Presseschau Mai 2004
Die Presseschau ist ein Service des durch  entimon geförderten Projektes respectabel.de

Hier finden Sie eine Auswahl unserer Redaktion von Artikeln des täglichen Pressespiegels

Dienstag, 27. April 2004

Mit brandenburgischer Toleranz wider die Polenfeindlichkeit

Mobile Beratungsteams kämpfen in der östlichen Provinz seit Jahren gegen Rechtsextreme / EU-Erweiterung gibt neue Arbeitsfelder

Wolfram Hülsemann ist Leiter des "Mobilen Beratungsteams Tolerantes Brandenburg" (MBT). Der gelernte Pfarrer und seine 18 Mitarbeiter sind in Brandenburg für alle da, die Probleme mit Rechtsextremen haben oder sie befürchten. Jetzt will das Team helfen, Vorurteile gegenüber Polen abzubauen.

VON KARL-HEINZ BAUM

Berlin · 26. April · Das Mobile Beratungsteam bietet Hilfe zur Selbsthilfe, gibt Hinweise an Schulen, Gemeinden, Polizei, Feuerwehr, Verbände, Sportvereine, Unternehmen. Sie sollen lernen, sich gegen Rechtsextreme zu wehren. "Wir wollen, dass sich Menschen empören, dass sie das nicht hinnehmen. Wir wollen eine Demokratie mit Demokraten, wollen das Bekenntnis von unten zur Demokratieentwicklung schaffen." Die Menschen sollten begreifen: "Rechtsextreme gehen von der Ungleichheit der Menschen aus, Demokraten betonen Gleichwertigkeit und Würde des Menschen." Das Team will auch denen Wasser abgraben, die latentem Rechtsextremismus zuneigen.

Selten hält Hülsemann Vorträge. Dann spricht er über "Glatzen" und Leute mit Springerstiefeln; von meist schnieken Jünglingen mit glatt gekämmtem Haar, "Junge Nationaldemokraten" nennen sie sich und sind nicht mehr so einfach als Rechtsextreme zu erkennen wie in den 90er Jahren. Kommt dabei zum latenten Rechtsextremismus, zu Leuten, die unbewusst, dass sie rechtsextreme Gedanken befördern. Dann erzählt er von der 22-jährigen Studentin Barbara. Sie kauft sich an der Uni meist die taz. Einmal vergaß sie es und fragte beim Kiosk um die Ecke. "Nein, hab ich nicht", sagte der Händler. "Nehmen Sie die, die ist besser" - er schob ihr eine Zeitung zu, deren Titel sie nicht lesen konnte. Erst zu Hause merkte sie: sie hatte sich die National-Zeitung andrehen lassen.

"Feindliche Stimmungen"


Ob seine Arbeit erfolgreich ist, weiß Hülsemann nicht. Erfolg sei, wenn der Zeitungshändler nicht mehr unaufgefordert die National-Zeitung präsentiert. Messen lasse sich das kaum. Lob heimsten die Menschen vor Ort ein. "Unsere Beratung heißt auch, im Hintergrund zu bleiben." Immerhin überzeugt das Konzept: Berlin, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen übernahmen es. Bund und EU fördern Aktivitäten gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus.

Jetzt fragt sich das Team: Sind die Menschen an der Grenze auf die EU-Osterweiterung vorbereitet? Begreifen sie die Öffnung als Chance? Oder fürchten sie die Nachbarn als Belastung einer seit der Einheit überforderten Region? "Ängste, Unsicherheiten, auch feindliche Stimmungen sind in Teilen der Bevölkerung nicht zu übersehen." Die Gegend trägt mit der zur DDR-Zeit verordneten Freundschaft zu Polen ein schweres Erbe. Galt die Gewerkschaft Solidarnosc weltweit als Freiheitsbewegung gegen die kommunistische Diktatur, konnten DDR-Offizielle manchen einreden, "arbeitsscheue Kräfte" seien da am Werk. Die Propaganda nutzte gezielt NS-Vorurteile.

Deshalb hat "Tolerantes Brandenburg" ein neues Projekt aufgelegt: "Eurokomm: Angebote für die grenznahen Regionen Brandenburg-Polen". Der Bund (Programm Xenos) und die Landesregierung haben vier Leute bewilligt.

Ein aus Polen stammender Soziologe und Sozialtherapeut, eine Sozialpädagogin, eine Soziologin und Stadtplanerin und ein Ökonom, gebürtiger Pole, sitzen in Fürstenwalde östlich Berlins nahe der Grenze und bieten Hilfe zur Selbsthilfe gegen antipolnische Ressentiments.

