Presseschau Januar 2004
Die Presseschau
ist ein Service des durch entimon geförderten Projektes respectabel.de
Hier finden Sie eine Auswahl unserer Redaktion
von Artikeln des täglichen Pressespiegels
Montag, 5. Januar 2004
"Das ist eine nicht zu unterschätzende Gefahr", sagte die
Sprecherin des niedersächsischen Landesamts für Verfassungsschutz, Maren Brandenburger,
in in Hannover. "Die Zahl der Homepages hat sich seit Mitte der 90er Jahre
massiv vermehrt." 1996 seien noch 30 deutsche Internet-Seiten mit rechtsradikalen
Inhalten registriert worden. Inzwischen liege die Zahl bei 900. "Wir haben
es aber mit einer großen Fluktuation zu tun und müssen von einer erheblichen
Dunkelziffer ausgehen."
Einstiegsmedium in den Rechtsextremismus?
Rechtsextreme Parteien, Organisationen, Skinhead-Bands oder auch Einzelpersonen
nutzten das Internet zur Selbstdarstellung. "Inwieweit das Internet aber
ein Einstiegsmedium in den Rechtsextremismus ist, lässt sich schwer abschätzen",
sagte Brandenburger. Für ihre Mitglieder stellten die Gruppen auch Rückblicke
auf Veranstaltungen und rechtliche Hinweise ins Netz. "Allerdings sind
die Homepages inhaltlich meistens eher zurückhaltend gestaltet. Aufrufe zur
Gewalt oder sonstige Straftatbestände findet man selten."
Anders
sehe es bei den Chat-Rooms aus, in denen Interessierte - teils in abgeschotteten
Bereichen - miteinander kommunizieren können. "Dort geht es oft hart zur
Sache, mit volksverhetzenden und menschenverachtenden Äußerungen», berichtete
die Verfassungsschutz-Sprecherin. Die Fahnder versuchten herauszufinden, "wer
dort spricht". Wegen der ständig wechselnden Decknamen sei es jedoch schwierig,
eine konkrete Person auszumachen.
Webbeobachtung Schwerpunkt des Verfassungsschutzes
Die
Beobachtung rechtsextremistischer Aktivitäten im Internet sei ein Schwerpunkt
des Verfassungsschutzes. Nach Erkenntnissen der Behörde gibt es mehr als 50
Homepages niedersächsischer rechtsradikaler Organisationen. "Dabei sind
in den vergangenen Monaten Gruppen wieder im Internet aktiv geworden, die in
der Versenkung verschwunden schienen", sagte Brandenburger. "Das bedeutet
aber nicht zwingend, dass sie auch generell aktiver geworden sind." Vielmehr
hänge es oft damit zusammen, dass eine Organisation bisher niemanden hatte,
der den Internet-Auftritt pflegte.
Mittwoch,
7. Januar 2004
Mit Anstand
aufstehen und sich wehren
Fragen an Stefanie Schulze (PDS), Mitglied des Hauptausschusses
ND: Was kann man gegen rechte Aufmärsche tun?
Schulze: Mit Anstand aufstehen, sich gegen Rechts öffentlich wehren. Dabei
hilft ein Bündnis für Demokratie und Toleranz. Lichtenberg hat dafür mit seinem
kommunalen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus und für zivilgesellschaftliches
Engagement den richtigen Weg eingeschlagen. Geschaffen wird ein Netzwerk aller
Träger und Strukturen aus Kiezbeiräten, Schulen, dem Bezirksamt und vielen anderen.
Müssen die vom Senat geförderten Projekte des Programms »Gegen Rechtsextremismus«
den Sparkurs fürchten?
Genau dieses Programm erhält der Senat für die nächsten Jahre. Es bekräftigt
seinen und den Willen des Abgeordnetenhauses, gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit
vorzugehen, sich für die Stärkung von zivilgesellschaftlichem Engagement einzusetzen.
Als die Projekte ihre Arbeit dem Parlament und der Öffentlichkeit vorstellten,
war das ein voller Erfolg. Viele Abgeordnete erhielten, gerade wenn sie vorher
am Sinn mancher Projekte zweifelten, einen differenzierteren Einblick. Viele
Schüler haben die Ausstellung besucht, Diskussionsforen organisiert und Experten
haben über die inhaltliche Weiterentwicklung beraten.
Der Wert der einzelnen Projekte wurde geprüft, fallen nun welche weg?
Es trifft zu, dass evaluiert wurde. Aber es ging nicht um einzelne Projekte,
sondern um das Programm als Ganzes. Experten schlugen vor, wie sich das Programm
inhaltlich weiterentwickeln muss. Das Berliner Programm soll ein eigenständiges
Profil erhalten – insofern sollte die Überprüfung die Förderung optimieren helfen.
In welcher Richtung?
Rechtsextremistische und fremdenfeindliche Haltungen lassen sich nicht auf
bestimmte Bevölkerungsgruppen, Schichten oder Regionen eingrenzen. Sie sind
eher ein Problem der politischen Kultur und nicht einfach als abweichendes Verhalten
in einer bestimmten Lebensphase zu betrachten. Aber es gibt natürlich Regionen,
in denen sich rechtsradikale Kräfte gezielt organisieren. Die Programme müssen
also vornehmlich zivilgesellschaftliche Veränderungen sowie demokratische Strukturen
fördern.
In diesem Sinne bitte ein Blick voraus.
