dass die Erfahrungen in Wismar bisher sehr schön wären, und dass sie sich
unter den Studenten der Hochschule sehr wohl fühlen. Auch die Gruppenarbeit
bei Viola Kröger brachte die unterschiedlichen Kulturen zusammen. Gemeinsam
haben die sechs Jugendlichen z. B. eine große Plane farbig gestaltet. Aufgabe
war es, mit jeweils einer Farbe gemeinsam, jedoch ohne Worte, ein Bild zu schaffen.
So musste jeder versuchen, durch die Farbe in Kontakt zu treten, auf den anderen
einzugehen, Rücksicht zu nehmen und das Gegenüber nonverbal zu verstehen.
„Weibliche Rundungen
sind beim Malen entstanden“, lachte Kornelia Lück (14) von der Bertolt-Brecht-Schule,
die das Projekt für sehr wichtig hält. Mit dem Spaß kam dann wie von selbst
die Aufgeschlossenheit, neue Freunde zu gewinnen. Neben verschiedenen weiteren
Projekttagen, Ausflügen, Stadterkundungen wird abschließend auch eine Reportage
über das „Entimon“-Projekt in Wismar berichten.
Mittwoch, 3. Dezember 2003
Jana Frielinghaus |
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Zivile
Initiative abgewürgt |
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Thüringen:
Innenministerium blockiert Unterstützung von Beratungsstellen für Opfer
rechter Gewalt |
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In
Thüringen hat man ein eigenes Verständnis vom Kampf gegen rechte Gewalt
und neonazistisches Gedankengut. In der vergangenen Woche berichtete die
Thüringer Allgemeine, Beratungsstellen für Opfer rechtsradikal und rassistisch
motivierter Gewalt stünden vor dem Aus. Das thüringische Innenminsiterium
verweigere den Initiativen ABAD und MoBiT die für eine Förderung aus dem
Bundesprogramm Civitas erforderliche Kofinanzierung. Rund eine halbe Million
Euro aus an Bundesmitteln für sogenannte zivilgesellschaftliche Initiativen
gegen Rechts könnten daher im kommenden Jahr nicht an die Organisationen
fließen. |
Donnerstag, 4. Dezember 2003
VON ANDREAS
KOPIETZ
In Berlin hat die Zahl rechtsextremer
Gewalttaten stark zugenommen. Im Jahr 2002 registrierte die Polizei 52 rechte
Übergriffe. Allein im ersten Halbjahr 2003 seien es schon 41 gewesen, sagte
Innensenator Ehrhart Körting (SPD), als er gestern das "Lagebild Rechtsextremismus"
vorstellte.
Körtings Abteilung Verfassungsschutz,
die den Bericht ausgearbeitet hat, stellte fest, dass sich die Schwerpunkte
rechter Gewalt von Marzahn-Hellersdorf nach Treptow- Köpenick, Pankow und Neukölln
verschoben haben. Allein 34 Prozent dieser Gewalttaten würden inzwischen auf
Treptow-Köpenick entfallen, hieß es. Einen leichten Anstieg verzeichnen die
Sicherheitsbehörden bei der "politisch motivierten Kriminalität" wie
zum Beipiel dem Verwenden von Nazisymbolen. Im ersten Halbjahr wurden 494 Straftaten
gezählt, im gesamten vergangenen Jahr waren es 948.
Rechtsextreme Parteien verlieren
dagegen in der Szene an Einfluss. "Sie haben 2003 maßgeblich an Mitgliedern
verloren", sagte Körting. Die Aktivitäten der DVU beschränken sich in Berlin
laut Körting nur noch auf gelegentliche Mitgliederversammlungen und Stammtische.
Die Republikaner seien tief zerstritten, ihr Parteileben wäre fast zum Erliegen
gekommen. "Bei denen muss man irgendwann darüber nachdenken, ob sie es
noch wert sind, vom Verfassungsschutz beobachtet zu werden", so Körting.
Auch die NPD sei in einer Krise.
"Nach der Einstellung des Verbotsverfahrens hatten alle gedacht, die Partei
bekäme Aufwind", sagte der Senator. "Aber in der Neonazi-Szene wird
die NPD jetzt als Systempartei angesehen" - also als Teil der verhassten
Demokratie. Die Verfassungsschützer zählen immerhin noch 240 NPD-Mitglieder
in Berlin, doch selbst die Parteiführung spricht nur noch von etwa 200. Sie
begründet den Schwund mit selbst aussortierten "Karteileichen". Inzwischen
sind, wie berichtet, ganze Kreisverbände nicht mehr arbeitsfähig.
