Presseschau Januar 2004
Die Presseschau ist ein Service des durch  entimon geförderten Projektes respectabel.de

Hier finden Sie eine Auswahl unserer Redaktion von Artikeln des täglichen Pressespiegels

Montag, 5. Januar 2004
 

Extremismus

Internet gewinnt für Rechtsextreme an Bedeutung

"Das ist eine nicht zu unterschätzende Gefahr", sagte die Sprecherin des niedersächsischen Landesamts für Verfassungsschutz, Maren Brandenburger, in in Hannover. "Die Zahl der Homepages hat sich seit Mitte der 90er Jahre massiv vermehrt." 1996 seien noch 30 deutsche Internet-Seiten mit rechtsradikalen Inhalten registriert worden. Inzwischen liege die Zahl bei 900. "Wir haben es aber mit einer großen Fluktuation zu tun und müssen von einer erheblichen Dunkelziffer ausgehen."

Einstiegsmedium in den Rechtsextremismus?
Rechtsextreme Parteien, Organisationen, Skinhead-Bands oder auch Einzelpersonen nutzten das Internet zur Selbstdarstellung. "Inwieweit das Internet aber ein Einstiegsmedium in den Rechtsextremismus ist, lässt sich schwer abschätzen", sagte Brandenburger. Für ihre Mitglieder stellten die Gruppen auch Rückblicke auf Veranstaltungen und rechtliche Hinweise ins Netz. "Allerdings sind die Homepages inhaltlich meistens eher zurückhaltend gestaltet. Aufrufe zur Gewalt oder sonstige Straftatbestände findet man selten."

In Chat-Rooms geht's zur Sache
Anders sehe es bei den Chat-Rooms aus, in denen Interessierte - teils in abgeschotteten Bereichen - miteinander kommunizieren können. "Dort geht es oft hart zur Sache, mit volksverhetzenden und menschenverachtenden Äußerungen», berichtete die Verfassungsschutz-Sprecherin. Die Fahnder versuchten herauszufinden, "wer dort spricht". Wegen der ständig wechselnden Decknamen sei es jedoch schwierig, eine konkrete Person auszumachen.

Webbeobachtung Schwerpunkt des Verfassungsschutzes
Die Beobachtung rechtsextremistischer Aktivitäten im Internet sei ein Schwerpunkt des Verfassungsschutzes. Nach Erkenntnissen der Behörde gibt es mehr als 50 Homepages niedersächsischer rechtsradikaler Organisationen. "Dabei sind in den vergangenen Monaten Gruppen wieder im Internet aktiv geworden, die in der Versenkung verschwunden schienen", sagte Brandenburger. "Das bedeutet aber nicht zwingend, dass sie auch generell aktiver geworden sind." Vielmehr hänge es oft damit zusammen, dass eine Organisation bisher niemanden hatte, der den Internet-Auftritt pflegte.

Mittwoch, 7. Januar 2004

Mit Anstand aufstehen und sich wehren
Fragen an Stefanie Schulze (PDS), Mitglied des Hauptausschusses 

ND: Was kann man gegen rechte Aufmärsche tun?
Schulze: Mit Anstand aufstehen, sich gegen Rechts öffentlich wehren. Dabei hilft ein Bündnis für Demokratie und Toleranz. Lichtenberg hat dafür mit seinem kommunalen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus und für zivilgesellschaftliches Engagement den richtigen Weg eingeschlagen. Geschaffen wird ein Netzwerk aller Träger und Strukturen aus Kiezbeiräten, Schulen, dem Bezirksamt und vielen anderen.

Müssen die vom Senat geförderten Projekte des Programms »Gegen Rechtsextremismus« den Sparkurs fürchten?
Genau dieses Programm erhält der Senat für die nächsten Jahre. Es bekräftigt seinen und den Willen des Abgeordnetenhauses, gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit vorzugehen, sich für die Stärkung von zivilgesellschaftlichem Engagement einzusetzen. Als die Projekte ihre Arbeit dem Parlament und der Öffentlichkeit vorstellten, war das ein voller Erfolg. Viele Abgeordnete erhielten, gerade wenn sie vorher am Sinn mancher Projekte zweifelten, einen differenzierteren Einblick. Viele Schüler haben die Ausstellung besucht, Diskussionsforen organisiert und Experten haben über die inhaltliche Weiterentwicklung beraten.

Der Wert der einzelnen Projekte wurde geprüft, fallen nun welche weg?
Es trifft zu, dass evaluiert wurde. Aber es ging nicht um einzelne Projekte, sondern um das Programm als Ganzes. Experten schlugen vor, wie sich das Programm inhaltlich weiterentwickeln muss. Das Berliner Programm soll ein eigenständiges Profil erhalten – insofern sollte die Überprüfung die Förderung optimieren helfen.

In welcher Richtung?
Rechtsextremistische und fremdenfeindliche Haltungen lassen sich nicht auf bestimmte Bevölkerungsgruppen, Schichten oder Regionen eingrenzen. Sie sind eher ein Problem der politischen Kultur und nicht einfach als abweichendes Verhalten in einer bestimmten Lebensphase zu betrachten. Aber es gibt natürlich Regionen, in denen sich rechtsradikale Kräfte gezielt organisieren. Die Programme müssen also vornehmlich zivilgesellschaftliche Veränderungen sowie demokratische Strukturen fördern.

In diesem Sinne bitte ein Blick voraus.
Das Ziel des Berliner Programms muss sein, ein gesellschaftliches Klima zu fördern, in dem menschen- und demokratiefeindliche Bestrebungen keinen Raum finden. Gezielt wird Respekt vor anderen und die Bereitschaft in der Bevölkerung gestärkt, sich Rechtsorientierten und Fremdenfeindlichen entgegenzustellen.

Woran ließe sich die Wirksamkeit von Projekten und Programm messen?
Nicht einfach an der an- oder absteigenden Zahl rechtsorientierter Übergriffe. Das Gesamtkonzept des Berliner Programms muss mit seinen einzelnen Projekten eine große Vielfalt entwickeln. Wichtig ist dabei die Verzahnung der bezirklichen- und Landesstrukturen, staatlicher Institutionen und Beratungsstellen. Kriterien für die Wirksamkeit und damit auch die Förderung von Projekten sollen künftig konkret formuliert werden.