Das Ziel des Berliner Programms muss sein, ein gesellschaftliches Klima
zu fördern, in dem menschen- und demokratiefeindliche Bestrebungen keinen Raum
finden. Gezielt wird Respekt vor anderen und die Bereitschaft in der Bevölkerung
gestärkt, sich Rechtsorientierten und Fremdenfeindlichen entgegenzustellen.
Woran ließe sich die Wirksamkeit von Projekten und Programm messen?
Nicht einfach an der an- oder absteigenden Zahl rechtsorientierter Übergriffe.
Das Gesamtkonzept des Berliner Programms muss mit seinen einzelnen Projekten
eine große Vielfalt entwickeln. Wichtig ist dabei die Verzahnung der bezirklichen-
und Landesstrukturen, staatlicher Institutionen und Beratungsstellen. Kriterien
für die Wirksamkeit und damit auch die Förderung von Projekten sollen künftig
konkret formuliert werden.
Gibt es Zielgruppen?
Die Experten halten beispielsweise Berufsschüler für besonders gefährdet,
die aus den anderen Förderprogrammen herausfallen. Zuwendung benötigen Projekte
für Opfer von Rassismus. Es geht zudem um die Einbindung von Projekten in bezirkliche
Aktionspläne.
Wie lange werden Förderprogramme zwangsläufig nötig sein?
Solange Aufmärsche der neonazistischen Szene Zulauf finden, Konzerte dort
gut besucht sind, CDs, Filme und Bücher Käufer finden – solange braucht das
Land Berlin ein Programm zur Stärkung der Zivilgesellschaft. Positive Veränderungen
vollziehen sich nicht in Haushaltsjahren.
Die rechtsextreme Demosaison startet in diesem Jahr früher als erwartet. Am Samstag wollen Neonazis in Lichtenberg gegen die Verurteilung der rechtsextremen Band "Landser" als kriminelle Vereinigung demonstrieren. Wie die Polizei bestätigte, hat der Hamburger Neonazianführer Christian Worch den Aufmarsch unter dem Motto "Musik ist nicht kriminell" angemeldet.
Derzeit werde noch über die Route verhandelt, heißt es bei der Polizei. Worch und Co. werben auf mehreren einschlägigen Websites mit einem Demoauftakt um 12 Uhr am S-Bahnhof Lichtenberg. Bei der Polizei will man sich erst am Donnerstag zu näheren Einzelheiten äußern.
Drei Mitglieder der Berliner Neonaziband Landser waren am 22. Dezember zu Haft und Bewährungsstrafen verurteilt worden. Der als "Rädelsführer" verurteilte Sänger der Band, Michael R. (38) alias "Luni", wird seitdem in der extremen Rechten als Märtyrer gefeiert und hat Revision gegen das Urteil angekündigt.
Michael R., der zu drei Jahren Haft verurteilt wurde und als Einziger zu den Vorwürfen keine Aussagen gemacht hatte, gilt als führendes Mitglied der Berliner Neonazirocker "Vandalen", die seit Jahren eng mit den Freien Kameradschaften der Stadt zusammenarbeiten. Zuletzt hatten die Freien Kameradschaften Anfang Dezember rund 200 vor allem jugendliche Anhänger zu einer Demonstration durch Neukölln und Treptow mobilisieren können. Anschließend kritisierten unabhängige Beobachter das massive Vorgehen von 1.000 Polizisten gegen antifaschistische Gegendemonstranten. Alle Kritik an der "Berliner Linie" - Proteste gegen Neonaziaufmärsche durch ein großes Polizeiaufgebot vor Ort unmöglich zu machen - blieb bislang wirkungslos.
Experten rechnen nach der Demonstration in Lichtenberg mit weiteren rechtsextremen Aktivitäten zum Monatsende. In den vergangenen Jahren war es insbesondere am Todestag des nationalsozialistischen Märtyrers Horst Wessel zu Aktivitäten von Berliner Kameradschaften gekommen. Am 31. Januar wird sich die Berliner Neonaziszene dann auf den Weg nach Hamburg machen, um dort gemeinsam mit der extremen Rechten aus dem gesamten Bundesgebiet gegen die letzte Station der Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" des Hamburger Insituts für Sozialforschung zu demonstrieren.
Am 1. Mai dagegen rechnen Beobachter mit einem der größeten rechtsextremen Aufmärsche seit Jahren in Berlin. Denn erstmals seit längerem mobilisieren die rivalisierenden NPD und Freie Kameradschaften wieder gemeinsam zu einer zentralen Demonstration. Als Anmelder tritt das NPD-Bundesvorstandsmitglied Holger Apfel auf, als Auftaktort haben sich die Rechten den Ostbahnhof ausgesucht.
Schon im vergangenen Jahr war es der NPD gelungen, rund 1.200 Anhänger zur Demonstration in Charlottenburg zu mobilisieren. Gleichzeitig hatten die Freien Kameradschaften rund 1.000 Anhänger in Halle mobilisiert. Experten gehen daher für den diesjährigen 1.-Mai-Aufmarsch, bei dem die Neonazis die Themenfelder Globalisierung und Sozialabbau von rechts besetzen wollen, von rund 2.000 Teilnehmern aus.