Dafür haben Gruppen außerhalb
der Parteien Zulauf. Inzwischen bemerkten auch die Verfassungsschützer, dass
sich nach Jahren der Stagnation die neonazistische Kameradschaftsszene in Berlin
wieder belebt hat. Von einer Schwächung der Rechten ist keine Rede. Mit 2 380
Personen ist laut Verfassungsschutz das "rechtsextremistische Potenzial"
konstant geblieben. Man findet es zum Beispiel bei den Autonomen Nationalisten
Berlins (ANB), die sich dem Kampf gegen die "Antifa" verschrieben
haben. Sie sind dazu übergegangen, politische Gegner zu bedrohen und anzugreifen
- zum Beispiel einen Marzahner PDS-Bezirksverordneten und einen Pankower Stadtrat.
Auch ein Steinwurf auf einen Jugendlichen in einer Straßenbahn Mitte November
wird den ANB zugeschrieben.
Der Verfassungsschutz meldet
auch Neugründungen wie die Kameradschaft Reinickendorf und die Berliner Alternative
Süd-Ost (BASO) in Treptow-Köpenick. Letztere gruppiert sich wie berichtet um
den Ex-NPD-Funktionär René Bethage. Er hat auch den für Sonnabend geplanten
Neonazi-Aufmarsch von Rudow nach Schöneweide angemeldet. Bei der Veranstaltung
sollen "Nationale Zentren" für rechte Jugendliche, zum Beispiel eigene
Jugendklubs, gefordert werden. Körting zufolge versuchen derartige Gruppen sich
um neue Themenfelder wie die soziale Lage von Jugendlichen zu kümmern. Dabei
würden sie sich auch unkonventioneller Methoden bedienen. Zu diesen Methoden
gehört, dass Bethages Kameraden gestern die Sprechstunde des Bürgermeisters
im Rathaus Köpenick aufsuchten. Außerdem haben die Rechten Innensenator Körting
für die Demo am Sonnabend als Redner eingeladen. Der Senator lehnte jedoch ab.
Donnerstag, 4. Dezember 2003
Besonders gehäuft treten rechtsextreme Übergriffe im Norden Berlins auf, weshalb die Bezirke Pankow und Lichtenberg von der Landeskommission gegen Gewalt aufgefordert wurden, einen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus zu entwickeln. Erster Schritt dazu war eine Situationsanalyse, die jetzt mit teils erschreckenden Ergebnissen vorliegt.
So wird deutlich, dass antisemitische Klischees in allen Bevölkerungsgruppen stärker werden. "Antisemitische Schimpfwörter setzen sich bei Kindern und Jugendlichen immer mehr durch", sagt Timm Köhler von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus, die die Analyse maßgeblich erstellt hat. Für die Analyse wurden in beiden Bezirken neben Beobachtungen und Recherchen jeweils etwa 100 Interviews geführt.
In den untersuchten Bezirken sind die NPD-Kreisverbände so stark, dass sie auch Aufgaben des Landesverbandes übernehmen. In Lichtenberg ist der Kreisvorsitzende gleichzeitig Vorsitzender des Landesverbandes. Daneben sind auch die Kameradschaften sehr aktiv. "Großen Einfluss haben die Autonomen Nationalisten Berlins, die vor allem mit jugendgerechten Aktionen neue Anhänger gewinnen", sagt Köhler. Daneben gebe es Überschneidungen zwischen der Rockerszene, den Hooligans und Rechtsextremen. Die "Vandalen - ariogermanische Kampfgemeinschaft", entstanden bereits vor 20 Jahren aus der Rockerszene. Treffpunkte der Rechtsextremisten sind laut Analyse in Lichtenberg der Bahnhof, Wartenberg, der Welsekiez und das Viertel rund um das Rathaus. In Pankow gilt unter anderem der Bahnhof als Treff.
Von Sven Felix Kellerhoff
Berlin - Die Bundesregierung setzt viel Geld ein, um den Rechtsextremismus in Deutschland zu erforschen und ihn zu bekämpfen. Mehr als 200 Millionen Euro haben diese Projekte gegen Rechtsextremismus allein seit Mitte 2000 gekostet. Das Ergebnis ist allerdings frustrierend: Gängige Studien ergeben keine Eindämmung des rechtsextremen "Gedankenguts". Eher das Gegenteil ist der Fall.
Eine neue Untersuchung der Freien Universität Berlin im Auftrag der Landeszentralen für politische Bildung in Bayern und Thüringen stellt jetzt die gesamte Forschung über Rechtsradikalismus unter Jugendlichen fundamental in Frage. Sie liegt der Berliner Morgenpost vor.
Der Politologe Klaus Schroeder und seine Mitarbeiter kommen zu dem Schluss: "Es gibt wesentlich weniger Jugendliche mit einem verfestigten rechtsextremistischen Weltbild als öffentlich angenommen und in den meisten Studien ermittelt wird." Nicht 15 bis 25 Prozent der Jugendlichen haben danach rechtsextreme Überzeugungen, sondern nur zwei Prozent. Weitere etwa vier Prozent stehen dem Rechtsextremismus nahe.