Gibt es Zielgruppen?
Die Experten halten beispielsweise Berufsschüler für besonders gefährdet, die aus den anderen Förderprogrammen herausfallen. Zuwendung benötigen Projekte für Opfer von Rassismus. Es geht zudem um die Einbindung von Projekten in bezirkliche Aktionspläne.

Wie lange werden Förderprogramme zwangsläufig nötig sein?
Solange Aufmärsche der neonazistischen Szene Zulauf finden, Konzerte dort gut besucht sind, CDs, Filme und Bücher Käufer finden – solange braucht das Land Berlin ein Programm zur Stärkung der Zivilgesellschaft. Positive Veränderungen vollziehen sich nicht in Haushaltsjahren.

Donnerstag, 8. Januar 2004

Rechte marschieren für Musik

Am kommenden Samstag wollen Neonazis in Lichtenberg gegen die Verurteilung
der Nazirockband "Landser" protestieren. Damit ist die rechte Demosaison eröffnet

Die rechtsextreme Demosaison startet in diesem Jahr früher als erwartet. Am Samstag wollen Neonazis in Lichtenberg gegen die Verurteilung der rechtsextremen Band "Landser" als kriminelle Vereinigung demonstrieren. Wie die Polizei bestätigte, hat der Hamburger Neonazianführer Christian Worch den Aufmarsch unter dem Motto "Musik ist nicht kriminell" angemeldet.

Derzeit werde noch über die Route verhandelt, heißt es bei der Polizei. Worch und Co. werben auf mehreren einschlägigen Websites mit einem Demoauftakt um 12 Uhr am S-Bahnhof Lichtenberg. Bei der Polizei will man sich erst am Donnerstag zu näheren Einzelheiten äußern.

Drei Mitglieder der Berliner Neonaziband Landser waren am 22. Dezember zu Haft und Bewährungsstrafen verurteilt worden. Der als "Rädelsführer" verurteilte Sänger der Band, Michael R. (38) alias "Luni", wird seitdem in der extremen Rechten als Märtyrer gefeiert und hat Revision gegen das Urteil angekündigt.

Michael R., der zu drei Jahren Haft verurteilt wurde und als Einziger zu den Vorwürfen keine Aussagen gemacht hatte, gilt als führendes Mitglied der Berliner Neonazirocker "Vandalen", die seit Jahren eng mit den Freien Kameradschaften der Stadt zusammenarbeiten. Zuletzt hatten die Freien Kameradschaften Anfang Dezember rund 200 vor allem jugendliche Anhänger zu einer Demonstration durch Neukölln und Treptow mobilisieren können. Anschließend kritisierten unabhängige Beobachter das massive Vorgehen von 1.000 Polizisten gegen antifaschistische Gegendemonstranten. Alle Kritik an der "Berliner Linie" - Proteste gegen Neonaziaufmärsche durch ein großes Polizeiaufgebot vor Ort unmöglich zu machen - blieb bislang wirkungslos.

Experten rechnen nach der Demonstration in Lichtenberg mit weiteren rechtsextremen Aktivitäten zum Monatsende. In den vergangenen Jahren war es insbesondere am Todestag des nationalsozialistischen Märtyrers Horst Wessel zu Aktivitäten von Berliner Kameradschaften gekommen. Am 31. Januar wird sich die Berliner Neonaziszene dann auf den Weg nach Hamburg machen, um dort gemeinsam mit der extremen Rechten aus dem gesamten Bundesgebiet gegen die letzte Station der Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" des Hamburger Insituts für Sozialforschung zu demonstrieren.

Am 1. Mai dagegen rechnen Beobachter mit einem der größeten rechtsextremen Aufmärsche seit Jahren in Berlin. Denn erstmals seit längerem mobilisieren die rivalisierenden NPD und Freie Kameradschaften wieder gemeinsam zu einer zentralen Demonstration. Als Anmelder tritt das NPD-Bundesvorstandsmitglied Holger Apfel auf, als Auftaktort haben sich die Rechten den Ostbahnhof ausgesucht.

Schon im vergangenen Jahr war es der NPD gelungen, rund 1.200 Anhänger zur Demonstration in Charlottenburg zu mobilisieren. Gleichzeitig hatten die Freien Kameradschaften rund 1.000 Anhänger in Halle mobilisiert. Experten gehen daher für den diesjährigen 1.-Mai-Aufmarsch, bei dem die Neonazis die Themenfelder Globalisierung und Sozialabbau von rechts besetzen wollen, von rund 2.000 Teilnehmern aus.

Samstag, 10. Januar 2004

Angebot für Brandenburger: Migrant zu vermieten

Durch Besuch am Arbeitsplatz und Rundgang in Kreuzberg sollen fremdenfeindliche Stereotype abgebaut werden - und das ist auch dringend nötig

Keine Zeitarbeitsfirma, sondern eine antirassistische Initiative verbirgt sich hinter dem Slogan "Rent an Immigrant". Beim Verein "Gesicht Zeigen!" ist man der Meinung, dass die persönliche Begegnung der beste Weg ist, fremdenfeindliche Vorurteile abzubauen. Seit Juni 2002 "vermietet" dieser Verein MigrantInnen an Brandenburger Schulen. Zuwanderer oder deren Nachkommen besuchen als Fachleute die Schulen - sie sind nicht nur Experten für Migrationserfahrungen, sondern gleichzeitig auch selbstbewusste und beruflich erfolgreiche Persönlichkeiten. Dadurch soll das Stereotyp vom Ausländer, "der entweder Probleme hat oder macht", durchbrochen werden. Einen persönlichen Kontakt gibt es an Brandenburger Schulen mit einem äußerst geringen Anteil nichtdeutscher Kinder kaum.

Seit neuestem können die Klassen "ihren" Migranten auch besuchen. Im Fortsetzungsprojekt "Meet an Immigrant" sollen die Brandenburger SchülerInnen einen Eindruck vom multikulturellen Leben in Berlin erhalten. Dabei wird der Migrant am Arbeitsplatz besucht und eine Führung durch Kreuzberg mit Besuch von Moschee und türkischem Restaurant organisiert.