Samstag, 10. Januar 2004
Angebot für Brandenburger: Migrant zu vermieten
Keine Zeitarbeitsfirma, sondern eine antirassistische Initiative verbirgt sich hinter dem Slogan "Rent an Immigrant". Beim Verein "Gesicht Zeigen!" ist man der Meinung, dass die persönliche Begegnung der beste Weg ist, fremdenfeindliche Vorurteile abzubauen. Seit Juni 2002 "vermietet" dieser Verein MigrantInnen an Brandenburger Schulen. Zuwanderer oder deren Nachkommen besuchen als Fachleute die Schulen - sie sind nicht nur Experten für Migrationserfahrungen, sondern gleichzeitig auch selbstbewusste und beruflich erfolgreiche Persönlichkeiten. Dadurch soll das Stereotyp vom Ausländer, "der entweder Probleme hat oder macht", durchbrochen werden. Einen persönlichen Kontakt gibt es an Brandenburger Schulen mit einem äußerst geringen Anteil nichtdeutscher Kinder kaum.
Seit neuestem können die Klassen "ihren" Migranten auch besuchen. Im Fortsetzungsprojekt "Meet an Immigrant" sollen die Brandenburger SchülerInnen einen Eindruck vom multikulturellen Leben in Berlin erhalten. Dabei wird der Migrant am Arbeitsplatz besucht und eine Führung durch Kreuzberg mit Besuch von Moschee und türkischem Restaurant organisiert.
Rechtsextremismus ist nicht nur an Brandenburger Schulen ein Problem, und auch das Zusammenleben von Menschen verschiedenster Herkunft macht nicht dagegen immun. "In Berlin beobachten wir eine Veränderung der rechtsextremen Szene", erklärt Michael Rump-Räuber vom Berliner Landesinstitut für Schule und Medien (Lisum). Hätten sich die Rechten vor einigen Jahren noch offensiv an den Schulen gezeigt, verhielten sie sich dort jetzt unauffällig. Aktivitäten von Rechtsradikalen fänden außerhalb der Schulen statt.
Für LehrerInnen ist es manchmal schwer, überhaupt zu erkennen, dass ihre Schüler rechten Ideologien anhängen. Im Januar hat das Lisum die CD-ROM "Standpunkte" herausgegeben, mit deren Hilfe Berliner LehrerInnen im Umgang mit Rechtsextremismus geschult wurden. Die CD klärt zunächst über rechte Grundbegriffe, Organisationsformen und Kleidungscodes auf, um im Folgenden Argumentationshilfen dagegen und mögliche antirassistische Unterrichtseinheiten anzubieten.
Die CD-ROM ist ein Bestandteil des Projektes "Standpunkte", das Michael Rump-Räuber leitet. In Berlin steht pro Bezirk ein Pädagoge zur Verfügung, der bei rechtsextremen und rassistischen Vorfällen an Schulen zu Rate gezogen werden kann. Allerdings wird diese Aufgabe nur mit zwei Stunden pro Woche vergütet, die reale Arbeitsbelastung liegt laut Rump-Räuber bei sechs bis acht Stunden. "Wir sind aber zufrieden, dass wir das Projekt über drei Jahre halten konnten."
Seit 2001 sind 90 Berliner Lehrkräfte im Umgang mit Rechtsextremismus ausgebildet worden. In einigen Bezirken wurden Netzwerke über die Schulen hinaus geknüpft, wie in Marzahn-Hellersdorf das SchülerInnen-Netzwerk MuT. Auch im kommenden Jahr wollen die Standpunkt-PädagogInnen am Aufbau stadtteilweiter Netzwerke arbeiten. Besonderes Augenmerk verdienten dabei die Problembezirke Treptow-Köpenick, Neukölln und Reinickendorf.
Wenige der gegenwärtigen Projektangebote richten sich an Grundschulen, auch wenn rassistische Einstellungen sich bereits dort zeigen. Diese äußern sich nicht nur zwischen Kindern deutscher und nichtdeutscher Herkunft. "Wir haben an den Schulen bereits früh eine steigende Konfliktintensität, die sich auch in Rechtsextremismus äußert", sagt der Integrationsbeauftragte des Landes Berlin, Günter Piening. Verstärkt würden auch antisemitische Äußerungen von Kindern arabischer Herkunft und Homophobie laut.
Neonazis aus Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Hamburg haben am Sonnabend in Lichtenberg gegen das Landser-Urteil des Kammergerichts demonstriert. Die aus Berlin stammende Kult-Band der Rechten war am 22. Dezember als kriminelle Vereinigung eingestuft worden. Die Musiker wurden zu Haft- und Bewährungsstrafen verurteilt. Die Musiker waren von der Bundesanwaltschaft angeklagt worden, weil sie in ihren Texten zu Gewalt gegen Ausländer und Juden aufgerufen hatten.
500 Neonazis trafen sich gegen 12 Uhr in der Siegfriedstraße, um über die Frankfurter Allee, Möllendorfstraße, Normannenstraße, Ruschestraße zurück zum Bahnhof Lichtenberg zu marschieren. Die kahl geschorenen und zumeist schwarz gekleideten jungen Männer und Frauen wurden von rund 1 000 Polizisten begleitet. Zuvor hatte der Hamburger Neonazi Christian Worch, der auch die Demonstration angemeldet hatte, strenge Auflagen der Polizei hinnehmen müssen.
