Presseschau März 2004
Die Presseschau ist ein Service des durch  entimon geförderten Projektes respectabel.de

Hier finden Sie eine Auswahl unserer Redaktion von Artikeln des täglichen Pressespiegels

Mittwoch, 10. März 2004

Gesucht: Front gegen rechts

Das Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit hat die demokratischen Parteien in Brandenburg zu gemeinsamen Wahlkampf-Aktionen gegen rechts aufgerufen. Im Vorfeld von Europa- und Landtagswahl müsse fremdenfeindlichen Parolen deutlich entgegengetreten werden, sagte der Vorsitzende des Aktionsbündnisses, Heinz-Joachim Lohmann. Begrüßenswert wäre ein gemeinsames Wahlplakat. Als Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit will das Aktionsbündnis zudem die Spitzenkandidaten der Parteien in Brandenburg als Schirmherren für ein internationales Jugendbegegnungsprojekt im Sommer gewinnen. Mit dem multikulturellen Workcamp seien bereits in New York, Südafrika und Berlin gute Erfahrungen gemacht worden, so Lohmann. Er forderte von den Parteien, auf populistische Parolen gegen Ausländer zu verzichten. Trotz einem Ausländeranteil von weniger als fünf Prozent in Brandenburg liege die "gefühlte Ausländerpräsenz" bei 50 Prozent. Die Ablehnung von Fremden verlaufe durch alle Vereine und Parteien.

Dienstag, 16. März 2004

»Micha hat schon die neunte Brille«
Beispiel Quedlinburg: Rechte Gewalt greift wieder härter um sich, aber Projekte der Prävention werden eingespart

Von Hendrik Lasch

»Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit« - Maueraufschrift in der Reichenstraße in Quedlinburg, neben dem Jugendzentrum Reichenstraße
Foto: Lasch

Eine Messerattacke in Quedlinburg zeigt, dass Frust und Wut auch in Sachsen-Anhalt dumpfe Parolen und Gewalt aufleben lassen. Ausgerechnet jetzt werden Mittel, mit denen diesen Ausbrüchen vorgebeugt werden soll, gestrichen.
Na, hat’s wehgetan?«, soll Danilo K. gefragt haben, nachdem er zugestochen hatte. Dass sein Opfer den Satz berichten konnte, ist einem glücklichen Umstand geschuldet. Die feststehende Klinge, mit der K. nach der Schule auf den Gymnasiasten Michael T. losging, war an einer Rippe abgeprallt. Nur deshalb hatte sie keine lebenswichtigen Organe getroffen. Anderenfalls, sind sich Freunde sicher, wäre der 17-Jährige jetzt tot.
Die schlimme Tat, die sich an einem Nachmittag Ende Februar in Quedlinburg auf offener Straße zutrug, hat viele in der kleinen Harzstadt aufgeschreckt – nicht nur wegen erschreckender Pannen bei der Polizei. Obwohl die Mütter von Opfer und Täter umgehend Anzeige erstatteten, wurde nicht sofort nach dem Messerstecher gefahndet. In der Nacht tauchte dieser im Krankenhaus auf, wo T. behandelt wurde – »sicher nicht, um Blumen zu überreichen«, wie ein Polizeibeamter einräumt. Verhaftet wurde er aber erst, nachdem er tags darauf einen weiteren Jugendlichen bedroht hatte. Inzwischen ermittelt der Staatsanwalt.

Als wollte er den Straßenkrieg
Für Erschrecken sorgt der Übergriff aber auch deshalb, weil sich viele Quedlinburger an die Zustände Anfang der 90er Jahre erinnert fühlen. Damals hatten Gruppen von Skinheads die Stadt in Atem gehalten. Immer wieder kam es zu Attacken auf ein Ausländerwohnheim und alternative Jugendtreffs, zu Schlägereien mit jugendlichen Aussiedlern und mit Anhängern der linken Szene. Die Rechtsextremen waren teilweise in einer Kameradschaft namens »Harzfront« organisiert.
Auch der Messerstecher Danilo K. ist bekannt als rechter Schläger, der neben Springerstiefeln auch einen als Hakenkreuz geformten Schlüsselring trägt. Gleichaltrige, die nicht in sein Weltbild passen, versuchte er regelmäßig einzuschüchtern: »Der hat sich aufgeführt, als wollte er den Straßenkrieg«, sagt der 17-jährige Fiete, der schlechte Erfahrungen gemacht hat, als er mit dem Schülerrat zur Demo gegen Sozialabbau ging. K.s Opfer trägt einen Irokesen-Haarschnitt und einen großen Aufnäher gegen Nazis auf der Jacke. Solche Äußerlichkeiten reichen in der kleinen Stadt, um »Stress« zu bekommen, sagt sein Freund Fiete: »Micha hat schon die neunte Brille.«
Drohen dem Fachwerk-Städtchen nun erneute Scharmützel zwischen Rechten und Linken? Daran glaubt Fiete so wenig wie die Polizei. Allerdings unterscheiden sich ihre Gründe. Der Gymnasiast meint, die kleiner gewordene alternative Szene habe »keinen Bock mehr auf Gewalt«. Im Gegensatz zu den Rechtsextremen, sagt Stefan Helmbold, der den Jugendtreff Reichenstraße leitet. Das Haus mit Café, Kino und Probenräumen ist als einziges alternatives Jugendzentrum in der Kreisstadt beliebtes Angriffsobjekt der Rechten. Auch K. war bei seiner Festnahme auf dem Weg dorthin, um »das Café aufzumischen und Deutschland zu retten«.
Die Polizei geht indes nicht davon aus, dass die Messerattacke einen politischen Hintergrund hat. Der Halberstädter Polizeipräsident Rainer Nitsche spricht von »Hass« unter Bekannten. Auch die Frage nach neuen, straff organisierten rechtsextremen Strukturen verneint er sehr entschieden: »Es gibt keine fest gefügte Szene, und es bildet sich keine neue heran.«