Die sehr viel höheren Ergebnisse früherer Studien kommen laut Sozialwissenschaftler Schroeder, der hauptberuflich Leiter des "Forschungsverbunds SED-Staat" ist, durch suggestive Fragen und voreingenommene Auswertung zu Stande. Die Rechtsextremismusforschung ist seiner Ansicht nach "zeitgeistbedingt politisch und ideologisch aufgeladen". Mit anderen Worten: Ihre Ergebnisse sind unbrauchbar. Das ist starker Tobak.
Seit den Brandanschlägen auf Asylbewerberheime in den 90er-Jahren gilt Fremdenfeindlichkeit als zentrales Kriterium für Rechtsextremismus. Das greift aber zu kurz: Zwar lehnen fast alle rechtsextremen Jugendlichen das Zusammenleben mit Ausländern ab - aber der Umkehrschluss (Fremdenfeindlichkeit gleich rechtsextrem) gilt eben nicht.
Schroeder kritisiert aber nicht nur andere Studien. Sein Berliner Team machte auch eine eigene Umfrage in vier deutschen Kleinstädten: In Neuruppin (Brandenburg), dem niedersächsischen Einbeck, Deggendorf in Bayern und Arnstadt (Thüringen) wurden rund 900 Schüler zwischen 16 und 18 Jahren interviewt. Die vier Orte wählten die Forscher aus, weil sie als durchschnittlich gelten können - sie sind nicht als Hochburgen der rechtsextremen Szene bekannt.
Die "nicht repräsentative, aber typische" Umfrage fördert bemerkenswerte Ergebnisse zu Tage. Erstens ist nicht Rechtsextremismus das entscheidende Problem, sondern das so genannte nichtzivile Verhalten vieler Jugendlicher: Zwischen 27 und 40 Prozent der Befragten befürworten Gewalt zur Durchsetzung ihrer Interessen, akzeptieren Recht und Ordnung - wenn überhaupt - nur wegen drohender Sanktionen und ignorieren die Rechte anderer Menschen vorsätzlich. Solches Verhalten gibt es sowohl am rechten Rand des politischen Spektrums als auch bei völlig apolitischen Schülern, stellt Schroeder fest. "Die Faszination von Gewalt verschafft vielen dieser Jugendlichen - wie im übrigen auch vielen linksextremistischen Autonomen - einen gewissen ,Kick'."
Zweitens besteht der wesentliche Unterschied nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Nord- und Süddeutschland. In Einbeck und vor allem Neuruppin ist das Problem weitaus größer als in Arnstadt und Deggendorf: Knapp zwei Drittel aller nichtzivilen Jugendlichen und sogar mehr als drei Viertel der Rechtsextremisten stammten aus den zwei norddeutschen Städten. Einen bedenklichen Unterschied im Ost-West-Vergleich zeigen die Zahlen trotzdem: Die fundamentale Kritik am Regierungs- und Parteiensystem, und die unangemessene Neutralität gegenüber Rechtsextremisten sind in Neuruppin und Arnstadt stärker als im Westen. Weniger überraschend: Je niedriger das Bildungsniveau, desto größer die Anfälligkeit für demokratiefeindliches Verhalten. Berufsschüler sind eher ansprechbar für primitive Vorurteile als Gymnasiasten.
Schroeders Studie verharmlost den organisierten Rechtsextremismus nicht, auch wenn seine kontroversen Ergebnisse diesen Vorwurf mit Sicherheit auslösen werden. Er warnt vielmehr davor, das Problem weiter undifferenziert anzugehen.
Laut Schroeder laufen deshalb viele Projekte, die zum Beispiel Wissen über die NS-Verbrechen vermitteln sollen, ins Leere. Denn nicht die rechtsextreme Ideologie und ihre Verbreitung seien entscheidend, sondern die (nicht nur) in diesem Milieu sich weiter ausbreitende Gewaltbereitschaft und die zunehmende Ausländerfeindlichkeit. Als Maßnahmen gegen die wachsende Fremdenfeindlichkeit schlagen die Sozialwissenschaftler vor, in Deutschland lebende Ausländer besser zu integrieren.
Dienstag, 9. Dezember 2003
Thüringen
Hilfe
für Gewaltopfer blockiert
Soll unangepasste ABAD ausgeschaltet werden?
Von Peter Liebers
Die Thüringer Landesregierung verweigert der Anlaufstelle für Opfer rechtsextremistischer
und Rassistischer Übergriffe (ABAD) die Befürwortung für eine weitere Förderung
durch das Civitas-Programm des Bundes.
Die Existenz der dringend erforderlichen Beratungsstellen für Opfer rechtsextremer
Gewalt sei akut gefährdet, sagte ABAD-Mitarbeiterin Rahel Krückel am Montag
dem ND. Dabei müsse das Land noch nicht einmal Geld zuschießen, sondern nur
»eine nette formelle Stellungnahme« gegenüber dem Bund abgeben. Die ab 2004
erforderliche zwanzigprozentige Kofinanzierung zu den Bundesmitteln sei ohne
Landesanteil gesichert. Wie nötig die Arbeit ist, werde daran deutlich, dass
in diesem Jahr bereits rund 180 direkt oder indirekt von Angriffen oder Diskriminierung
Betroffene bei ABAD Rat und Hilfe gesucht haben.