So war das Abspielen von Landser-Titeln verboten worden. Auch das Rezitieren der Liedtexte sowie das Summen der Melodien der Landser-Lieder war untersagt worden. Neben dem Verbot verfassungsfeindliche Symbole zu zeigen, mussten die Rechten außerdem auf das Tragen von Bomberjacken verzichten. Deshalb mussten einige Teilnehmer ihre Jacken ausziehen und umdrehen, so dass das orangefarbene Futter der Jacke zu sehen war. Worch hatte zwar Widerspruch gegen diese Auflagen des Berliner Verwaltungsgerichts eingelegt. Doch das Oberverwaltungsgericht bestätigte am Sonnabend in einem Eilrechtsschutzverfahren die Entscheidung.
Der Aufzug unter dem Motto: "Musik ist nicht kriminell" verlief ohne größere Zwischenfälle. Die Polizei nahm insgesamt vier Rechte fest. Ihnen drohen nun Anzeigen wegen Zusammenrottung, Vermummung und Widerstands. Einer der Festgenommenen hatte kurz vor dem Ende des Aufzugs versucht, einen Polizisten zu schlagen. Etwa 200 Gegendemonstranten aus der linken Szene hatten vergeblich versucht, den Nazi-Aufmarsch zu stören. Die Polizei, die die angrenzenden Straßen abgeriegelt hatte, nahm zehn Jugendliche fest. Sie erhielten Anzeigen wegen Körperverletzung, Widerstands, Landfriedensbruchs und Sachbeschädigung.
Trotz des Großaufgebots der Polizei kam es eine halbe Stunde nach Ende des Aufmarsches zu einem Zwischenfall in einer S-Bahn. Mehr als zehn vermummte Täter waren auf den Bahnsteig des Bahnhofs Storkower Straße gestürmt und hatten acht Scheiben eines S-Bahn-Wagens, in dem Neonazis saßen, zertrümmert. Die Täter flüchteten unerkannt.
Mittwoch, 14. Januar 2004
Innensenator Ehrhart Körting (SPD) hat neun Problemkieze benannt. Die Gebiete zeichnen sich durch schwache Sozialstruktur, hohen Ausländeranteil und hohe Kriminalitätsrate aus. Stefan Schulz sprach darüber mit Professor Hartmut Häußermann, Stadt- und Regionalsoziologe an der Humboldt-Universität.
Berliner Morgenpost: Herr Häußermann,
der Innensenator hat vor Ghettobildung in einigen Quartieren gewarnt. Sehen
Sie das auch so?
Hartmut Häußermann: Das kann ich nur schwer beurteilen. In einem Ghetto ist man eingesperrt. Es liegt nicht am Gebiet, sondern an den sozialen Problemen der Familien, die dort leben, und aus denen die Täter stammen. Deshalb ist zu fragen: Warum handeln sie so? Die Statistik schreibt dies vor allem den Zuwanderern zu. Das ist irreführend.
Worin besteht dann das Problem?
Wenn Kriminalität in den Quartieren besonders häufig auftritt, ist dies meist eine Integrationsfrage. Die Bewohner nehmen nicht am normalen Leben teil, wenn sie zum Beispiel ins Bildungssystem oder in den Arbeitsmarkt nicht eingebunden sind. Dann schließen sich oft ausländische Jugendliche auch zu ethnischen Banden zusammen.
Gibt es deswegen im Ostteil der Stadt keine derart gefährdeten Bereiche?
Das ist nicht ganz richtig. Es gibt auch eine Bandenbildung im Ostteil der Stadt. Dort schließen sich junge Leute mit rechtsextremem Hintergrund zusammen, weil sie ebenfalls isoliert sind. Das Problem ist das Gleiche, nur dass es sich hier um Einheimische handelt.
Wie würden Sie ein Problemkiez beschreiben?
Ein Quartier wird problematisch, wenn die Bewohner von Erwerbsarbeit, Bildung und Ausbildung ausgeschlossen sind. Wenn man benachteiligt wird, bilden sich Milieus, in denen andere Erfolgswege gesucht werden. Das hat nichts mit Charakterschwäche oder ethnischen Gruppen zu tun, sondern mit der Enttäuschung, von Chancen ausgeschlossen zu sein. Dadurch suchen sich die Menschen eine andere Respektabilität - und das kann in Gropiusstadt ebenso sein wie in Marzahn. Ghettos werden von der Mehrheitsgesellschaft gemacht und nicht von denen, die dort leben.
Was kann man tun, um die Ghettobildung zu verhindern?
Man kann durch gleiche Chancen in Arbeit und Bildung entgegensteuern. Im Kiez muss es zudem eine soziale Kontrolle geben. Den Leuten, die Unsinn machen, sollte man auch entschlossen entgegentreten. Zum Dritten müssen die Bewohner die Gelegenheit bekommen, sich untereinander zu verständigen, beispielsweise wie sie mehr Sicherheit im Kiez erreichen können. Daran haben ja auch Zuwanderer Interesse. Dann können Ausgrenzungen und deren Folgen vermieden werden.
Samstag, 17. Januar 2004
VON RICHARD ROTHER
Die rot-grüne Bundesregierung soll endlich ein Antidiskriminierungsgesetz verabschieden. Das forderten gestern Berlins Integrationsbeauftragter Günter Piening und die Brandenburger Ausländerbeauftragte Almuth Berger. "Es kann nicht sein, dass der Bund sich dieser Verantwortung entzieht", sagte Piening in Potsdam. Eine Richtlinie der Europäischen Kommission verpflichtet Deutschland, ein entsprechendes Gesetz zu verabschieden. Ein erster Entwurf des Bundesjustizministeriums von 2001 war am Widerstand der Kirchen und der SPD gescheitert.