Harte Szene durch Härte besänftigt
Statistiken scheinen Nitsche Recht zu geben. In seinem Zuständigkeitsbereich, der fünf Landkreise umfasst, gab es vor vier Jahren 142 rechtsextreme Straftaten, 2003 waren es nur noch halb so viele. In Quedlinburg, meldet der jüngste Staatsschutz-Bericht, habe es nur neun Vorfälle gegeben. Die Polizei, resümiert der Präsident, habe die »harte Szene durch hartes Auftreten in den Griff bekommen«.
Rechte Gedanken und Parolen werden wieder populär, heißt es dagegen in Quedlinburg. Besucher der »Reichenstraße« würden wieder öfter als »Zecken« angepöbelt, sagt Stefan Helmbold, der die Staatsschutz-Zahlen für beschönigend hält. Wenn sie abends in der Stadt unterwegs sei, sagt Barbara Knöfler, höre sie zunehmend »Sieg Heil«-Rufe. »Man hat vermutet, das Problem sei gelöst«, meint die Quedlinburger PDS-Landtagsabgeordnete, »aber unterm Deckel hat es weiter gebrodelt.« Die Rechten treffen sich inzwischen überwiegend in Privatwohnungen, sagt Gymnasiast Fiete: »Aber sie sind da.«
Ab April wird vor dem Amtsgericht ein Überfall verhandelt, bei dem Skins im August 2003 den Jugendtreff »Zora« in Halberstadt stürmten. Bei anderer Gelegenheit zerlegten Rechtsextreme das Wohnprojekt »VEB Wohnfabrik«. Die Täter rechnet Polizeipräsident Nitsche einer rechtsextremen »Sympathisantenszene« zu, die verstärkter Aufmerksamkeit bedürfe. Doch die Szene hat wenig gemein mit den stramm strukturierten Kameradschaften, die systematisch Terrain zu erobern suchten. Ungeplante und daher nicht vorherzusagende Brutalität erwächst aus »Alkohol, Langeweile und einem lauen Sommerabend«, wie ein Polizist die Tatfaktoren aus seiner Sicht beschreibt. Dabei scheint sich krudes Gedankengut aus dem Repertoire der extremen Rechten – der Hass auf Fremde, Glaube an eigene Überlegenheit und Verherrlichung von Gewalt – mit Frustration zu einem explosiven Gemisch zu paaren. »Die Gewaltschwelle ist niedriger geworden«, sagt Stefan Wonner, Sozialarbeiter in der »Reichenstraße«. In Burg trat unlängst eine Gruppe von Jugendlichen nach dem Diskobesuch einen Mann auf bestialische Weise zu Tode. Ihr Motiv: Es habe sich um einen »Kinderschänder« gehandelt.
Wonner sieht in solchen Ausbrüchen auch Belege für zunehmende Perspektivlosigkeit. In Quedlinburg gibt es kaum noch Industrie. Der Tourismus in der Weltkulturerbe-Stadt mit ihren Fachwerkhäusern, dem Schloss und der Nähe zum Harz beschäftigt nur einen Teil der Bewohner. »Viele sehen in der Region keine Chance mehr«, glaubt der Sozialarbeiter, »aber schaffen es nicht wegzuziehen.« Die Verbitterung ist nicht auf die Jugendlichen beschränkt: »Frust haben auch Ältere«, sagt Wonner. »Aber die Jugendlichen handeln zuerst.« Bei der sozialen Lage, wundert sich ein hoher Beamter, »kann man sich fragen, wieso die nicht noch mehr Zulauf haben«.
Die Halberstädter Polizeidirektion betreibt ein Präventionsprojekt – als einzige Dienststelle in Sachsen-Anhalt. Gemeinsam mit der Opferberatung Weißer Ring werden Projektwochen »Buntes Licht auf braune Schatten« angeboten, in denen sich 13- bis 17-jährige Schüler intensiv mit Themen wie Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit befassen. Zu den einprägsamsten Erfahrungen gehören Rollenspiele, in denen gezeigt wird, was es heißt, wegen willkürlicher Merkmale ausgegrenzt zu werden: »Das nimmt auch harte Jungs mit«, sagt Mitarbeiterin Christiane Sünnemann. Sie hat beobachtet, dass nach den harten, ehrlichen und ernsthaften Diskussionen zwar »noch genauso gemotzt wird«, aber »die Schwelle zur Gewalt liegt höher«.
Das mustergültige Anliegen hat indes einen Haken: Sieben Projektwochen für gut 200 Teilnehmer gab es 2003. Zu mehr Angeboten sah sich das aus Spenden finanzierte Projekt nicht in der Lage. Es sei, sagt Sünnemann, »ein großes Defizit, dass wir nur wenige erreichen«. Auch andernorts werden die Mittel für Vorbeugung knapper. So hat das Land die Gelder für Sozialarbeit an Schulen gestrichen, deren Aufgabe es war, sich um auffällige Schüler zu kümmern. Die Stadt selbst hat die Mittel für Soziokultur, dank derer auch die »Reichenstraße« gute Freizeitangebote machen konnte, komplett gestrichen. Erhebliche Löcher riss zudem die politisch motivierte Entscheidung des Magdeburger CDU/FDP-Kabinetts, dem 1998 gegründeten Verein »Miteinander« einen Großteil der Gelder zu streichen. Leidtragende sind von dort geförderte Projekte im ganzen Land, die sich um Toleranz und Weltoffenheit bemühen.