Rechtsextremismus ist nicht nur an Brandenburger Schulen ein Problem, und auch das Zusammenleben von Menschen verschiedenster Herkunft macht nicht dagegen immun. "In Berlin beobachten wir eine Veränderung der rechtsextremen Szene", erklärt Michael Rump-Räuber vom Berliner Landesinstitut für Schule und Medien (Lisum). Hätten sich die Rechten vor einigen Jahren noch offensiv an den Schulen gezeigt, verhielten sie sich dort jetzt unauffällig. Aktivitäten von Rechtsradikalen fänden außerhalb der Schulen statt.

Für LehrerInnen ist es manchmal schwer, überhaupt zu erkennen, dass ihre Schüler rechten Ideologien anhängen. Im Januar hat das Lisum die CD-ROM "Standpunkte" herausgegeben, mit deren Hilfe Berliner LehrerInnen im Umgang mit Rechtsextremismus geschult wurden. Die CD klärt zunächst über rechte Grundbegriffe, Organisationsformen und Kleidungscodes auf, um im Folgenden Argumentationshilfen dagegen und mögliche antirassistische Unterrichtseinheiten anzubieten.

Die CD-ROM ist ein Bestandteil des Projektes "Standpunkte", das Michael Rump-Räuber leitet. In Berlin steht pro Bezirk ein Pädagoge zur Verfügung, der bei rechtsextremen und rassistischen Vorfällen an Schulen zu Rate gezogen werden kann. Allerdings wird diese Aufgabe nur mit zwei Stunden pro Woche vergütet, die reale Arbeitsbelastung liegt laut Rump-Räuber bei sechs bis acht Stunden. "Wir sind aber zufrieden, dass wir das Projekt über drei Jahre halten konnten."

Seit 2001 sind 90 Berliner Lehrkräfte im Umgang mit Rechtsextremismus ausgebildet worden. In einigen Bezirken wurden Netzwerke über die Schulen hinaus geknüpft, wie in Marzahn-Hellersdorf das SchülerInnen-Netzwerk MuT. Auch im kommenden Jahr wollen die Standpunkt-PädagogInnen am Aufbau stadtteilweiter Netzwerke arbeiten. Besonderes Augenmerk verdienten dabei die Problembezirke Treptow-Köpenick, Neukölln und Reinickendorf.

Wenige der gegenwärtigen Projektangebote richten sich an Grundschulen, auch wenn rassistische Einstellungen sich bereits dort zeigen. Diese äußern sich nicht nur zwischen Kindern deutscher und nichtdeutscher Herkunft. "Wir haben an den Schulen bereits früh eine steigende Konfliktintensität, die sich auch in Rechtsextremismus äußert", sagt der Integrationsbeauftragte des Landes Berlin, Günter Piening. Verstärkt würden auch antisemitische Äußerungen von Kindern arabischer Herkunft und Homophobie laut.

Montag, 12. Januar 2004

Gericht verbot Musik bei Neonazi-Demo

1 000 Polizisten sicherten Aufmarsch der Rechten

Neonazis aus Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Hamburg haben am Sonnabend in Lichtenberg gegen das Landser-Urteil des Kammergerichts demonstriert. Die aus Berlin stammende Kult-Band der Rechten war am 22. Dezember als kriminelle Vereinigung eingestuft worden. Die Musiker wurden zu Haft- und Bewährungsstrafen verurteilt. Die Musiker waren von der Bundesanwaltschaft angeklagt worden, weil sie in ihren Texten zu Gewalt gegen Ausländer und Juden aufgerufen hatten.

500 Neonazis trafen sich gegen 12 Uhr in der Siegfriedstraße, um über die Frankfurter Allee, Möllendorfstraße, Normannenstraße, Ruschestraße zurück zum Bahnhof Lichtenberg zu marschieren. Die kahl geschorenen und zumeist schwarz gekleideten jungen Männer und Frauen wurden von rund 1 000 Polizisten begleitet. Zuvor hatte der Hamburger Neonazi Christian Worch, der auch die Demonstration angemeldet hatte, strenge Auflagen der Polizei hinnehmen müssen.

So war das Abspielen von Landser-Titeln verboten worden. Auch das Rezitieren der Liedtexte sowie das Summen der Melodien der Landser-Lieder war untersagt worden. Neben dem Verbot verfassungsfeindliche Symbole zu zeigen, mussten die Rechten außerdem auf das Tragen von Bomberjacken verzichten. Deshalb mussten einige Teilnehmer ihre Jacken ausziehen und umdrehen, so dass das orangefarbene Futter der Jacke zu sehen war. Worch hatte zwar Widerspruch gegen diese Auflagen des Berliner Verwaltungsgerichts eingelegt. Doch das Oberverwaltungsgericht bestätigte am Sonnabend in einem Eilrechtsschutzverfahren die Entscheidung.

Der Aufzug unter dem Motto: "Musik ist nicht kriminell" verlief ohne größere Zwischenfälle. Die Polizei nahm insgesamt vier Rechte fest. Ihnen drohen nun Anzeigen wegen Zusammenrottung, Vermummung und Widerstands. Einer der Festgenommenen hatte kurz vor dem Ende des Aufzugs versucht, einen Polizisten zu schlagen. Etwa 200 Gegendemonstranten aus der linken Szene hatten vergeblich versucht, den Nazi-Aufmarsch zu stören. Die Polizei, die die angrenzenden Straßen abgeriegelt hatte, nahm zehn Jugendliche fest. Sie erhielten Anzeigen wegen Körperverletzung, Widerstands, Landfriedensbruchs und Sachbeschädigung.

Trotz des Großaufgebots der Polizei kam es eine halbe Stunde nach Ende des Aufmarsches zu einem Zwischenfall in einer S-Bahn. Mehr als zehn vermummte Täter waren auf den Bahnsteig des Bahnhofs Storkower Straße gestürmt und hatten acht Scheiben eines S-Bahn-Wagens, in dem Neonazis saßen, zertrümmert. Die Täter flüchteten unerkannt.