Große Zahl von Angriffen
Die kontinuierlich hohe Zahl rechtsextremer Angriffe, vor allem aber das
große rechtsextreme Potenzial im Freistaat macht Krückel zufolge die Beratung
unverzichtbar. Laut dem jüngsten Thüringen-Monitor hat sich der Prozentsatz
der Thüringer, die rechtsextremistische Auffassungen vertreten, innerhalb eines
Jahres um über drei auf rund 21 Prozent erhöht. Mehr als 55 Prozent sind der
Auffassung, die Bundesrepublik sei durch Ausländer in einem »gefährlichen Maß
überfremdet«.
Der Landesregierung wirft ABAD Verharmlosung des Rechtsextremismus vor. Während
für dieses Jahr offiziell nur 14 Körperverletzungen mit rechtsextremem Hintergrund
ausgewiesen werden, zählte ABAD 47 derartige Delikte. Daran werde deutlich,
dass es nach wie vor einen konkreten und politischen Bedarf für diese Arbeit
gibt, betonte Julika Bürgin, Vorstandsvorsitzende des Flüchtlingsrates, der
Trägerverein von ABAD ist. Aus ihrer Sicht wäre es fatal, die in zweijähriger
Arbeit gesammelten Erfahrungen und erworbenen Qualifikationen aufzugeben.
Befürworter scheiterten an SPD
Ein Antrag der PDS-Fraktion im Thüringer Landtag, ABAD zu einer Anhörung
einzuladen, war nach Angaben von PDS-Fraktionschef Bodo Ramelow im Innenausschuss
ausgerechnet von der SPD zurückgewiesen worden. Die verweigerte befürwortende
Stellungnahme durch die Landesregierung wertete Ramelow ND gegenüber als eindeutig
politische Entscheidung gegen die Arbeit des Flüchtlingsrates als einem nicht
angepassten Träger. Dafür werde nun ABAD in Geiselhaft genommen.
Im Gegensatz zu ABAD ist die künftige Arbeit des zweiten Thüringer Civitas-Programms
»Mobit« gesichert. Dass dagegen die flächendeckende Beratung im kommenden Jahr
aufgegeben werden soll, sei nicht zu verstehen, heißt es in einer Presseerklärung
der Arbeitsgemeinschaft von Beratungsprojekten für Opfer rassistischer, rechtsextremistischer
und antisemitischer Gewalt (AGORA). Dieses Vorgehen stelle den Ansatz des gesamten
Civitas-Programms in Frage, betonte AGORA-Sprecher Marcus Reinert. Er sieht
in Thüringen keine fachlich kompetente Alternative zu ABAD und verwies auf 27
positive Stellungnahmen für die Organisation unter anderem von Ausländerbeauftragten,
der Kirche sowie mehreren Stadtverwaltungen und der Polizei.
Warum wird die Beratung aufgegeben?
Als nicht nachvollziehbar wertete AGORA die Haltung des Bundesfamilienministeriums,
das Thüringer Projekt und damit die flächendeckende Beratung wegen der fehlenden
Zustimmung des Landes aufgeben zu wollen, obwohl die Finanzierung gesichert
ist. Dieses Verhalten sorge bei den zahlreichen Kooperationspartnern von ABAD
wie auch bei AGORA für Empörung.
Mittwoch, 10. Dezember
2003
Mahlow - Rechtsgerichtete Jugendliche haben in Mahlow (Teltow-Fläming) einen Russlanddeutschen am Wochenende fast zu Tode geprügelt. Der Mann schwebte zeitweise in Lebensgefahr, wie die Polizei erst gestern mitteilte. Drei der vier Tatverdächtigen sind inzwischen wegen des Verdachts des schweren Raubes in Untersuchungshaft genommen worden. Die Tat ereignete sich bereits in der Nacht zu Sonnabend.
Die rechten Schläger überfielen ihr Opfer unweit der Bahnhofsgaststätte, rissen es zu Boden und traten so lange auf den Mann ein, bis er das Bewusstsein verlor. Dann raubten sie ihm die Brieftasche und ließen ihn liegen. Aus eigener Kraft begab sich der schwer Verletzte zunächst nach Berlin, wo er wohnt. Am folgenden Nachmittag verschlechterte sich sein Zustand rapide. Im Krankenhaus stellten die Ärzte mehrere gebrochene Rippen fest, von denen sich eine in die Lunge gebohrt hatte. Mit einer Notoperation konnte der Mann gerettet werden.
Das Netzwerk gegen Rechtsextremismus zeigt erste Erfolge. "Mehr als 500 Projekte setzen sich in Berlin für die Stärkung der Zivilgesellschaft ein", sagt Marieluise Beck, parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie. Gestern eröffnete sie an der Palisadenstraße 48 die zweitägige Landeskonferenz des Netzwerks. In ihm sind Civitas, Entimon und Xenos als Dachverbände tätig. Der Bund unterstützt ihr Engagement gegen Extremismus und Antisemitismus mit 15 Millionen Euro.