Auch der »Reichenstraße geht das Geld aus
Öffentliche Veranstaltungen, die diesem Anliegen dienen, hat es gerade in Quedlinburg immer wieder gegeben. Die PDS-Frau Knöfler, regelmäßige Mitorganisatorin, denkt nach dem Messerüberfall nun über einen »Runden Tisch Prävention« nach. Das Gremium werde »Fragen zulassen«, sagt die Abgeordnete – und räumt gleichzeitig ein: »Der Tisch allein wird’s nicht richten.«
Ausstellungen, Vorträge und Gesprächsrunden in der »Reichenstraße« wird es künftig deutlich seltener geben. Der Verein kann sich um das Thema künftig nur noch ehrenamtlich kümmern. Für eine feste Stelle, die zunächst zwei Jahre lang über das Bundesprojekt »Civitas« bezahlt wurde, muss der Verein »Reichenstraße« immer höhere Eigenanteile zuschießen, sagt Helmbold. Rund 16000 Euro betrügen die Kosten 2004 – »Geld, das wir nicht haben«.
Dass rechtsextreme Gedanken und daraus resultierende Gewalt am wirksamsten vorbeugend bekämpft werden, hat die Öffentlichkeit selten von allein begriffen. »Miteinander« wurde gegründet, nachdem die DVU in den Magdeburger Landtag eingezogen war; »Civitas« wurde ins Leben gerufen, nachdem in Dessau der Mosambikaner Alberto Adriano von Skinheads zu Tode getreten worden war. Jetzt lassen die Finanzknappheit bei Bund und Land, die politische Borniertheit einer christliberalen Landesregierung und zu spärlich gefüllte Spendentöpfe viele der Präventionsvorhaben dahinsiechen. Es darf gefragt werden, was passieren muss, um diese Entwicklung aufzuhalten.

Freitag, 26. März 2004

Andrea Strunk

Es gab keinen Feind

VOR ZEHN JAHREN BRANNTE DIE LüBECKER SYNAGOGE
War unter dem Deckmantel des Bürgerlichen das Verbrecherische gediehen? Ähnlich wie seinerzeit in Mölln oder Solingen?

Der 24. März 1994 war kalt und verregnet. Bisweilen verwandelte sich der Regen in Schnee. Die Lübecker Bühnen legten ihren neuen Spielplan vor. Für die kommende Spielzeit waren Bernsteins West Side Story und Wagners Tannhäuser geplant. Bremen verlor gegen Schalke 0:1. Am Abend trafen sich im Lübecker Stadtteil Buntekuh, dessen Tristesse den Namen karikiert, vier junge Männer auf einem Parkplatz und wussten nicht, was sie dort sollten. Sie betranken sich, sie fuhren in die Lübecker Innenstadt. Um 2.15 Uhr schlugen die Glocken von St. Marien einmal durch leere Straßen, in den Pfützen verschwand ihr Ton. Um 2.20 Uhr in der Nacht zündeten die vier mit Molotowcocktails den linken Gebäudeflügel der Lübecker Synagoge in der St.-Annen-Straße an.

Jahrestage haben etwas Zwanghaftes. Der Rückblick will eine Moral. Ist der Anlass ein schrecklicher, soll sie tröstlich und hoffnungsfroh sein. Zehn Jahre nach dem Synagogenbrand hat die jüdische Gemeinschaft in Lübeck 800 Mitglieder. Vor 1994 hatte sie keine 100, nicht einmal vor 1933 war sie so groß. Die heute in der Synagoge beten, sind Kontingentflüchtlinge aus Russland - deutsche Juden sind nur zwei darunter.

"Die Anklage hätte auf Mord lauten müssen", sagt Chaim Kornblum

Der Bewahrer des neuen lübschen Judentums, das aus der Fremde kam, heißt Chaim Kornblum. Als die Synagoge brannte, war er gerade Kantor geworden, das Geräusch der Flammen und der Schein des Feuers rissen ihn aus dem Schlaf in seiner Wohnung im ersten Stock. All die Jahre über blieben ihm Erinnerungen und düstere Visionen, denen er mit einem Anflug von alttestamentarischer Strenge begegnete.

Das Strafmaß für die Täter scheint ihm bis heute zu gering. Allein anhand der Klingelknöpfe hätten die Brandstifter sehen müssen, dass in der Synagoge auch Menschen wohnen. "Sie haben deren Tod billigend in Kauf genommen. Die Anklage hätte auf versuchten Mord lauten müssen."

Im ersten Erschrecken war 1994 die Vermutung des Schlimmsten sofort zur Gewissheit erklärt worden. Das Wort Rechtsradikalismus überschwemmte wie ein Bekenntnis die Medienlandschaft, gerade als verlöre es, einmal laut ausgesprochen, seinen Schrecken. Und fiel der Brand nicht in eine dunkle Zeit? Zehn Monate waren seit dem Anschlag in Solingen vergangen, der Brand im nahen Mölln, bei dem drei türkische Frauen und Kinder in ihrem Haus starben, lag keine zwei Jahre zurück. Die DVU saß bräsig im Kieler Landtag, und in den sozialen Brennpunkten von Lübeck - in Moisling, Kücknitz und Buntekuh - lag der Stimmenanteil für die Rechtsradikalen bei 20 Prozent. Trotz gegenteiliger Aussagen des Verfassungsschutzes geriet die Stadt in Verruf. Eine rechte Hochburg im Norden. In Moisling und Kücknitz marschierten die Braunen im Stechschritt an Mietshäusern vorbei, an Billigmärkten und Spielplätzen, die so wenig heil waren wie die Welt zwischen den Betonblöcken.