Mittwoch, 14. Januar 2004

"Kriminalität ist meist eine Integrationsfrage"

Regionalsoziologe Häußermann zu Problemkiezen

Innensenator Ehrhart Körting (SPD) hat neun Problemkieze benannt. Die Gebiete zeichnen sich durch schwache Sozialstruktur, hohen Ausländeranteil und hohe Kriminalitätsrate aus. Stefan Schulz sprach darüber mit Professor Hartmut Häußermann, Stadt- und Regionalsoziologe an der Humboldt-Universität.

Berliner Morgenpost: Herr Häußermann, der Innensenator hat vor Ghettobildung in einigen Quartieren gewarnt. Sehen Sie das auch so?

Hartmut Häußermann: Das kann ich nur schwer beurteilen. In einem Ghetto ist man eingesperrt. Es liegt nicht am Gebiet, sondern an den sozialen Problemen der Familien, die dort leben, und aus denen die Täter stammen. Deshalb ist zu fragen: Warum handeln sie so? Die Statistik schreibt dies vor allem den Zuwanderern zu. Das ist irreführend.

Worin besteht dann das Problem?

Wenn Kriminalität in den Quartieren besonders häufig auftritt, ist dies meist eine Integrationsfrage. Die Bewohner nehmen nicht am normalen Leben teil, wenn sie zum Beispiel ins Bildungssystem oder in den Arbeitsmarkt nicht eingebunden sind. Dann schließen sich oft ausländische Jugendliche auch zu ethnischen Banden zusammen.

Gibt es deswegen im Ostteil der Stadt keine derart gefährdeten Bereiche?

Das ist nicht ganz richtig. Es gibt auch eine Bandenbildung im Ostteil der Stadt. Dort schließen sich junge Leute mit rechtsextremem Hintergrund zusammen, weil sie ebenfalls isoliert sind. Das Problem ist das Gleiche, nur dass es sich hier um Einheimische handelt.

Wie würden Sie ein Problemkiez beschreiben?

Ein Quartier wird problematisch, wenn die Bewohner von Erwerbsarbeit, Bildung und Ausbildung ausgeschlossen sind. Wenn man benachteiligt wird, bilden sich Milieus, in denen andere Erfolgswege gesucht werden. Das hat nichts mit Charakterschwäche oder ethnischen Gruppen zu tun, sondern mit der Enttäuschung, von Chancen ausgeschlossen zu sein. Dadurch suchen sich die Menschen eine andere Respektabilität - und das kann in Gropiusstadt ebenso sein wie in Marzahn. Ghettos werden von der Mehrheitsgesellschaft gemacht und nicht von denen, die dort leben.

Was kann man tun, um die Ghettobildung zu verhindern?

Man kann durch gleiche Chancen in Arbeit und Bildung entgegensteuern. Im Kiez muss es zudem eine soziale Kontrolle geben. Den Leuten, die Unsinn machen, sollte man auch entschlossen entgegentreten. Zum Dritten müssen die Bewohner die Gelegenheit bekommen, sich untereinander zu verständigen, beispielsweise wie sie mehr Sicherheit im Kiez erreichen können. Daran haben ja auch Zuwanderer Interesse. Dann können Ausgrenzungen und deren Folgen vermieden werden.

Samstag, 17. Januar 2004

Deutsche lieber unter sich

Die Ausländerbeauftragten von Berlin und Brandenburg verlangen von der Bundesregierung ein Antidiskriminierungsgesetz. Vor Brandenburger Clubs hören Migranten oft: Hier kommt ihr nicht rein

VON RICHARD ROTHER

Die rot-grüne Bundesregierung soll endlich ein Antidiskriminierungsgesetz verabschieden. Das forderten gestern Berlins Integrationsbeauftragter Günter Piening und die Brandenburger Ausländerbeauftragte Almuth Berger. "Es kann nicht sein, dass der Bund sich dieser Verantwortung entzieht", sagte Piening in Potsdam. Eine Richtlinie der Europäischen Kommission verpflichtet Deutschland, ein entsprechendes Gesetz zu verabschieden. Ein erster Entwurf des Bundesjustizministeriums von 2001 war am Widerstand der Kirchen und der SPD gescheitert.

Die Arbeit gegen die Ausgrenzung ethnischer Minderheiten in Berlin und Brandenburg müsse dringend auf eine breitere gesetzliche Grundlage gestellt werden, forderte Berger. Die Antidiskriminierungsstellen, die Berlin und Brandenburg eingerichtet hätten, seien bereits eine Vorleistung gewesen. "Der Abbau von Diskriminierung ist ein wesentlicher Bestandteil von Integration", so Berger. Ausgrenzung und fremdenfeindliche Übergriffe seien ein zentrales Problem.

Stichproben in Brandenburg hätten ergeben, wie verbreitet Diskriminierung ist. So sei Zuwanderern in jeder dritten von fünfzehn Diskotheken der Zutritt verweigert worden, berichtete Berger, und zwar "aus deutlich nicht nachvollziehbaren Gründen".

Laut Pienings hinke Deutschland bei der Antidiskriminierung hinterher, weil Besitzstände Alteingesessener bedroht seien, etwa auf dem Arbeitsmarkt. "Wir sind von einer Gleichbehandlung von Minderheiten weit entfernt." Die Umsetzung der EU-Richtlinie gebe es nicht zum Nulltarif. Geregelt werden müsse die Finanzierung der Gleichbehandlungsstellen. Piening und Berger: "Die Bundesregierung muss zumindest einen Teil der Kosten übernehmen."

Montag, 19. Januar 2004

Denken, singen und schreiben gegen Rechts

Heute Abend werden die Arbeiten aus dem Wettbewerb "denkmal" im Abgeordnetenhaus prämiert

Neele Illner 15 Jahre

Einmal im Jahr haben Schüler Gelegenheit ihr Engagement gegen Rechtsextremismus zu zeigen. Für den Wettbewerb "denkmal", haben Schüler von Berliner Schulen sich mit dem Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkrieges, aber auch mit Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in unser heutigen Gesellschaft auseinander gesetzt. Der Wettbewerb wurde vom Abgeordnetenhaus, anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Holocausts am 27. Januar, ausgerufen und wird von der Berliner Zeitung unterstützt. Sein Ziel ist es, das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu steigern, sie zu sensibilisieren und so einer Wiederholung der Schrecken des Dritten Reiches vorzubeugen.