Freitag, 12. Dezember 2003
BERLIN dpa/tazIm Bundestag wurde gestern erneut über den Fall Hohmann diskutiert - und fast zeitgleich stellte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse Ergebnisse der Langzeitstudie "Deutsche Zustände" vor. Ein solcher deutscher Zustand ist: Kleiner denn je ist das kollektive Schuldbewusstsein für die deutsche Vergangenheit.
69 Prozent der Deutschen ärgern sich darüber, dass ihnen heute noch die Verbrechen der Nazis vorgehalten werden. "Das sind nicht alles Antisemiten", sagte Wolfgang Thierse, denn der Befund zeige, dass ein Großteil dieser 69 Prozent aus der politischen Mitte kämen und auch Linke darunter sind.
Dennoch: Der Bundestagspräsident ist besorgt. Die Studie, die vor einem Jahr erstmals erschien, zeigt, dass Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in den vergangenen zwölf Monaten zugenommen haben. Durch Reformdebatten und Zukunftsverunsicherung würde "die Sehnsucht nach einfachen Antworten dramatisch forciert". So sind 59,1 Prozent der Befragten der Meinung, in Deutschland gebe es zu viele Ausländer - fast 4 Prozentpunkte mehr als im Vorjahr. Und 36 Prozent der Befragten finden es "ekelhaft", wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen. 29,2 Prozent - fast 8 Prozentpunkte mehr - fühlen sich in der Gegenwart von Behinderten manchmal unwohl. Gleichzeitig stieg der Anteil jener, die Angst vor Arbeitslosigkeit haben, von rund 20 auf rund 25 Prozent.
Besteht nun Gefahr für die Demokratie? Zumindest, so Wolfgang Thierse, bestehe ein "tiefgehendes Misstrauen gegenüber der Mühseligkeit demokratischer Abläufe" - dies sei eine Gefährdung, aber auch eine "Phase der Bewährung" für die Demokratie. Der Autor der Studie, Wilhelm Heitmeyer vom Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, hält die Zunahme von Intoleranz für besonders dramatisch, wenn sie schleichend vor sich geht. Weil sich die Haltungen dann verfestigen: "Verschobene Normalitäten sind gefährlich", so der Professor.
Auch im Bundestag wurde gestern über antisemitische Tendenzen in Deutschland debattiert. Ausgelöst wurde die Debatte durch die Rede des - nunmehr fraktionslosen - ehemaligen CDU-Abgeordneten Martin Hohmannn, in der er antijüdische Ressentiments bediente und von den Juden als "Tätervolk" sprach.
Verabschiedet wurde gestern eine gemeinsame Resolution aller vier Fraktionen, mit der das Parlament jede Form von Judenfeindlichkeit verurteilte.
"Antisemitisches Denken, Reden und Handeln haben keinen Platz in Deutschland", heißt es in dem Beschluss. Mit Unterstützung des Parlaments soll im nächsten Jahr eine Europa-Konferenz gegen Antisemitismus in Berlin beschlossen werden.
Freitag, 12. Dezember 2003
Bundestag geschlossen gegen Antisemitismus
Vertreter aller Parteien im Bundestag haben sich für eine stärkere Bekämpfung antisemitischer Tendenzen in der Gesellschaft ausgesprochen. In einem von allen Fraktionen vorgelegten Entschließungsantrag erklärte das Parlament, "antisemitisches Denken, Reden und Handeln haben in Deutschland keinen Platz".
In dem einstimmig verabschiedeten Antrag heißt es weiter, Vorurteile seien nicht nur bei Randgruppen, sondern weit in die Gesellschaft hinein zu beobachten. "Wir haben die besondere Verantwortung, die Erinnerung an den Holocaust und das Gedenken an die Opfer wach zu halten, und müssen uns auch künftig mit seinen Ursachen und Folgen auseinandersetzen." Wo nötig, müsse Antisemitismus mit allen Mitteln des demokratischen Rechtsstaates auch von Polizei und Justiz bekämpft werden.
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hatte zuvor zum unverminderten Kampf gegen den Antisemitismus aufgerufen. Der SPD-Politiker wies darauf hin, dass antisemitische Ressentiments weiterhin eine "fatale Wirkung" in der Mitte der Gesellschaft entwickelten. Das reiche "bis hinein in dieses hohe Haus", sagte er in Anspielung auf die als antisemitisch gewerteten Äußerungen des CDU-Politikers Martin Hohmann, die Anlass für die Debatte waren. Die CDU/CSU-Fraktion hat Hohmann inzwischen ausgeschlossen, ein Parteiausschlussverfahren läuft noch.