Tolerantes Brandenburg
In Sommer 1998 beschloss die Landesregierung Brandenburg ein Handlungskonzept gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit: Das Programm "Tolerantes Brandenburg" erteilte jeder Form von Gewalt eine Absage.
Die Gesellschaft soll mobilisiert werden, etwa durch die Unterstützung des Aktionsbündnisses gegen Rechtsextremismus. Lokale demokratische Strukturen sollen unterstützt und pädagogische Fachkräfte im Umgang mit Gewalt und Rechtsextremismus qualifiziert werden. fra

Mittwoch, 28. April 2004

Häuserkampf in Teltow

In dem brandenburgischen Ort Teltow-Seehof wehren sich viele Bewohner gegen die Rückgabe ehemals »arisierten« Eigentums. von ralf fischer

Im sonst verschlafenen und beschaulichen Teltow-Seehof am Rande Berlins war am vorigen Samstag die Idylle getrübt. Rund 70 Antifas demonstrierten gegen die Vorgänge in dem Ort und sahen sich wüsten Beschimpfungen ausgesetzt. Einige junge, kurzhaarige Jugendliche brüllten der Demonstration entgegen: »Ihr Juden!« und »Ausländer raus!« Andere Dorfbewohner fragten: »Wer hat euch bezahlt?« Einem Mann missfiel die von Demonstranten gezeigte Israelfahne und er rief: »Aber ihr habt doch die Atombombe!«

Schon im Vorfeld der Demonstration waren die Gemüter in dem Ort äußerst erregt. Den PDS-Kreisverband Potsdam-Mittelmark empörte das Vorhaben der Antifas derart, dass er sich genötigt sah, die Organisatoren aufzufordern, »die beabsichtigte Demo abzusagen und sich bei den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern für die pauschale Verurteilung als Antisemiten zu entschuldigen«.

Worum geht es in Teltow-Seehof? Im Jahr 1872 kauften die jüdischen Brüder Albert und Max Sabersky das Gut Seehof. Mit der Übergabe der Macht an die Nationalsozialisten im Jahr 1933 war Schluss für die Saberskys. Angesichts von Verordnungen, die eine landwirtschaftliche Nutzung des Bodens durch Juden unmöglich machten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als das Land im Oktober 1933 zu parzellieren und unter Aufsicht als Bauland zu verkaufen. Der Verkauf und die spätere Sperrung der Konten der Saberskys geschahen im Rahmen der »Arisierungen«.

Nach dem Krieg sah sich auch die DDR nicht verpflichtet, den Opfern dieser »Arisierungen« ihr Eigentum zurückzugeben. 16 Millionen Antifaschisten hatten sich eben für nichts zu entschuldigen und erst recht niemanden zu entschädigen.

Als der Realsozialismus zusammenbrach, verlangten im Jahr 1991 die Erben der Saberskys die Rückübertragung der enteigneten Grundstücke. Seitdem dauert der Rechtsstreit an. Die Rückgabe wurde mehrmals abgelehnt, bis der Fall schließlich vor das Bundesverwaltungsgericht kam. Es nahm die gesetzliche Vorgabe, dass bei »Veräußerungen eines Vermögensgegenstandes in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945« von einem »verfolgungsbedingten Vermögensverlust« auszugehen sei, beim Wort und ordnete die Rückübertragung eines Grundstücks an.

Nach dem gleichen Muster wird nun wohl in den verbliebenen rund 700 Fällen in Teltow-Seehof entschieden. Einen von den Erben angebotenen Vergleich, den Anspruch auf die Grundstücke für einen Bruchteil des Wertes abzutreten, nahmen etwa 200 Teltower an, der Rest fühlt sich im Recht und hofft auf die deutsche Justiz.

Seit dem Rechtsstreit mit den Erben der Saberskys stilisieren sich einige Bürger zu Opfern eines unfassbaren Schicksalsschlages. Fast erinnert der Vorgang an die Ereignisse in dem Städtchen Gollwitz im Jahre 1997. In dem brandenburgischen Ort wehrte sich damals die Dorfgemeinschaft gegen den Zuzug jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion und fühlte sich von den Medien ungerecht behandelt.

Die Märkische Allgemeine Zeitung dokumentiert seit einiger Zeit das Unbehagen der Parzellenkämpfer ostdeutscher Prägung in Teltow-Seehof. So würden viele Dorfbewohner beklagen, dass die »Keule Antisemitismus« ausgepackt werde. Teltow-Seehof jedenfalls könne »nicht mehr ruhig schlafen«, sagte ein Dorfbewohner der Zeitung, überhaupt ergäben sich da gewisse Parallelen zu anderen, aktuellen Untaten der Juden. »Was die in Israel mit den Palästinensern machen, machen sie hier mit uns«, zitierte die Berliner Morgenpost einen Dorfbewohner.