Chaim Kornblum wurde 1960 in Deutschland geboren. Seine Eltern dachten immer an eine Ausreise nach Amerika, aber für eine Schiffspassage fehlte das Geld. So studierte der Sohn in Israel und kam als Kantor nach Deutschland zurück. "Mein Vater sagt immer, früher sei er ein deutscher Jude gewesen. Heute sei er ein Jude in Deutschland."

Und Chaim selbst? Kiefernmahlen. Schulterzucken. "Nach dem Anschlag habe ich mich gefragt, willst du hier bleiben? Kannst du hier bleiben? Ich habe als Jude nie Schwierigkeiten gehabt. Dennoch ist beides da: Der deutsche Antisemitismus und die jüdische Angst. In unserer Gesellschaft herrscht ein Klima, in dem die falschen Gesinnungen gedeihen."

"Viel gibt es nicht mehr zu erzählen", sagt Benjamin Gruszka

Vor dem Anschlag wird jüdisches Leben in Lübeck wenig wahrgenommen. Danach überschlägt sich die Aufmerksamkeit. Die Betroffenheit ist tief, das Mitleid groß, der Schrecken nah. Die Lokalpresse übersät ihre Seiten mit den Wörtern "Scham" und "Schande". Wie ein dicker Guss werden sie um das Synagogenfeuer gelegt, als könnte es damit nachträglich erstickt werden. "Lübeck ist erschüttert", "Lübeck trauert", "Wir alle schämen uns."

Nach dem Anschlag wird die Synagoge rund um die Uhr polizeilich bewacht. Fünf Jahre lang gibt es runde Tische und Gesprächskreise. Besonderes Engagement zeigen Schüler einer Gesamtschule - sie ist nach den Geschwistern Prenski benannt, Lübecker Kinder, die von den Nazis ermordet wurden. Die historischen Forschungsprojekte der Schüler führen schließlich zu einem kleinen Wunder. Jürgen Jaschek - er gehört zu der Handvoll Überlebender aus der Lübecker Altgemeinde - kommt 1997 aus seiner Heimat Amerika zu Besuch. Richard Yashek, wie er nun heißt, hat die Sprache seiner Kindheit nie wieder gesprochen. Seine Frau vermutet, er habe sie vergessen. Was der Schrecken getötet hat, erwecken die Schüler zu neuem Leben. Yashek wechselt im Gespräch mit ihnen von Englisch zu Deutsch.

Verlust und Hoffnung - in Kornblums jüdischer Gemeinschaft ist beides so nah, dass es sich gegenseitig auf die Füße tritt. Die Erben der Gründer, die Bewahrer der Gemeinde gibt es nicht mehr. Erschossen, in Riga vernichtet, in die Welt geflohen, der Vaterstadt abgeschworen, die geistige Lebensform, die Thomas Mann in Lübeck entdeckte, aus ihren Köpfen, ihren Herzen gerissen. Ausradiert wie ein misslungenes Bild. Nur zwei kommen zurück und liegen nun auf dem jüdischen Friedhof in Moisling.

Die Tragik der Geschichte mildern jene, die hier Neuanfang und religiöse Freiheit wollen. Kornblums Frau ist Russin, Kornblums Sekretärin ist Russin. Die Aushänge am Schwarzen Brett sind auf Russisch verfasst. Deutschkurse für Russen werden angeboten, universitäre Kurse, damit die in der Heimat erworbenen Qualifikationen als Arzt oder Rechtsanwalt in Deutschland anerkannt werden. "Einen Russenclub", nennt Kornblum seine Gemeinde. Um zu verhindern, dass sie am Ende nur das sei, bleibe er in Lübeck. "Irgendwann werden wir vielleicht das Leben in der Stadt ganz selbstverständlich mitprägen."

Ein Anspruch, wie ihn auch Benjamin Gruszka teilt, der in Lübeck als "Bolek" bekannt ist, eine multiple Persönlichkeit im positiven Sinne. Er wurde in Warschau geboren, lebte im Ghetto, sah den Abtransport seiner Eltern und fünf Geschwister, überlebte als Einziger aus der Familie, weil er als Totengräber arbeitete. Nach dem Krieg trieb es ihn nach Norddeutschland, er wurde Automatenaufsteller, Tretroller-Verleiher, eröffnete Lübecks erste Diskothek. Tausendsassa und Tänzer auf allen Hochzeiten, dessen Leben in Büchern beschrieben, sogar verfilmt wurde.

Ein wenig hat ihn das Interesse eitel gemacht, vielleicht hätte er mit der Biografie ganz groß rauskommen können, wenn ihm der Holocaust nicht so gegenwärtig wäre - wenn die tiefen Seufzer zwischen Gruszkas Sätzen nicht echt wären, aus der Atemnot eines tiefen Entsetzens geboren. Schwer trägt er an den schwarzen Brandflecken auf der Mauer, schwer trägt er an den Fotos jener Lübecker Juden, die ermordet wurden. Hier die Rabbiner, dort die Vorbeter, dort ein Bild der alten Synagoge im maurischen Stil mit großer Kuppel. Im Gebetsraum, von den Nazis für Theaterrequisiten genutzt, zeigt er auf alles, was nicht mehr ist. "Dort war..." beginnen seine Sätze, seine Gedanken und Arme strecken sich zu Dingen, die sein könnten, wenn die Geschichte anders gewesen wäre, die Arme sind noch in Bewegung, als ihm die Worte ausgehen. Der letzte Baum aus einem versunkenen Wald.