Die Ergebnisse des Wettbewerbs werden heute Abend im Berliner Abgeordnetenhaus präsentiert. Im Rahmen der Kategorie "machmal" halfen Schüler der Knobelsdorff-Schule bei der Restauration der Gedenkstätte Mauthausen, eine Klasse der Königin-Luise-Stiftung führte Gespräche mit Zeitzeugen, andere forschten nach Schicksalen der Opfer der NS-Zeit.

Schüler der zehnten Klasse der Gustav-Freytag-Oberschule pflegten das Rosenbeet des Mahnmals für die Opfer von Gewaltherrschaft am Rathaus Reinickendorf. Es erinnert an die Vernichtung von Lidice, eines tschechischen Dorfes, das die Schüler für ihr Projekt auch besucht haben. Eine Gruppe Jugendlicher aus sieben Nationen realisierte unter professioneller Leitung ein Theaterstück über die Lage der ehemaligen Ost-Zwangsarbeiter.

In der Kategorie "schreibmal" verfassten Schüler zum großen Teil fiktive, aber auch auf wahren Begebenheiten beruhende Texte und Gedichte, in denen sie die Geschichte aufarbeiten und nach Gründen für den heutigen Fremdenhass Rechtsextremer suchen. Die besten Texte werden kommende Woche auf dieser Seite veröffentlicht. Sechs Gruppen haben sich in diesem Jahr im Bereich "singmal" engagiert - mit Musik, Liedern und Hörspielen zum Thema.

Heute ab 17 Uhr stehen die Türen des Abgeordnetenhauses für alle Interessierten offen. In einer Ausstellung können die Besucher die eingereichten Projektarbeiten sehen und mit den Schüler diskutieren. Um 18 Uhr finden die Abschlussveranstaltung und die Preisverleihung statt. Dort werden Projekte vorgestellt, Texte gelesen, Filme gezeigt, es wird musiziert und gesungen. Gewonnen haben alle, die beim Wettbewerb mitmachten. Henriette Hübner vom John-Lennon-Gymnasium und eine Schülergruppe vom OSZ Druck- und Medientechnik haben mit ihren Textbeiträgen außerdem einen Sonderpreis gewonnen - ein Praktikum in der Redaktion der Berliner Zeitung.

Dienstag, 20. Januar 2004

"Tätervolk" ist Unwort des Jahres
Der vor allem in der Hohmann-Affäre überanstrengte Begriff "Tätervolk" ist zum Unwort des Jahres 2003 erkoren worden.
Frankfurt/Main - Die bei der Goethe-Universität angesiedelte unabhängige Jury gab am Dienstag in Frankfurt am Main ihre Entscheidung bekannt. Damit sei ein Begrif gewählt worden, der schon "grundsätzlich verwerflich" sei, sagte ein Jury-Sprecher.

Vor allem in der Affäre um den hessischen CDU-Politiker Martin Hohmann im Herbst letzten Jahres wurde der Begriff "Tätervolk" über die Maßen bemüht.

Mit dem "Unwort des Jahres" werden sprachliche Missgriffe in der öffentlichen Kommunikation bezeichnet, die "sachlich grob unangemessen sind und möglicherweise sogar die Menschenwürde verletzen". Die Juroren hatten aus 2215 Zuschriften mit 1160 verschiedenen Vorschlägen einen Begriff auszuwählen.

Mittwoch, 21. Januar 2004

Aktionsbündnis hat gewählt

Potsdam - Der evangelische Superintendent Heinz-Joachim Lohmann ist gestern mit großer Mehrheit zum neuen Vorsitzenden des Brandenburger Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit gewählt worden. Er stammt aus Rheinland-Pfalz, studierte Theologie in Frankfurt/M., Kiel, Basel, Heidelberg, wurde 1991 in Berlin zum Pfarrer ordiniert und war ab 1992 im Kirchenkreis Niederer Fläming tätig. Seit 2001 ist Lohmann Superintendent des Kirchenkreises Wittstock-Ruppin. Der 41-Jährige ist verheiratet und hat vier Kinder. ddp

Donnerstag, 22. Januar 2004

NPD ist ihren Anhängern zu multikulturell

Parteiaustritte, weil ein Bosnier nominiert wurde

Andreas Kopietz

Die rechtsextreme NPD steckt in Berlin und Brandenburg in einer tiefen Krise. In der vergangenen Woche verlor sie den kompletten Kreisverband Prignitz-Ruppin. Auf einer Mitgliederversammlung in Wittstock erklärten alle Anwesenden ihren Parteiaustritt. Unter ihnen auch der Kreisvorsitzende Mario Schulz, der zugleich Landesvorsitzender für Brandenburg war, sowie weitere Mitglieder des Landesvorstands. Wittstock gilt als Hochburg der rechten Szene, der örtliche NPD-Kreisverband Prignitz-Ruppin als einer der aktivsten.

Den Massenaustritt begründet Schulz mit der Nominierung eines gebürtigen Bosniers Safet Babic als Kandidat für die Europa-Wahl. Der 22-Jährige mit deutschem Pass, der im vergangenen Oktober vom Bundesparteitag aufgestellt wurde, ist Student an der Uni Trier. Weltanschaulich versteht er sich als "Befreiungsnationalist". Mit der Nominierung verabschiede sich die NPD von dem Grundsatz "Deutscher ist, wer deutschen Blutes ist", so Schulz. Die NPD reihe sich ein "bei den Feinden unseres Volkes", teilte Schmidt mit.

Dass die nationalistische Partei sich rechtsextremen Kräften nichtdeutscher Herkunft öffnet, bezeichnet Schmidts Nachfolger und Bundesvorstandssprecher Klaus Beier als eine "gegenwartsbezogene Entscheidung". Doch so viel Multikulti ist manchem zu viel. In einem rechten Internetforum bringt ein Autor, der sich "Volksgenosse" nennt, auf den Punkt, was viele Rechte denken: "Tatsache ist doch das sich die NPD so sehr an dieses fremde BRD-System angepasst hat, das sie sich von den restlichen BRD-Parteien nicht mehr unterscheidet."