Die Arbeit gegen die Ausgrenzung ethnischer Minderheiten in Berlin und Brandenburg müsse dringend auf eine breitere gesetzliche Grundlage gestellt werden, forderte Berger. Die Antidiskriminierungsstellen, die Berlin und Brandenburg eingerichtet hätten, seien bereits eine Vorleistung gewesen. "Der Abbau von Diskriminierung ist ein wesentlicher Bestandteil von Integration", so Berger. Ausgrenzung und fremdenfeindliche Übergriffe seien ein zentrales Problem.
Stichproben in Brandenburg hätten ergeben, wie verbreitet Diskriminierung ist. So sei Zuwanderern in jeder dritten von fünfzehn Diskotheken der Zutritt verweigert worden, berichtete Berger, und zwar "aus deutlich nicht nachvollziehbaren Gründen".
Laut Pienings hinke Deutschland bei der Antidiskriminierung hinterher, weil Besitzstände Alteingesessener bedroht seien, etwa auf dem Arbeitsmarkt. "Wir sind von einer Gleichbehandlung von Minderheiten weit entfernt." Die Umsetzung der EU-Richtlinie gebe es nicht zum Nulltarif. Geregelt werden müsse die Finanzierung der Gleichbehandlungsstellen. Piening und Berger: "Die Bundesregierung muss zumindest einen Teil der Kosten übernehmen."
Montag, 19. Januar 2004
Denken, singen und schreiben
gegen Rechts
Neele Illner 15 Jahre
Einmal im Jahr
haben Schüler Gelegenheit ihr Engagement gegen Rechtsextremismus zu zeigen.
Für den Wettbewerb "denkmal", haben Schüler von Berliner Schulen sich
mit dem Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkrieges, aber auch mit Fremdenfeindlichkeit
und Antisemitismus in unser heutigen Gesellschaft auseinander gesetzt. Der Wettbewerb
wurde vom Abgeordnetenhaus, anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Holocausts
am 27. Januar, ausgerufen und wird von der Berliner Zeitung unterstützt. Sein
Ziel ist es, das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu steigern, sie zu sensibilisieren
und so einer Wiederholung der Schrecken des Dritten Reiches vorzubeugen.
Dienstag, 20. Januar 2004
"Tätervolk"
ist Unwort des Jahres
Der vor allem in der Hohmann-Affäre überanstrengte Begriff "Tätervolk"
ist zum Unwort des Jahres 2003 erkoren worden.
Frankfurt/Main
- Die bei der Goethe-Universität angesiedelte unabhängige Jury gab am Dienstag
in Frankfurt am Main ihre Entscheidung bekannt. Damit sei ein Begrif gewählt
worden, der schon "grundsätzlich verwerflich" sei, sagte ein Jury-Sprecher.
Vor
allem in der Affäre um den hessischen CDU-Politiker Martin Hohmann im Herbst
letzten Jahres wurde der Begriff "Tätervolk" über die Maßen bemüht.
Mit
dem "Unwort des Jahres" werden sprachliche Missgriffe in der öffentlichen
Kommunikation bezeichnet, die "sachlich grob unangemessen sind und möglicherweise
sogar die Menschenwürde verletzen". Die Juroren hatten aus 2215 Zuschriften
mit 1160 verschiedenen Vorschlägen einen Begriff auszuwählen.
Mittwoch, 21. Januar 2004
Potsdam - Der evangelische Superintendent Heinz-Joachim Lohmann ist gestern mit großer Mehrheit zum neuen Vorsitzenden des Brandenburger Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit gewählt worden. Er stammt aus Rheinland-Pfalz, studierte Theologie in Frankfurt/M., Kiel, Basel, Heidelberg, wurde 1991 in Berlin zum Pfarrer ordiniert und war ab 1992 im Kirchenkreis Niederer Fläming tätig. Seit 2001 ist Lohmann Superintendent des Kirchenkreises Wittstock-Ruppin. Der 41-Jährige ist verheiratet und hat vier Kinder. ddp
Donnerstag, 22. Januar 2004
NPD ist ihren Anhängern
zu multikulturell
Andreas Kopietz
Die rechtsextreme
NPD steckt in Berlin und Brandenburg in einer tiefen Krise. In der vergangenen
Woche verlor sie den kompletten Kreisverband Prignitz-Ruppin. Auf einer Mitgliederversammlung
in Wittstock erklärten alle Anwesenden ihren Parteiaustritt. Unter ihnen auch
der Kreisvorsitzende Mario Schulz, der zugleich Landesvorsitzender für Brandenburg
war, sowie weitere Mitglieder des Landesvorstands. Wittstock gilt als Hochburg
der rechten Szene, der örtliche NPD-Kreisverband Prignitz-Ruppin als einer der
aktivsten.
Den Massenaustritt begründet
Schulz mit der Nominierung eines gebürtigen Bosniers Safet Babic als Kandidat
für die Europa-Wahl. Der 22-Jährige mit deutschem Pass, der im vergangenen Oktober
vom Bundesparteitag aufgestellt wurde, ist Student an der Uni Trier. Weltanschaulich
versteht er sich als "Befreiungsnationalist". Mit der Nominierung
verabschiede sich die NPD von dem Grundsatz "Deutscher ist, wer deutschen
Blutes ist", so Schulz. Die NPD reihe sich ein "bei den Feinden unseres
Volkes", teilte Schmidt mit.