In der leeren Synagoge wedelt eine russische Putzfrau mit dem Staubtuch, aus der Küche riecht es nach frischen Krapfen, über einer Balustrade hängen die Kostüme eines Kindertheaterstücks, jemand hat Konfetti auf den Boden gestreut. "Viel gibt es nicht mehr zu erzählen", sagt Gruszka.

"Wir können nichts gegen die seelische Verwahrlosung tun", sagt die Lehrerin

Im Prozess gegen die Brandstifter vom März 1994 fiel die Theorie vom judenhassenden Rechtsradikalen in sich zusammen - dem unverfälschten Bösen hätte man sich mit heroischem Eifer und wortgewaltigen Kommentaren entgegen stemmen können. Die vier Figuren aber, die man einen Monat nach dem Brand als Täter verhaftete, waren so banal, dass sie verunsicherten. Es gab keinen Feind. Es gab nur vier verwahrloste, gescheiterte Jungen, die rechtsradikale Sprüche von sich gaben, aber für eine politische Einstellung zu dumm waren. Vier, die betrunken ihre Wut herausgelassen hatten, die vermutlich anderen galt. Ob sie vorsätzlich zum leichtesten, gegenwärtigsten aller Feindbilder gegriffen hatten, nicht einmal das konnte bewiesen werden. Nur einer der Täter wusste um die Bedeutung des Gebäudes in der St. Annen-Straße.

Der Verdacht, unter dem Deckmantel des Bürgerlichen sei das Verbrecherische gediehen, war von Lübeck genommen, die Rückkehr zum Alltag möglich. Die Chronologie der Stadt hielt jedoch weitere Tragik bereit. Ein Jahr später brannte ein Nebengebäude der Synagoge, die Suche nach dem Brandstifter blieb erfolglos. 1996 starben zehn Menschen, als in der Lübecker Hafenstraße ein Asylbewerberheim in Flammen aufging. Mutmaßliche Täter: Entweder vier junge Männer aus dem mecklenburgischen Grevesmühlen oder der Libanese Safwan Eid, selber Heimbewohner, aus dessen Mund ein Sanitäter die Worte gehört haben wollte: "Wir waren es." Obwohl einer der Mecklenburger ein Geständnis ablegte, wurde Eid angeklagt, dann mangels Beweisen freigesprochen. Täter und Opfer waren längst aus den öffentlichen Gesprächen verschwunden, nur die Ereignisse blieben wie hässliche Narben auf dem gediegenen Antlitz der Stadt.

Lübeck im März 2004 trägt die Lasten einer hohen Arbeitslosigkeit, des Niedergangs der Schwerindustrie, der Schließung der Werften, - die Betroffenen wohnen in Moisling, Kücknitz und Buntekuh.

Rechtsradikalismus als politische Einstellung, sagt Inge Eicke, Lehrerin an einer Schule in Buntekuh, sei kein Thema, Gewalt sehr wohl. Wer den Unterricht störe, werde in die "Insel" geschickt, einen Extraraum, in dem man sich wieder beruhigen könne. Und das Engagement der Eltern? Davon spürt die Lehrerin kaum etwas, viele Schüler würden vor der Schule nicht einmal ein Frühstück bekommen. "Wir können etwas gegen die Wut tun", sagt Inge Eicke, "nichts gegen die seelische Verwahrlosung. Und wir können nicht wissen, wozu die führen kann."

Montag, 29. März 2004

Starker Zulauf für die rechte Szene
Verfassungsschützer warnen vor Gewaltbereitschaft

Andreas Förster

BERLIN, 28. März. Die rechtsextremistische Szene in Deutschland wird immer größer und jünger. Nach Beobachtungen des Verfassungsschutzes hat vor allem die Skinhead-Szene unvermindert starken Zulauf von Jugendlichen. "Das Einstiegsalter in diesem Bereich geht immer mehr zurück", sagte ein hochrangiger Verfassungsschützer der Berliner Zeitung. "Waren bis Anfang der neunziger Jahre die in Deutschland aktiven Rechtsextremisten meist zwischen 20 und 30 Jahre alt, haben wir heute schon 13-Jährige, die sich den Skinheads anschließen. Diese Entwicklung erfüllt uns mit großer Sorge."

Hinzu komme, dass gewaltbereite Neonazigruppen aus dem Reservoir der eher subkulturell geprägten und nicht organisierten Skinheads zunehmend erfolgreich Mitglieder rekrutieren. Diese Entwicklung hat laut Verfassungsschutz dazu geführt, dass die Zahl der Neonazis im vergangenen Jahr wieder deutlich angestiegen ist. Zuvor hatte es seit 1996 - mit Ausnahme 2001 - einen Rückgang der Zahl der Neonazis gegeben.

Auch bei den Straftaten mit antisemitischem Hintergrund gab es 2003 wieder einen Anstieg. Insbesondere habe es mehr Schändungen von Friedhöfen und Gedenkstätten sowie antijüdische Schmierereien gegeben als im Vorjahr, stellt der Verfassungsschutz fest. Vermutungen, dass es sich bei den Tätern möglicherweise um in Deutschland lebende Palästinenser oder Islamisten gehandelt habe, hätten sich nicht bestätigt.