Mario Schulz und andere kündigten derweil an, in Brandenburg eine "Bewegung neue Ordnung (BNO) zu gründen. Diese Organisation könnte der NPD "als Spaltpilz gefährlich werden", glauben Verfasssungsschützer. Die NPD sei die einzige ernst zu nehmende Kraft in der rechtsextremistischen Parteienlandschaft Brandenburgs, heißt es in einer Analyse des brandenburgischen Verfassungsschutzes. "Kaum dass sie sich von dem gescheiterten Verbotsverfahren erholen konnte, droht ihr nun die Spaltung."

Seit dem Ende des Verbotsverfahrens im März vergangenen Jahres haben immer mehr Mitglieder der Partei den Rücken gekehrt. Den Anfang machte der Rechtsanwalt Horst Mahler, der in der NPD plötzlich eine "Systempartei" sah. Seitdem sank bundesweit die Zahl der Mitglieder von 6 500 auf 5 000 und in Berlin von 260 auf 200. In Brandenburg sind nicht einmal mehr 200 Parteigänger registriert.

Schulungszentrum und Maidemo

Besonders stark sind die Verluste für die NPD in Berlin. Arbeitsfähig ist noch der Kreisverband Nord, der aus zehn bis 20 Aktiven besteht. Faktisch nicht mehr existent ist der Kreisverband Südwest (Spandau, Zehlendorf). Eine Hand voll Aktivisten gibt es noch in Treptow-Köpenick, und vor kurzem verabschiedete sich auch der Anführer des Kreisverbandes Lichtenberg-Hohenschönhausen: Albrecht Reither, bislang außerdem Landesvorsitzender von Berlin, gab angeblich "aus persönlichen Gründen" auf. Sein Nachfolger Georg Magnus gibt sich dennoch siegesgewiss: "Wir haben keine Probleme", sagte er. Über Mitgliederzahlen gebe er prinzipiell keine Auskunft.

Tatsächlich bleibt abzuwarten, wie viel Einfluss die NPD in der rechten Szene verloren hat. Für 180 000 Euro baut sie neben ihrer Bundeszentrale in Köpenick ein Schulungszentrum für Funktionäre aus ganz Deutschland.

Laut Parteisprecher Beier soll es im April oder Mai eröffnen. Für den diesjährigen 1. Mai hat die NPD eine Großdemonstration in Berlin angemeldet, zu der sie bis zu 3 000 Teilnehmer erwartet. Gerade dort wollen die Rechten Einheit demonstrieren. Deshalb wird der Aufruf von vielen "freien Kräften" unterstützt: von der "HateCrew 88" über die Pommersche Aktionsfront bis hin zum "Wattenscheider Widerstand".

Donnerstag, 22. Januar 2004

116 Gewalttaten von Rechtsextremen

Verein Opferperspektive zählte im vergangenen Jahr 151 Opfer

Potsdam. Im vergangenen Jahr hat es nach der Zählung des Vereins Opferperspektive in Brandenburg 116 gewaltsame Angriffe von Rechtsextremen gegeben. 51 davon hätten sich gegen Migranten und Flüchtlinge, 53 gegen nicht-rechte Jugendliche, der Rest vor allem gegen Aussiedler gerichtet, teilte der Verein am Mittwoch mit. Nach diesen Angaben waren insgesamt 151 Opfer von den Attacken betroffen.

Die Zahlen des Landeskriminalamtes (LKA) würden in Kürze bekannt gemacht, hieß es aus dem Innenministerium. Mit 19 Angriffen lag laut Opferperspektive der Landkreis Havelland an der Spitze; es folgen die Uckermark und die Stadt Potsdam (je 15).

Der Sprecher des Vereins, Kay Wendel, verwies auf Abweichungen zwischen den Zahlen seines Vereins und denen des LKA. So habe die Opferperspektive für 2002 128 Angriffe gezählt. Das LKA habe 81 ausgewiesen – von denen der Opferperspektive 35 nicht bekannt gewesen seien. Umgekehrt fehlten auf der Liste des LKA 73 Gewalttaten, die sein Verein als rechtsextrem motiviert eingestuft hatte. Dies lege den Schluss nahe, dass beide Statistiken ein unzureichendes Abbild des wirklichen Ausmaßes der rechten Gewalt in Brandenburg darstellen. Dpa

Montag, 26. Januar 2004

Böger kündigt Schließung von Schülerclubs an

Mindestens zehn der Einrichtungen, die Jugendliche vor Gewalt schützen, stehen vor dem Aus - Mehr Clubs an Grundschulen

Von Florentine Anders

Schülerclubs sind häufig die einzige Anlaufstelle für Jugendliche bei Gewalt, Mobbing und Stress mit Eltern oder Lehrern. Doch obwohl diese Einrichtungen erst vor zehn Jahren von Freien Trägern zur Gewaltprävention aufgebaut worden waren, sollen sie jetzt schon wieder abgeschafft werden.

Berlins Schulsenator Klaus Böger (SPD) bestätigte im Jugendausschuss, dass zumindest zehn der insgesamt 20 Clubs an den erweiterten Schulen geschlossen werden sollen. Darüber hinaus werde von einem unabhängigen Träger überprüft, was diese Einrichtungen tatsächlich bewirken würden.

Im Gegenzug sollen mehr Schülerclubs an Grundschulen eingerichtet werden, um hier die Zehn- bis Zwölfjährigen, die keinen Anspruch mehr auf einen Hortplatz haben, besser betreuen zu können.

Bisher werden die Schülerclubs aus Lottomitteln finanziert, die die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung verwaltet. Die Stiftung hat den Trägern mitgeteilt, dass sogar alle 20 Einrichtungen gefährdet seien. Der Grund: Im Lottotopf für Jugendarbeit hat sich ein Loch von 2,7 Millionen Euro aufgetan, weil die Berliner in den vergangenen Monaten weniger Lotto gespielt haben. Der Fehlbetrag muss nun eingespart oder vom Land aufgebracht werden. Nicht betroffen wären die Grundschulen. Dort könnten für die Ganztagesbetreuung nämlich Bundesmittel eingesetzt werden.

"Es zeugt von Verantwortungslosigkeit, die Schülerclubs abzuschaffen, gerade jetzt, da die Zahl der Gewalttaten an Schulen drastisch steigt", sagt Konrad Koschek, Sprecher der Jugendhilfe vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. Dem Bericht der Landeskommission gegen Gewalt zufolge sind die schwer wiegenden Zwischenfälle an Schulen im vergangenen Schuljahr um 66 Prozent angestiegen.