Dass die nationalistische Partei
sich rechtsextremen Kräften nichtdeutscher Herkunft öffnet, bezeichnet Schmidts
Nachfolger und Bundesvorstandssprecher Klaus Beier als eine "gegenwartsbezogene
Entscheidung". Doch so viel Multikulti ist manchem zu viel. In einem rechten
Internetforum bringt ein Autor, der sich "Volksgenosse" nennt, auf
den Punkt, was viele Rechte denken: "Tatsache ist doch das sich die NPD
so sehr an dieses fremde BRD-System angepasst hat, das sie sich von den restlichen
BRD-Parteien nicht mehr unterscheidet."
Mario Schulz und andere kündigten
derweil an, in Brandenburg eine "Bewegung neue Ordnung (BNO) zu gründen.
Diese Organisation könnte der NPD "als Spaltpilz gefährlich werden",
glauben Verfasssungsschützer. Die NPD sei die einzige ernst zu nehmende Kraft
in der rechtsextremistischen Parteienlandschaft Brandenburgs, heißt es in einer
Analyse des brandenburgischen Verfassungsschutzes. "Kaum dass sie sich
von dem gescheiterten Verbotsverfahren erholen konnte, droht ihr nun die Spaltung."
Seit dem Ende des Verbotsverfahrens
im März vergangenen Jahres haben immer mehr Mitglieder der Partei den Rücken
gekehrt. Den Anfang machte der Rechtsanwalt Horst Mahler, der in der NPD plötzlich
eine "Systempartei" sah. Seitdem sank bundesweit die Zahl der Mitglieder
von 6 500 auf 5 000 und in Berlin von 260 auf 200. In Brandenburg sind nicht
einmal mehr 200 Parteigänger registriert.
Schulungszentrum und Maidemo
Besonders stark sind die Verluste
für die NPD in Berlin. Arbeitsfähig ist noch der Kreisverband Nord, der aus
zehn bis 20 Aktiven besteht. Faktisch nicht mehr existent ist der Kreisverband
Südwest (Spandau, Zehlendorf). Eine Hand voll Aktivisten gibt es noch in Treptow-Köpenick,
und vor kurzem verabschiedete sich auch der Anführer des Kreisverbandes Lichtenberg-Hohenschönhausen:
Albrecht Reither, bislang außerdem Landesvorsitzender von Berlin, gab angeblich
"aus persönlichen Gründen" auf. Sein Nachfolger Georg Magnus gibt
sich dennoch siegesgewiss: "Wir haben keine Probleme", sagte er. Über
Mitgliederzahlen gebe er prinzipiell keine Auskunft.
Tatsächlich bleibt abzuwarten,
wie viel Einfluss die NPD in der rechten Szene verloren hat. Für 180 000 Euro
baut sie neben ihrer Bundeszentrale in Köpenick ein Schulungszentrum für Funktionäre
aus ganz Deutschland.
Laut Parteisprecher Beier soll
es im April oder Mai eröffnen. Für den diesjährigen 1. Mai hat die NPD eine
Großdemonstration in Berlin angemeldet, zu der sie bis zu 3 000 Teilnehmer erwartet.
Gerade dort wollen die Rechten Einheit demonstrieren. Deshalb wird der Aufruf
von vielen "freien Kräften" unterstützt: von der "HateCrew 88"
über die Pommersche Aktionsfront bis hin zum "Wattenscheider Widerstand".
Donnerstag, 22. Januar 2004
Verein Opferperspektive zählte im vergangenen Jahr 151 Opfer
Potsdam. Im vergangenen Jahr hat es nach der Zählung des Vereins Opferperspektive
in Brandenburg 116 gewaltsame Angriffe von Rechtsextremen gegeben. 51 davon
hätten sich gegen Migranten und Flüchtlinge, 53 gegen nicht-rechte Jugendliche,
der Rest vor allem gegen Aussiedler gerichtet, teilte der Verein am Mittwoch
mit. Nach diesen Angaben waren insgesamt 151 Opfer von den Attacken betroffen.
Die Zahlen des Landeskriminalamtes (LKA) würden in Kürze bekannt gemacht, hieß
es aus dem Innenministerium. Mit 19 Angriffen lag laut Opferperspektive der
Landkreis Havelland an der Spitze; es folgen die Uckermark und die Stadt Potsdam
(je 15).
Der Sprecher des Vereins, Kay Wendel, verwies auf Abweichungen zwischen den
Zahlen seines Vereins und denen des LKA. So habe die Opferperspektive für 2002
128 Angriffe gezählt. Das LKA habe 81 ausgewiesen – von denen der Opferperspektive
35 nicht bekannt gewesen seien. Umgekehrt fehlten auf der Liste des LKA 73 Gewalttaten,
die sein Verein als rechtsextrem motiviert eingestuft hatte. Dies lege den Schluss
nahe, dass beide Statistiken ein unzureichendes Abbild des wirklichen Ausmaßes
der rechten Gewalt in Brandenburg darstellen. Dpa
Montag, 26. Januar 2004
Von Florentine Anders
Schülerclubs sind häufig die einzige Anlaufstelle für Jugendliche bei Gewalt, Mobbing und Stress mit Eltern oder Lehrern. Doch obwohl diese Einrichtungen erst vor zehn Jahren von Freien Trägern zur Gewaltprävention aufgebaut worden waren, sollen sie jetzt schon wieder abgeschafft werden.