Keine Anzeichen sieht der Verfassungsschutz für eine Verbrüderung von Rechtsextremisten mit Islamisten. Zwar habe man ein gemeinsames Feindbild - die USA und Israel -, aber es gebe viel Trennendes, vor allem den auch gegen Araber gerichteten Rassismus. "Eine Kooperation mit Islamisten können wir daher ausschließen."

Keine terroristischen Strukturen

Nach wie vor hält der Geheimdienst auch an seiner Einschätzung fest, dass es keine terroristischen Strukturen in der rechten Szene gibt. Den Neonazi Martin Wiese, der mit Gesinnungsgenossen einen Anschlag bei der Grundsteinlegung eines jüdischen Kulturzentrums in München geplant haben soll, ordnet der Verfassungsschutz als Einzelfall ein. "Die Landesämter wie auch das Bundesamt haben die Aufklärungsbemühungen nach der Festnahme Wieses verstärkt, konnten aber nirgendwo in der rechten Szene Hinweise auf entsprechende Vorhaben oder eine gezielte Beschaffung von Waffen und Sprengstoff finden", sagte der Geheimdienstler. Vielmehr sei bei den Rechten sogar eine taktische Ablehnung der Aktion Wieses zu registrieren gewesen. "Nach wie vor bejaht die Szene den Einsatz von Gewalt bis zu einem bestimmten Grad. Mit terroristischen Attacken aber will man nichts zu tun haben, weil dies zu einer weiteren Isolation in der Gesellschaft führen und den Fahndungsdruck auf die eigenen Mitglieder erhöhen würde."

Eine große Gefahr sieht der Verfassungsschutz allerdings in den Gewalt verherrlichenden Strategiepapieren der Szene. Die meist auf amerikanischen oder britischen Quellen basierenden Texte rufen zum bewaffneten Kampf in kleinen, unabhängig voneinander agierenden Zellen auf. Davon könnten sich Einzeltäter oder kleine Gruppen wie im Fall Wiese inspiriert fühlen, fürchtet der Geheimdienst.

Montag, 29. März 2004

Das El-Kaida-Prinzip der Rechtsextremisten

Andreas Förster

BERLIN, 28. März. Richtig ernst genommen wurde der Neonazi Martin Wiese selbst von den linken Antifa-Aktivisten in Bayern lange Zeit nicht. Als "Tanzbär" und "dicker Watschenbaum" verspotteten sie den aus Anklam stammenden 27-jährigen Chef der rechtsextremen "Kameradschaft Süd - Aktionsbüro Süddeutschland".

Im vergangenen September aber sorgte der bullige Neonazi mit dem schlichten Gemüt bundesweit für Schlagzeilen. Mit mehreren Gesinnungsgenossen wurde Wiese festgenommen, weil er einen Sprengstoffanschlag auf die Feier zur Grundsteinlegung für ein jüdisches Kulturzentrum in München geplant haben soll. In den nächsten Tagen wird die Bundesanwaltschaft Anklage gegen die Wiese-Gruppe erheben. Der Vorwurf lautet auf Bildung einer terroristischen Vereinigung.

Mit der terroristischen Vereinigung ist nicht die "Kameradschaft Süd" gemeint, die laut bayerischem Verfassungsschutz rund 25 Mitglieder umfasst. Die Ermittlungen ergaben vielmehr, dass die Wiese-Gruppe eine kleine, unabhängig agierende und völlig abgeschottete Zelle innerhalb der Kameradschaft gewesen ist. Ihr Anschlagsvorhaben war weder außen Stehenden bekannt noch in der Szene abgesprochen worden. Die Ermittler sehen dann auch in Wieses Vorgehen ein Beispiel für die "Taktik des einsamen Wolfes", die seit einiger Zeit als Form des bewaffneten Kampfes durch rechte Internetforen wabert.

Diese Taktik basiert auf einem von dem amerikanischen Neonazi Louis Beam im Jahre 1992 entwickelten Strategiekonzept mit dem Namen "leaderless resistance" (auf deutsch: führerloser Widerstand). Die Strategie sieht selbstständig geplante Aktionen von autonom agierenden Widerstandszellen vor. Diese Zellen gruppieren sich um eine Ideologie und nicht um eine hierarchisch organisierte Führung - eine Strategie, die an Osama bin Ladens El-Kaida-Idee eines losen Netzwerks unabhängiger Terrorzellen erinnert.

Der Rechtsextremismus-Experte Thomas Grumke sieht in der "leaderless resistance"-Strategie eine Weiterentwicklung zu dem von deutschen Rechtsextremisten früher propagierten "Werwolfkonzept". "Während die sich im Untergrund befindlichen Werwolfkader einem Werwolfstab unterstehen, existiert beim führerlosen Widerstand keine solche Befehlsstruktur mehr", meint Grumke.

Auch die deutschen Sicherheitsbehörden sehen in der Strategie des US-Neonazis Beam eine große Gefahr. Ein "strukturell organisierter Terrorismus" sei mit V-Leuten und anderen Möglichkeiten der Informationsgewinnung leichter aufzuklären, meinen sie. Gegen die Aktivitäten von fanatischen Einzelpersonen oder autonomen Zellen aber, die sich am Konzept des "führerlosen Widerstands" orientieren, könne sich eine freie Gesellschaft kaum wappnen.