Thierse fügte hinzu, es gehe jedoch um mehr als die "bestürzenden Abstrusitäten" eines einzelnen Abgeordneten. Offenbar gebe es in Deutschland einen erschreckend hohen Bodensatz an latentem Antisemitismus. Der Parlamentspräsident verwies darauf, dass einer jüngst veröffentlichten Umfrage zufolge jeder fünfte Deutsche für judenfeindliche Vorurteile empfänglich sei. Auch seien gewalttätige Angriffe gegen Juden in Deutschland "traurige Tagesordnung". Gerade die Deutschen dürften aber "niemals nachlassen, antisemitische Vorurteile zurückzuweisen", mahnte Thierse.
Einer in Berlin vorgestellten Studie der Universität Bielefeld zufolge ist das rechtspopulistische Potenzial unter den Bürgern von 19,6 Prozent im vergangenen Jahr auf 25 Prozent in diesem Jahr gestigen. Der Trend korrespondiere zudem mit dem Anstieg bei rechtsextremistisch motivierten Straftaten.
Montag,
15. Dezember 2003
Von M. Lukaschewitsch
Frankfurt (O.) - Fast ein Jahr, nachdem der Jordanier Issan A. in Frankfurt (O.) von zwei rechtsgerichteten Schlägern am Bahnhof über die Gleise gehetzt und zusammengeschlagen wurde, stehen die beiden der Tat beschuldigten Marcel G. (20) und Enrico F. (23) immer noch nicht vor Gericht. Und das, obwohl die Staatsanwaltschaft Frankfurt bereits zwei Wochen nach der Tat am 3. Januar Anklage erhoben und G. deshalb auch schon vier Monate in Untersuchungshaft gesessen hat.
Es ist ein Fall mit einer besonders bitteren Note: Der nicht des Deutschen mächtige Araber hatte in Berlin irrtümlich den Zug nach Frankfurt (Oder) bestiegen. Sein Reiseziel war jedoch Frankfurt am Main. An der Oder angekommen, fragte er eine Gruppe von Männern und Frauen am Bahnhof auf Englisch nach dem nächsten Zug zurück nach Berlin. Daraufhin wurde er angepöbelt, gejagt und misshandelt. Die Polizei konnte die Täter kurz nach der Hetzjagd stellen.
Issan A. identifizierte Marcel G. und Enrico F., zwei einschlägig bekannte rechte Gewalttäter. "Sie hatten es darauf angelegt, einen Ausländer zu verprügeln", so Ulrich Scherding, Sprecher der Staatsanwaltschaft Frankfurt (O.). Nach den Lehrbüchern der Justiz soll die Strafe auf dem Fuß folgen. Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg und Justizministerin Barbara Richstein drängen gern auf schnelle Bestrafung. Die Wirklichkeit sieht anders aus. In diesem Fall präsentierte Staatsanwalt Scherding am 16. Januar die Anklage. Aber bis jetzt gibt es noch nicht einmal einen Prozesstermin.
Schlimmer noch: Seit dem Überfall auf Issan A. sind die beiden Angeklagten erneut straffällig geworden. Einer der beiden, Marcel G., verprügelte erst vor einer Woche den Togolesen Biladjeta D. Wieder trug er seine Ausländerfeindlichkeit offen zur Schau. Eine vermeidbare Tat, wenn das Amtsgericht Frankfurt (O.) im Fall Issan A. unverzüglich verhandelt hätte, wie es aus Justizkreisen heißt. Aber Jugendrichterin Martina Zimmermann wollte ein älteres Verfahren abwarten. Begründung: "Die Straferwartung lag hier höher als im Fall Issan A."
G. wurde zunächst aus der Untersuchungshaft entlassen. Und er blieb auch nach dem abgewarteten Urteil - zweieinhalb Jahre wegen gefährlicher Körperverletzung - weiter auf freiem Fuß. Er hatte Berufung eingelegt. Die wurde verworfen, das Urteil ist seit Mitte November rechtskräftig. Vollstreckt ist es noch nicht. G. hat noch keine Ladung zum Haftantritt erhalten. Zumindest sitzt er jetzt wegen des erneuten Überfalls auf den Togolesen hinter Gittern, wieder in U-Haft.
Dort sitzt Enrico F., der sich an der Jagd auf Issan A. im Januar beteiligt hatte, schon seit September. Er hatte im September in Fürstenwalde einem Mann einen Hammer über den Kopf gezogen, um an Geld zu kommen.
Ein 35-jähriger Mann aus Benin ist am Sonntagabend in einer Straßenbahn der Linie 50 rassistisch angegriffen worden. Zwei Männer waren in der Schönhauser Allee/Ecke Vinetastraße mit einem Kasten Bier zugestiegen. Sie beleidigten den Farbigen und bliesen ihm Zigarettenrauch ins Gesicht. Außerdem bedrohten sie ihn mit einem Messer. Dem Opfer gelang es, die Notbremse zu ziehen. Andere Passagiere kamen ihm zu Hilfe und alarmierten die Polizei. Die 18 und 30 Jahre alten Angreifer wurden festgenommen. Sie sind der Polizei wegen verschiedener Delikte bekannt.