Auch die Grünen wehren sich gegen die Schließungen: "Die Schließung der Schülerclubs steht im völligen Widerspruch zu dem gerade gestarteten Reformprozess der Schulverwaltung", kritisiert der schulpolitische Sprecher der Grünen, Özcan Mutlu, die vorgestellten Einspar-Pläne. flo

Dienstag, 27. Januar 2004

Im Gedenken sollte man von einer Selektion absehen

Noch ehe das zentrale Mahnmal in Berlin ans Netz des Gedenkens geht, ist es Zeit, den infantilen Streit der einzelnen Opfergruppen zu beenden. Das anscheinend unvermeidliche Mal muss für alle Opfer der Nazis offen sein. Ein klares Wort zum heutigen Holocaust-Gedenktag

VON RAFAEL SELIGMANN

Bei Kindern lassen sich Stolz- und Imponiergehabe noch unverblümt beobachten. Besonders stolz sind die guten Kleinen, wenn es ihnen gelingt, ihre Spielkameraden, also ihre Rivalen, auszustechen. Eine andere Form der erhöhten Genugtuung ergibt sich nach erlittenem Leid. Gegipste Gliedmaßen oder Narben nach einer Blinddarmoperation werden allenthalben als Schmerztrophäen präsentiert.

Als so genannte Erwachsene lernen die meisten, ihre Gefühle zu kontrollieren. Doch der Stolz auf widerfahrenen Schmerz und der Triumph über den Konkurrenten bleiben bestehen wie ehedem in der verklärten Kinderzeit. Manche verdecken diesen Stolz subtil, andere infantilere Charaktere wie Lea Rosh können es sich selbst als älteres Mädel nicht verkneifen, darin zu schwelgen.

Gegenwärtig findet in Deutschlands Hauptstadt ein abnormer Wettkampf um vergangenes Leid und heutiges öffentliches Prestige statt. Siegestrophäen sind eigenständige monumentale Verewigungen der Opfergruppen.

Angefangen hatte das Opferrennen harmlos. Hehre Motive mögen ausschlaggebend gewesen sein. Damals. 1989 hatte sich unter dem Patronat Lea Roshs ein Förderkreis konstituiert, der für die Errichtung einer zentralen Gedenkstätte für die ermordeten Juden Europas in Berlin eintrat.

Die Begründung für dieses Bestreben lieferte der Vergangenheitsnostalgiker und Pädagoge Micha Brumlik: "Wer in Deutschland öffentlich und feierlich des Holocausts gedenken will, muss heute weite Reisen auf sich nehmen: nach Jerusalem, nach Oswiecim, nach Washington."

Das war und bleibt Blödsinn. Die Logik funktioniert umgekehrt. Oranienburg, Dachau, Bergen-Belsen und andere Konzentrationslager liegen eben nicht in Jerusalem oder Washington, sondern mitten in unserem Land. Keine deutsche Stadt, kaum eine größere Ortschaft, in der Juden nicht denunziert, misshandelt und am Ende in den Tod deportiert wurden. Überall wurden Synagogen zerstört, jüdische Häuser demoliert. Von dieser Geschichte blieben Israel und die Vereinigten Staaten verschont. Gedenkt man dort "öffentlich und feierlich" - nicht jeder hat das Bedürfnis, dies vor aller Augen und Kameras zu tun - der Opfer des Völkermords, ist man in der Tat auf einen repräsentativen Schauplatz angewiesen.

Die israelische Gedenkstätte soll "an die sechs Millionen Juden erinnern, die den Märtyrertod durch die Nazis und ihre Helfer erlitten". Zu diesem Zweck soll Jad Vaschem "einen Gedenktag für den Kampf und die Vernichtung des jüdischen Volkes in Israel und im Bewusstsein des ganzen jüdischen Volkes als nationalen Trauertag verwurzeln". Das angestrebte Ziel wurde mit Übersoll erfüllt. Nicht nur "das jüdische Volk", auch eine Reihe westlicher Demokratien sahen sich zu ähnlichen Maßnahmen gedrängt. Zu Beginn der Neunzigerjahre errichteten die Vereinigten Staaten, die sich mit Mahnmälern für die umgebrachten Indianer und versklavten Afrikaner schwer tun, in Washington eine zentrale Holocaust-Gedenkstätte. In Los Angeles entstand das Simon-Wiesenthal-Center. Dessen Gründer, Rabbiner Mavin Hier, posaunt das Motto seines Wirkens in alle Welt: "Für uns hier (in den USA), meine Freunde, für uns ist jede Nacht Kristallnacht."

Bei dieser motivierenden Konkurrenz wollte Lea Rosh nicht nachstehen. In ihrem Förderkreis versammelte sie neben honorigen Männern wie Willy Brandt und Edzard Reuter auch schillernde Figuren wie Udo Lindenberg, den Wiener Bildhauer Alfred Hrdlicka, SED/PDS Hans Modrow etc. Das massive Drängen des Förderkreises hatte schließlich den Erfolg. 1999 beschloss der Bundestag mit deutlicher Mehrheit die Errichtung einer zentralen Gedenkstätte für die ermordeten Juden. Die Abgeordneten mochten nicht in den Geruch des Antisemitismus geraten, vor allem nicht in den Vereinigten Staaten und in Israel.

Ehe die Bauarbeiten aber begannen, meldeten auch Vertreter anderer Opferzirkel der Nazis ihre Ansprüche an. Homosexuelle, Sinti und Roma, Behinderte, Deserteure, Kommunisten, politisch Verfolgte - alle wollten, dass ihrer Gruppe angemessen, das heißt möglichst repräsentativ, gedacht werde. Anfangs waren die unterschiedlichen Verbände bereit, sich an der zentralen Holocaust-Gedenkstätte für die ermordeten Juden zu beteiligen. Der Vorsitzende der Sinti und Roma, Romani Rose, flehte geradezu um die Gnade der späten Beteiligung an der Schoah-Gedenkstätte. Doch der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignaz Bubis, lehnte dieses kecke Ansinnen ab. Der Zentralratspräsident verwechselte die deutsche Gedenkstätte mit einem jüdischen Friedhof. Und da hatte ein Goi nichts zu suchen.