Montag, 29. März 2004

Von den Linken lernen.
Andreas Förster

BERLIN, 28. März. So richtig gut läuft der Verkauf des schwarzen T-Shirts noch nicht, aber der in der rechtsradikalen Szene fest verwurzelte Hatestore-Versand glaubt dennoch, die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. "Autonome Nationalisten" steht auf der Brustseite der Shirts, und hinten ist der Slogan aufgedruckt: "bald gibt es kein rechts oder links mehr! dann gibt es nur noch das system und seine feinde!" Das Shirt könne man doch bei der Demonstration am 1. Mai in Berlin tragen, empfiehlt Hatestore, wenn sich die "deutschen Nationalisten" im "nationalrevolutionären, schwarzen Block" gemeinsam mit den linken Autonomen der Polizei entgegenwerfen.

Tatsächlich wird seit einiger Zeit allen Ernstes in Teilen der rechten Szene über eine Annäherung an die radikale Linke nachgedacht. Das beobachtet der Verfassungsschutz. Wortführer in diesen Diskussionen ist der vor allem in Berlin, Hessen und Bayern organisierte "Kampfbund Deutscher Sozialisten" (KDS). Die 50 bis 60 Mitglieder, die zum Teil aus der linken Szene stammen, propagieren den gemeinsamen Kampf von Rechten und Linken gegen das "System" unter dem diffusen Leitbild eines "nationalen Sozialismus".

Intellektuelle Unterschiede

Nach Einschätzung des Verfassungsschutzes haben solche Annäherungsversuche wenig Aussicht auf Erfolg - sowohl bei den Rechten als auch bei den Linken stoßen entsprechende Überlegungen auf deutliche Ablehnung. Hinzu kommt, dass viele Rechtsradikale zwar insgeheim die Phantasie und Konsequenz bewundern, mit denen die linken Anarchos ihre Ziele durchsetzen; gleichwohl leiden sie darunter, ihnen intellektuell deutlich unterlegen zu sein.

Dennoch ist der Einfluss der Linken auf die Neonaziszene unübersehbar. Nach den Verboten bundesweit organisierter Parteien und Gruppen in den neunziger Jahren hat sich in der rechten Szene ein Strukturwandel vollzogen. Dabei haben sich die Rechtsradikalen erkennbar an den Erfahrungen des linksautonomen Spektrums orientiert. An die Stelle der aufgelösten überregionalen Organisationen traten lokale Neonazi-Kameradschaften, deren Führer in der Region einen mehr oder weniger losen Kontakt halten.

Anders als früher wird konsequent auf Hierarchien und Weisungslinien verzichtet, stattdessen strebt man eine informelle Zusammenarbeit an. Diese erreicht nach den Erkenntnissen der Verfassungsschützer aber längst nicht die Effizienz der früheren hierarchisch strukturierten Organisationen, was sich unter anderem an den geringen Teilnehmerzahlen bei vielen Neonazi-Aufmärschen erkennen lässt.

Das liegt vor allem daran, dass die Kameradschaften in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich gut aufgebaut sind. Insgesamt geht der Verfassungsschutz derzeit von rund 160 solcher Gruppen aus. Eine Reihe von ihnen hat sich in regionalen Aktionsbündnissen zusammengeschlossen. Bekannt sind dem Verfassungsschutz derzeit acht solcher Bündnisse, unter anderem in Süddeutschland, Hessen, Berlin-Brandenburg und im Norden der Bundesrepublik. Dort ist auch das am straffsten organisierte Bündnis angesiedelt, das "Nationale und Soziale Aktionsbündnis Norddeutschland". Es vereint Neonazi-Kameradschaften aus Hamburg, Schleswig-Holstein, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen.

Erneut Wehrsportübungen

Zum Aktionsbündnis Nord gehört auch eine der gewalttätigsten Neonazi-Gruppen Deutschlands, die "Kameradschaft Pinneberg". Vergangenes Jahr wurden mehrere Mitglieder der Gruppe festgenommen, gegen sie wird jetzt wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Die Gruppe bekannte sich zwar zu den Zielen der britischen Rechtsterroristen von "Combat 18"; dennoch haben die Pinneberger Neonazis nach Erkenntnissen der Ermittler eigene Anschläge nicht geplant. Die Gruppe versuchte vielmehr, mit Erpressung und Einsatz von Gewalt den rechtsradikalen Musik-Markt im Norden unter Kontrolle zu bekommen. Dazu hatten die Neonazis enge Verbindungen zum allgemeinkriminellen Milieu der Region aufgebaut.

Auch bei den anderen Neonazi-Gruppen in der Bundesrepublik geht der Verfassungsschutz von einer grundsätzlichen Gewaltbereitschaft aus. Auffällig ist aber, dass sich die Szene auch entgegen verbaler Ankündigungen mit organisierten Aktionen zurückhält. Von einer Entwarnung will der Verfassungsschutz jedoch nicht sprechen, im Gegenteil: Im letzten Jahr haben die Geheimdienstler erstmals wieder eine Reihe von Wehrsportübungen der Kameradschaften registrieren müssen.

Seit die Polizei in den neunziger Jahren gegen solche Trainingsaktionen massiv vorgegangen war, hatte sich die Zahl der Wehrsportübungen bis auf Null reduziert. Die jetzt neuerlich einsetzende Ausbildung deuten die Verfassungsschützer als Indikator einer wieder wachsenden Bereitschaft der Neonazis, gewalttätige Aktionen durchzuführen.

Montag, 29. März 2004

Lose Kontakte ins Ausland

Deutschen Geheimdiensten liegen keine Erkenntnisse über international vernetzte Neonazi-Gruppen vor, denen deutsche Rechtsextremisten angehören.