Berlins Schulsenator Klaus Böger (SPD) bestätigte im Jugendausschuss, dass zumindest zehn der insgesamt 20 Clubs an den erweiterten Schulen geschlossen werden sollen. Darüber hinaus werde von einem unabhängigen Träger überprüft, was diese Einrichtungen tatsächlich bewirken würden.
Im Gegenzug sollen mehr Schülerclubs an Grundschulen eingerichtet werden, um hier die Zehn- bis Zwölfjährigen, die keinen Anspruch mehr auf einen Hortplatz haben, besser betreuen zu können.
Bisher werden die Schülerclubs aus Lottomitteln finanziert, die die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung verwaltet. Die Stiftung hat den Trägern mitgeteilt, dass sogar alle 20 Einrichtungen gefährdet seien. Der Grund: Im Lottotopf für Jugendarbeit hat sich ein Loch von 2,7 Millionen Euro aufgetan, weil die Berliner in den vergangenen Monaten weniger Lotto gespielt haben. Der Fehlbetrag muss nun eingespart oder vom Land aufgebracht werden. Nicht betroffen wären die Grundschulen. Dort könnten für die Ganztagesbetreuung nämlich Bundesmittel eingesetzt werden.
"Es zeugt von Verantwortungslosigkeit, die Schülerclubs abzuschaffen, gerade jetzt, da die Zahl der Gewalttaten an Schulen drastisch steigt", sagt Konrad Koschek, Sprecher der Jugendhilfe vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. Dem Bericht der Landeskommission gegen Gewalt zufolge sind die schwer wiegenden Zwischenfälle an Schulen im vergangenen Schuljahr um 66 Prozent angestiegen.
Auch die Grünen wehren sich gegen die Schließungen: "Die Schließung der Schülerclubs steht im völligen Widerspruch zu dem gerade gestarteten Reformprozess der Schulverwaltung", kritisiert der schulpolitische Sprecher der Grünen, Özcan Mutlu, die vorgestellten Einspar-Pläne. flo
VON RAFAEL SELIGMANN
Bei Kindern lassen sich Stolz- und Imponiergehabe noch unverblümt beobachten. Besonders stolz sind die guten Kleinen, wenn es ihnen gelingt, ihre Spielkameraden, also ihre Rivalen, auszustechen. Eine andere Form der erhöhten Genugtuung ergibt sich nach erlittenem Leid. Gegipste Gliedmaßen oder Narben nach einer Blinddarmoperation werden allenthalben als Schmerztrophäen präsentiert.
Als so genannte Erwachsene lernen die meisten, ihre Gefühle zu kontrollieren. Doch der Stolz auf widerfahrenen Schmerz und der Triumph über den Konkurrenten bleiben bestehen wie ehedem in der verklärten Kinderzeit. Manche verdecken diesen Stolz subtil, andere infantilere Charaktere wie Lea Rosh können es sich selbst als älteres Mädel nicht verkneifen, darin zu schwelgen.
Gegenwärtig findet in Deutschlands Hauptstadt ein abnormer Wettkampf um vergangenes Leid und heutiges öffentliches Prestige statt. Siegestrophäen sind eigenständige monumentale Verewigungen der Opfergruppen.
Angefangen hatte das Opferrennen harmlos. Hehre Motive mögen ausschlaggebend gewesen sein. Damals. 1989 hatte sich unter dem Patronat Lea Roshs ein Förderkreis konstituiert, der für die Errichtung einer zentralen Gedenkstätte für die ermordeten Juden Europas in Berlin eintrat.
Die Begründung für dieses Bestreben lieferte der Vergangenheitsnostalgiker und Pädagoge Micha Brumlik: "Wer in Deutschland öffentlich und feierlich des Holocausts gedenken will, muss heute weite Reisen auf sich nehmen: nach Jerusalem, nach Oswiecim, nach Washington."
Das war und bleibt Blödsinn. Die Logik funktioniert umgekehrt. Oranienburg, Dachau, Bergen-Belsen und andere Konzentrationslager liegen eben nicht in Jerusalem oder Washington, sondern mitten in unserem Land. Keine deutsche Stadt, kaum eine größere Ortschaft, in der Juden nicht denunziert, misshandelt und am Ende in den Tod deportiert wurden. Überall wurden Synagogen zerstört, jüdische Häuser demoliert. Von dieser Geschichte blieben Israel und die Vereinigten Staaten verschont. Gedenkt man dort "öffentlich und feierlich" - nicht jeder hat das Bedürfnis, dies vor aller Augen und Kameras zu tun - der Opfer des Völkermords, ist man in der Tat auf einen repräsentativen Schauplatz angewiesen.
Die israelische Gedenkstätte soll "an die sechs Millionen Juden erinnern, die den Märtyrertod durch die Nazis und ihre Helfer erlitten". Zu diesem Zweck soll Jad Vaschem "einen Gedenktag für den Kampf und die Vernichtung des jüdischen Volkes in Israel und im Bewusstsein des ganzen jüdischen Volkes als nationalen Trauertag verwurzeln". Das angestrebte Ziel wurde mit Übersoll erfüllt. Nicht nur "das jüdische Volk", auch eine Reihe westlicher Demokratien sahen sich zu ähnlichen Maßnahmen gedrängt. Zu Beginn der Neunzigerjahre errichteten die Vereinigten Staaten, die sich mit Mahnmälern für die umgebrachten Indianer und versklavten Afrikaner schwer tun, in Washington eine zentrale Holocaust-Gedenkstätte. In Los Angeles entstand das Simon-Wiesenthal-Center. Dessen Gründer, Rabbiner Mavin Hier, posaunt das Motto seines Wirkens in alle Welt: "Für uns hier (in den USA), meine Freunde, für uns ist jede Nacht Kristallnacht."