Unterdessen versuchte der Historiker Eberhard Jäckel mit einer ethisch fragwürdigen, wissenschaftlich absurden "Argumentationshilfe" zu begründen, warum die zentrale Holocaust-Gedenkstätte allein für jüdische Opfer reserviert sein sollte. Die diversen Opfergruppen fanden sich mit der deutsch-jüdischen Zurückweisungssymbiose ab und versuchten, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Mittlerweile streiten knapp zwei Dutzend Opferzirkel um eine eigenständige Gedenkstätte im Zentrum Berlins.

Es gibt verletzende Auseinandersetzungen. So fühlen sich etwa Lalleri und Manusch, die sich als Zigeuner verstehen, vom Zentralrat der Sinti und Roma übergangen. Die Vertriebenen wiederum streben ein eigenes Gedenkzentrum an. Dabei wollen sie auch an den Völkermord an den Armeniern und diverse Vertreibungen auf dem Balkan erinnern. So praktiziert man präventive Völkerverständigung.

In Berlin wird die zentrale Gedenkstätte für die ermordeten Juden trotz diverser Tollereien Lea Roshs, wie der provozierenden Parole, der Holocaust habe nicht stattgefunden, oder dem überhitzten Streit um die Teilnahme der Degussa, deren Tochterunternehmen Degesch einst das Giftgas Zyklon B produziert hatte, fertig gestellt werden. Die KZ-Gedenkstätten allenthalben in Deutschland werden verfallen, weil die nötigen Gelder nach Berlin fließen werden. Die Vertreter der unterschiedlichen Opfergruppen werden weiter darauf dringen, ihre Anliegen in Stein zu meißeln. Schließlich müssen Funktionäre ihre Daseinsberechtigung liefern.

Noch ehe die zentrale Gedenkstätte am Brandenburger Tor ans Netz des Gedenkens geht, ist es Zeit, den infantilen Streit der einzelnen Opfergruppen zu beenden. Das scheinbar unvermeidliche Mahnmal muss für alle Opfer der Nazis offen sein. Der Völkermord an den Juden war einmalig. Aber das waren die Euthanasie und der Massenmord an den Zigeunern ebenfalls. Zumindest im Gedenken sollte man von einer Selektion absehen.

RAFAEL SELIGMANN, 56, lebt in Berlin. Im März erscheint von ihm: "Hitler. Die Deutschen und ihr Führer"

Mittwoch, 28. Januar 2004

Jana Frielinghaus

 

Immer auf dem Glatteis

 

Auf einer Tagung in Berlin wurde über neue Wege im Umgang mit rechten Jugendlichen debattiert

 

»Glatzenpflege auf Staatskosten«. Das Urteil ist schnell gefällt, wenn es um die Förderung der Bekämpfung menschenverachtender Weltbilder in den Köpfen geht. Tatsächlich läuft es oft darauf hinaus, selbst, wenn die Sozialarbeiter beste Absichten und pädagogische Kompetenz mitbringen. Woran es vor allem fehlt: fundierte historische Kenntnisse über die Zeit des Faschismus, auf deren Basis von den Rechten gepflegte Mythen zerschlagen werden könnten. So jedenfalls die einhellige Meinung der Fachleute, die in der vergangenen Woche in Berlin auf einer Tagung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung über »Neue Wege« im Umgang mit Jungnazis diskutierten.

Daß die Arbeit mit den Jugendlichen bei allen Gefahren, die sie mit sich bringt, notwendig ist, darüber waren sich die Tagungsbesucher einig. Professor Hajo Funke von der Freien Universität Berlin forderte sogar eine stärkere staatliche Unterstützung für Projekte, die sich um potentielle Aussteiger aus der rechten Szene kümmern. Es gehe um eine »aufsuchende, gar nicht akzeptierende Jugendarbeit«, so Funke. Zielgruppe müßten diejenigen Jugendlichen sein, deren »rechtsextreme Einstellungen sich noch nicht verfestigt haben«. Doch genau darin liegt das Problem: Woran erkennt man, daß jemand »nur« ein Mitläufer ist?

Es gibt viele Strategien, viele erweisen sich als untauglich, das wurde auf der Tagung einmal mehr klar. Zumal das gesellschaftliche Klima faschistoide Einstellungen durchaus fördert. Hajo Funke erinnerte in diesem Zusammenhang unter anderem an Gesetze, die Ausländer kriminalisieren und die unter der amtierenden Bundesregierung noch verschärft werden. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Kerstin Griese nannte darüber hinaus Zahlen, die belegen, daß rechtes Gedankengut in der »Mitte der Gesellschaft« munter reproduziert wird. Ein Fünftel der Bundesbürger, so das Ergebnis einer aktuellen Studie, vertreten »rechtspopulistische Einstellungen«. Der Journalist Frank Jansen vom Berliner Tagesspiegel stellte fest, Rechtsextremismus sei ein »Konjunkturthema«. Über weite Strecken interessiere es jedoch in den Medien niemanden.

Sozialarbeiter werden oft gescholten. Für das Verständnis, das sie rechten Jugendlichen entgegenbringen. Dafür, daß sie nach den Ursachen für deren Wut und Gewalttätigkeit suchen, nach den Spuren eigener Erfahrungen mit der Opferrolle – die es fast immer gibt. Und das, während Leute, die krankenhausreif geschlagen wurden, meist allein mit ihren Traumata klarkommen müssen. Dabei ist das Anliegen der Sozialarbeiter nicht weniger ehrenwert als etwa das der Anlaufstellen für Opfer rechter Gewalt. Beide haben mit den gleichen Rahmenbedingungen zu kämpfen wie jene. Zu denen gehört, daß nicht nur von die Großeltern der Jungnazis erzählen, daß bei Hitler »auch nicht alles schlecht« war und daß der Bombenkrieg der Alliierten mindestens so schlimm war wie das, was die von den Deutschen angegriffenen Völker erlebten. Letzteres wird dem breiten Publikum fast wöchentlich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und mit Hilfe Tausender Publikationen suggeriert.