Es gibt aber Erkenntnisse über mehr oder weniger lose Kontakte zur rechten Szene in Dänemark und Schweden. Die Verbindungen nach Dänemark werden vor allem für die Produktion von rechtsradikaler Rockmusik genutzt. Über Schweden wird meist der Versand der illegal hergestellten CDs sichergestellt.

Einzelne Personen aus dem rechtsextremistischen Spektrum anderer Staaten reisen jedoch häufig nach Deutschland. Sie treten meist als Referenten bei Veranstaltungen auf.

Ahmed Rami, ein in Stockholm lebender Araber, ist einer von ihnen. Rami betreibt einen eigenen Radiosender in Stockholm. Der bekannte Antisemit und Rechtsextremist hält gelegentlich Vorträge in der Bundesrepublik.

Auch Ahmed Huber, ein zum Islam konvertierter Schweizer, ist ein gern gesehener Gast bei NPD-Treffen. Huber betreibt in der Schweiz mehrere Firmen und wickelt Finanzgeschäfte ab.

Der Hamburger Rechtsanwalt Jürgen Rieger ist ein weiteres Beispiel für Kontakte deutscher Rechter zu ausländischen Neonazis. Rieger, der auf einem Gut in Schweden lebt, unterstützt die dortige rechtsradikale Szene.

Montag, 29. März 2004

Rechtsextreme kooperieren stärker

Wien - "Organisatorisch sind sie voneinander noch unabhängig, aber die Zusammenarbeit zwischen den rechtsextremen Szenen in Deutschland und Österreich wird immer enger." Das sagte ein ungenannt bleiben wollender Experte des Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW). Das betreffe die Organisation von Veranstaltungen, Konzerten, Tagungen, aber auch die Mitarbeit bei Zeitschriften oder die Tätigkeit als Referenten bei Schulungen.

"Eindeutig eine Zunahme der Kontakte"

"Wir haben im Jahr 2003 eindeutig eine Zunahme der Kontakte in der Szene registriert. Und was wir in den ersten Monaten 2004 gesehen haben, geht es heuer auf zumindest gleichem Level weiter", so der DÖW-Mitarbeiter. Deutsche Unterstützung bekommen österreichische Rechtsextreme und Neonazis vor allem bei ihrer Planung von Aktivitäten in Österreich.

Reorganisation der Szene in Deutschland

Der DÖW-Vertreter: "Wir haben in Deutschland in den vergangenen Jahren eine Reorganisation der Szene weg von den Parteien zum Aufbau von Kameradschaften und eines nationalen Widerstandes erlebt. Dieses Konzept wollen österreichische Neonazis nun auch hier zu Lande durchziehen, wobei eine gewisse logistische Unterstützung durch die deutsche Szene zu beobachten ist."

Referenten aus Österreich bei ideologischen Schulungen gefragt

Das sei allerdings keine Einbahnstraße, betonte der Experte. Besonders für ideologische Schulungen seien prominente Vertreter aus Österreich immer wieder in Deutschland tätig. Unterstützung gab es beispielsweise bei der Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung im April 2002 auf dem Wiener Heldenplatz oder bei der Ausrichtung mehrerer Skinheadkonzerte in den vergangenen Jahren in Vorarlberg und in Oberösterreich oder so genannter Sportveranstaltungen ("Fußballturniere") in Salzburg.

Beispiele für deutsch-österreichische rechtsextreme Kontakte

In der jüngsten Vergangenheit gab es zahlreiche Beispiele für Kontakte von Rechtsextremisten aus Österreich und Deutschland. Nachfolgend einige Beispiele nach Angaben des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes (DÖW) aus der jüngsten Vergangenheit bzw. näheren Zukunft:

- Beim ersten Tag der Volkstreuen Jugend - vom Bund freier Jugend (BfJ) im Vorjahr in Oberösterreich veranstaltet - kamen auch Vertreter der Heimattreuen Deutschen Jugend. Heuer - am vergangenen Wochenende in Wels über die Bühne gegangen - sprach laut DÖW ein führender Aktivist der noch weiter rechts stehenden NPD-Konkurrenz-Organisation "Bewegung deutsche Volksgemeinschaft".

- Bei der Politischen Akademie der laut DÖW rechtsextremen "Arbeitsgemeinschaft für demokratische Politik (AFP)" trat im Oktober 2003 der stellvertretende NPD-Vorsitzende auf.

- Eine Vorfeldorganisation der Wiener AFP, der "Jugendkreis Hagen", hat Bezug zu Neonazis auch in Deutschland. So wird dem wegen Volksverhetzung in Deutschland verurteilten neonazistischen Liedermacher Frank R. auf der Homepage eine eigene Rubrik mit Solidaritätserklärung gewidmet.

- Für den 1. Mai gibt es einen Demo-Aufruf der NPD in Berlin. Auf der Unterstützerliste finden sich eine - anscheinend neu gegründete - Kameradschaft Vorarlberg und der Jugendkreis Hagen.

- Zum 2. Freiheitlichen Kongress, der vom eng mit der NPD verbundenen "Deutsche Stimme"-Verlag veranstaltet wird, sind mehrere Österreicher angekündigt: Der Ex-"Aula"-Schriftleiter Otto S., der als eine der Ideologie bestimmenden Gestalten in der deutschsprachigen Szene geltende Steirer Herbert S., der wiederholt bei internationalen Kongressen von Holocaust-Leugnern aufgetretene Gerhoch R. sowie der im Libanon lebende Österreicher Richard M., "Aula"-Autor und wiederholt Gast bei Veranstaltungen der AFP.