Mit einer Großrazzia
in Berlin und Brandenburg sind gestern 200 Polizisten gegen die Hooligan- und
Türsteherszene vorgegangen. Am Vormittag durchsuchten Zivilbeamte unter anderem
das Haus des bundesweit bekannten Hooligan-Führers Christian M. im Ortsteil
Mariendorf. Bei dem Polizeieinsatz wurde auch die Freundin des Mannes festgenommen.
Die Ermittler beschlagnahmten bei der Razzia Unterlagen und Computer. Mit offiziellen
Aussagen zu dem Einsatz hielt sich die Polizei gestern zurück. Unter anderem
sei es um Drogen- und Waffenhandel gegangen, hieß es aus Ermittlerkreisen.
Der 34-jährige Christian M., der mehrere Hooligan-Schlägereien organisiert haben soll, verbüßt zurzeit eine Haftstrafe im Gefängnis Tegel. Er war im Januar 2000 in die Schlagzeilen geraten, weil Polizisten bei ihm russische Handgranaten, Zünder und scharfe Munition gefunden hatten. Gegen M. wurde auch wegen des Vorwurfs des Kokainhandels ermittelt. Am Prerower Platz in Hohenschönhausen hatte M. den Szeneladen "Kategorie C" geführt. Unter einem solchen Titel kategorisiert die Polizei gewaltbereite Fußballfans. Die Polizei fand dort unter anderem Nazi-Symbole.
Donnerstag, 18. Dezember 2003
Zuwanderungsdebatte geht 2004 ins fünfte Jahr
Die nicht enden wollende Debatte um die Zuwanderung wird auch
im kommenden Jahr die Innenpolitik beschäftigen. Doch nicht nur die Frage, ob,
wie viel und welche Zuwanderer das Land braucht, steht auf der Agenda der Koalition.
Nachdem die Innenpolitik zuletzt im Schatten der umstrittenen Sozial- und Steuerreformen
stand, könnte sie 2004 wieder stärker in den Vordergrund rücken. Für reichlich
Stoff und Zoff dürften die Modernisierung des Datenschutzes, die Aufnahme biometrischer
Daten in Ausweispapiere, eine Überprüfung der Geheimdienste, eine Reform des
öffentlichen Dienstrechts sorgen. Ganz oben auf der Tagesordnung steht weiterhin
die innere Sicherheit und der Kampf gegen den internationalen Terrorismus.
Mit dem Luftsicherheitsgesetz ist bereits ein weiteres wichtiges Gesetz vom Kabinett auf den Weg gebracht worden. Heikelster Punkt ist die Regelung, dass im Extremfall ein von Terroristen gekapertes und als Waffe eingesetztes Flugzeug auch abgeschossen werden darf. Dass auch vom Rechtsextremismus weiterhin eine Gefahr ausgeht, zeigte erst jüngst der vereitelte Anschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in München. Auf dieser Flanke musste Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) mit dem gescheiterten NPD-Verbot seine bisher bitterste Niederlage hinnehmen. Das Bundesverfassungsgericht ließ im März das Verbotsverfahren wegen der dubiosen Rolle diverser V-Leute platzen. Für die Grünen war das einmal mehr der Anlass, eine grundlegende Strukturreform der Geheimdienste zu fordern.
Auf dem Fahrplan der Koalition steht ferner eine Modernisierung des Datenschutzes. Der inneren Sicherheit soll auch die Aufnahme biometrischer Daten in Ausweispapiere dienen. Hier sind Konflikte mit dem Datenschutz vorgegeben, der für die Grünen ohnehin Priorität hat. Reichlich Gegenkräfte dürften die Grünen auch mit ihrer Forderung nach Abschaffung des Berufsbeamtentums provozieren. Einig sind sich die Koalitionspartner, das öffentliche Dienstrecht zu reformieren. Dabei gibt es auch Überlegungen, die Besoldung der Länderbeamten ganz den Ländern zu überlassen. Noch regelt dies einheitlich das Bundesbesoldungsgesetz. In das wurden in diesem Jahr allerdings Öffnungsklausel für die Sonderzahlungen eingefügt, was zum Teil zu massiven Abstrichen oder gar Kürzungen beim Weihnachts- und Urlaubsgeld der Beamten geführt hat oder noch führen wird.
Zunächst beginnt aber das neue Jahr für die Innenpolitiker so wie das alte geendet hat - mit der Zuwanderung. Der Streit darum ist mittlerweile rekordverdächtig, was seine Dauer anbelangt. Nachdem der erste Anlauf wegen einer chaotischen Abstimmung im Bundesrat am Bundesverfassungsgericht scheiterte und der zweite im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat hängt, geht die Auseinandersetzung nunmehr bald ins fünfte Jahr.