Bei dieser motivierenden Konkurrenz wollte Lea Rosh nicht nachstehen. In ihrem Förderkreis versammelte sie neben honorigen Männern wie Willy Brandt und Edzard Reuter auch schillernde Figuren wie Udo Lindenberg, den Wiener Bildhauer Alfred Hrdlicka, SED/PDS Hans Modrow etc. Das massive Drängen des Förderkreises hatte schließlich den Erfolg. 1999 beschloss der Bundestag mit deutlicher Mehrheit die Errichtung einer zentralen Gedenkstätte für die ermordeten Juden. Die Abgeordneten mochten nicht in den Geruch des Antisemitismus geraten, vor allem nicht in den Vereinigten Staaten und in Israel.
Ehe die Bauarbeiten aber begannen, meldeten auch Vertreter anderer Opferzirkel der Nazis ihre Ansprüche an. Homosexuelle, Sinti und Roma, Behinderte, Deserteure, Kommunisten, politisch Verfolgte - alle wollten, dass ihrer Gruppe angemessen, das heißt möglichst repräsentativ, gedacht werde. Anfangs waren die unterschiedlichen Verbände bereit, sich an der zentralen Holocaust-Gedenkstätte für die ermordeten Juden zu beteiligen. Der Vorsitzende der Sinti und Roma, Romani Rose, flehte geradezu um die Gnade der späten Beteiligung an der Schoah-Gedenkstätte. Doch der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignaz Bubis, lehnte dieses kecke Ansinnen ab. Der Zentralratspräsident verwechselte die deutsche Gedenkstätte mit einem jüdischen Friedhof. Und da hatte ein Goi nichts zu suchen.
Unterdessen versuchte der Historiker Eberhard Jäckel mit einer ethisch fragwürdigen, wissenschaftlich absurden "Argumentationshilfe" zu begründen, warum die zentrale Holocaust-Gedenkstätte allein für jüdische Opfer reserviert sein sollte. Die diversen Opfergruppen fanden sich mit der deutsch-jüdischen Zurückweisungssymbiose ab und versuchten, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Mittlerweile streiten knapp zwei Dutzend Opferzirkel um eine eigenständige Gedenkstätte im Zentrum Berlins.
Es gibt verletzende Auseinandersetzungen. So fühlen sich etwa Lalleri und Manusch, die sich als Zigeuner verstehen, vom Zentralrat der Sinti und Roma übergangen. Die Vertriebenen wiederum streben ein eigenes Gedenkzentrum an. Dabei wollen sie auch an den Völkermord an den Armeniern und diverse Vertreibungen auf dem Balkan erinnern. So praktiziert man präventive Völkerverständigung.
In Berlin wird die zentrale Gedenkstätte für die ermordeten Juden trotz diverser Tollereien Lea Roshs, wie der provozierenden Parole, der Holocaust habe nicht stattgefunden, oder dem überhitzten Streit um die Teilnahme der Degussa, deren Tochterunternehmen Degesch einst das Giftgas Zyklon B produziert hatte, fertig gestellt werden. Die KZ-Gedenkstätten allenthalben in Deutschland werden verfallen, weil die nötigen Gelder nach Berlin fließen werden. Die Vertreter der unterschiedlichen Opfergruppen werden weiter darauf dringen, ihre Anliegen in Stein zu meißeln. Schließlich müssen Funktionäre ihre Daseinsberechtigung liefern.
Noch ehe die zentrale Gedenkstätte am Brandenburger Tor ans Netz des Gedenkens geht, ist es Zeit, den infantilen Streit der einzelnen Opfergruppen zu beenden. Das scheinbar unvermeidliche Mahnmal muss für alle Opfer der Nazis offen sein. Der Völkermord an den Juden war einmalig. Aber das waren die Euthanasie und der Massenmord an den Zigeunern ebenfalls. Zumindest im Gedenken sollte man von einer Selektion absehen.
RAFAEL SELIGMANN, 56, lebt in Berlin. Im März erscheint von ihm: "Hitler. Die Deutschen und ihr Führer"
Mittwoch, 28. Januar
2004
Jana Frielinghaus |
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Immer
auf dem Glatteis |
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Auf einer Tagung in
Berlin wurde über neue Wege im Umgang mit rechten Jugendlichen debattiert |
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»Glatzenpflege
auf Staatskosten«. Das Urteil ist schnell gefällt, wenn es um die Förderung
der Bekämpfung menschenverachtender Weltbilder in den Köpfen geht. Tatsächlich
läuft es oft darauf hinaus, selbst, wenn die Sozialarbeiter beste Absichten
und pädagogische Kompetenz mitbringen. Woran es vor allem fehlt: fundierte
historische Kenntnisse über die Zeit des Faschismus, auf deren Basis von
den Rechten gepflegte Mythen zerschlagen werden könnten. So jedenfalls
die einhellige Meinung der Fachleute, die in der vergangenen Woche in
Berlin auf einer Tagung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung über »Neue
Wege« im Umgang mit Jungnazis diskutierten. |