Am 23. Februar 2000 trat Kanzler Gerhard Schröder (SPD) auf der CeBIT in Hannover mit dem Vorschlag einer Green Card für Computer- Spezialisten eher beiläufig die Debatte los und verwies indirekt darauf, dass Deutschland faktisch schon lange ein Zuwanderungsland ist. Seit 1954 zogen 31 Millionen Menschen hinzu und 22 Millionen weg. Die Nettozuwanderung lag also bei 9 Millionen. Zunächst schien ein Konsens der Parteien greifbar. Die Kommissionen der Regierung und der Parteien kamen zum Teil zu ähnlichen Ergebnissen. Innenminister Otto Schily (SPD) wollte das modernste Zuwanderungsrecht Europas schaffen. Gewerkschaften und Wirtschaft, Flüchtlingsorganisationen und Kirchen unterstützten das Vorhaben, das verworrene Ausländerrecht zu vereinfachen und die Zuwanderung am Arbeitsbedarf auszurichten.
Das Gesetz will drei Bereiche regeln: das humanitäre Flüchtlingsrecht, die jahrzehntelang vernachlässigte Integration und die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Vor allem der letzte Punkt ist zwischen Rot-Grün und Union umstritten. CDU und CSU wollen den 1973 verfügten Anwerbestopp beibehalten. Die Kehrseite dieser Verfügung ist allerdings die Anwerbestopp-Ausnahmeverordnung. Ohne die würden die Spreewaldgurken und mancherorts der Spargel verrotten, und manch eine Pflegestation müsste schließen, könnten nicht ausländische Arbeitskräfte ins Land geholt werden.
Nur eine untergeordnete Rolle spielt in der Zuwanderungsdebatte die zunehmende Überalterung der Gesellschaft, wovor nicht nur Bevölkerungswissenschaftler warnen. Der CDU-Politiker Heiner Geißler schrieb dazu in der «Zeit»: «Es fehlt der Mut zu erkennen, dass wir unser demographisches Problem überhaupt nur einigermaßen lösen können durch eine gesteuerte größere Zuwanderung. Da schalten sich die beiden großen Parteien aus, vor allem aber die CDU.
Freitag, 19. Dezember 2003
Die Männern
auf der Anklagebank verheimlichen ihre Gesinnung nicht. Daniel S. etwa, den
der Staatsanwalt für einen "gefährlichen Intensiv-Kriminellen" hält,
hat sich den Schädel glatt rasiert. Er trägt ein Sweatshirt mit einem in der
rechtsradikalen Szene typischen Aufdruck. Das Opfer Enrico S. hingegen war in
der Berliner Straße von Frankfurt (Oder) als Punk bekannt. Doch der Mord soll
nicht politisch motiviert gewesen sein. Das Opfer "war einfach zur falschen
Zeit am falschen Ort", sagt Gräbert.
Es war die Nacht zum 29. März
dieses Jahres. Das Trio traf sich in der Wohnung von Marco S. Dort sollte der
29-Jährige auf seine beiden kleinen Kinder aufpassen, während seine Frau in
der Klinik das dritte Baby erwartete. Die drei Männer feierten "mit viel
Alkohol die Freilassung des jüngeren Bruders aus dem Gefängnis", sagt Gräbert.
Die Freundin von Daniel S.
rief an und teilte mit, sie sei von einem Mitbewohner "begrapscht"
worden. Die drei Täter machten sich auf, die Tat zu sühnen. Sie traten, so schildert
es der Richter, die Wohnungstür ein, hinter der sie den "Grapscher"
vermuteten. Doch sie trafen auf Enrico S., der in der Wohnung seinen Rausch
ausschlief. "Noch bevor der junge Mann zu sich kommen konnte, wurde er
geschlagen und getreten", sagt Gräbert. Enrico S. konnte sich nicht mehr
wehren. Auch nicht, als der 110 Kilogramm schwere Stephan B. immer wieder auf
ihn sprang. Schließlich stach einer der Männer ein Messer in Enricos linkes
Bein.
Mit der Geldbörse des Opfers,
einem Handy und einer Spielkonsole verließen die Täter die Wohnung, ließen den
schwer Verletzten zurück. Doch als sie eine Kreditkarte in der Geldbörse fanden,
drehten sie um, um die Geheimnummer zu erpressen. In der Wohnung stachen sie
auf das rechte Bein Enricos ein. Doch der rührte sich nicht mehr. Der jüngste
des Trios hielt ihm das Messer an den Kopf, um ihn zu töten. Doch mit den Worten,
lass, der stirbt sowieso, sei Stephan B. von dieser Tat abgehalten worden, sagt
der Richter. "Er hat sich dann eine Metallstange geholt und sie dem Opfer
dreimal mit voller Wucht auf den Kopf geschlagen", sagt Gräbert. Er habe
ihn umbringen wollen, um zu verhindern, dass Enrico S. zur Polizei geht. "Die
Brüder haben die Wohnung verlassen, das ist Mord aus Unterlassung", so
Gräbert.
Undine Weyers, die Anwältin
der Mutter Enricos, sagt, es sei nicht nur für die Mutter bitter. Das Opfer
hinterlässt einen fünfjährigen Sohn."