Traudel Herrmann, die gleichzeitig Vorsitzende der Bürgerinitiative der vertreibungsbedrohten Hausbesitzer und PDS-Mitglied ist, präsentierte schon vor Jahren bereitwillig, was sie »als Kommunistin« zu dem Sachverhalt zu sagen hat: »Die Saberskys waren Schmarotzer, weil sie Grund und Boden zu Spottpreisen aufkauften und später teuer weiterverkauften.« (konkret, 8/98)

Thomas Schmid (SPD), der Bürgermeister des Ortes, sah in der Demonstration vom Wochenende »eine einzige Provokation« und sann darüber nach, ob es nicht möglich sei, rechtlich gegen die Organisatoren der Demonstration vorzugehen, weil Teile der Bevölkerung Seehofs von den Antifas als antisemitisch bezeichnet worden seien. Die PDS Potsdam-Mittelmark warf den Antifas in der oben erwähnten Erklärung vor: »In völliger Verkennung der historischen und gesetzgeberischen Tatsachen macht sich die Antifa-Bewegung jetzt zum Handlanger einer bundesdeutschen Politik, die dieses neue Unrecht verursacht hat.« Mit Unrecht ist hier allerdings nicht die »Arisierung« jüdischen Eigentums gemeint, sondern das nach der Wiedervereinigung geltende Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung«.

Die Mehrheit in Teltow-Seehof, unabhängig von parteipolitischen Einstellungen, steht dem Versuch entgegen, wenigstens einen Teil des Unrechts »wiedergutzumachen«. Die Stadtverordnetenversammlung rief die Seehofer in der vorigen Woche auf, »sich von selbst ernannten Demonstranten gegen Antisemitismus nicht provozieren zu lassen«. Die Stadtverordneten würden weiterhin versuchen, verträgliche Lösungen für alle Beteiligten zu finden. Das Vorgehen der Antifas sei »frei von jeder Sachkenntnis und ersichtlich auf Diskriminierung und Krawall ausgelegt«, sagte der Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung, Rolf-Dieter Bornschein.

Zum Krawall kam es am Samstag jedoch nicht, wohl auch dank der Polizei, die die Demonstranten und die aufgebrachten Bürger vorsorglich voneinander entfernt hielt. Christina DeClerq von der Antifa Nordost, die die Demonstration organisiert hatte, sagte, die Reaktion der Bevölkerung habe gezeigt, wie »wie wichtig und richtig« es gewesen sei, in Teltow-Seehof zu demonstrieren. Nach der Demonstration kehrte schnell wieder Ruhe ein in dem Ort, der irgendwie so ist wie viele andere in diesem Land.

 

 

Donnerstag, 29. April 2004

Die Armut der Anständigen

Der viel proklamierte Aufstand gegen rechts droht in Ostdeutschland an mangelnder Finanzsicherheit der Projektbetreiber zu scheitern

VON PITT VON BEBENBURG

Einer muss den Neonazis die Stirn bieten. Wenn es das "Civitas"-Programm der Bundesregierung nicht gäbe, wäre das noch schwieriger. Zum Beispiel in Weimar. Dreist treten die Rechtsextremen in der thüringischen Kulturstadt auf, haben für fast jedes Wochenende in diesem Jahr Aufmärsche angemeldet. Wenn sich die "BürgerInnen gegen Rechts" treffen, versammeln sich gerne mal Dutzende Neonazis vor der Tür, Kinder in Bomberjacken inklusive.

Fritz Burschel ermutigt sie. Er meldet Demonstrationen an, bereitet Aktionstage vor, stellt Kontakte zu anderen Bündnissen her. Und mehr als das. Er klärt in Schulen auf über Nazisymbole und in Radiodiskussionen. Was Burschel betreibt, nennt sich "Netzwerkstelle", in seinem Fall angesiedelt beim Weimarer Lokalradio "Lotte in Weimar". Bezahlt wird Burschels Arbeit zum größten Teil aus dem Bundesprogramm "Civitas", das es seit 2001 gibt. Es soll rechtsextreme Unkultur in Ostdeutschland bekämpfen und demokratische Kultur befördern. Es ist, sagen Bielefelder Sozialforscher, "das zurzeit wohl ambitionierteste Großexperiment zur Förderung der Zivilgesellschaft". DiePolitologen und Soziologen erforschen im Auftrag des Familienministeriums, ob "Civitas" wirkt. Jetzt haben sie ihren Bericht vorgelegt. Das Ergebnis fällt verhalten aus: Im Ansatz sei die Sache gelungen - aber solange die Finanzierung nicht längerfristig gesichert sei und Projekte Jahr für Jahr um ihre Existenz kämpfen müssten, verpuffe vieles. Dabei sei die Lage in Ostdeutschland dramatisch, wo angesichts von fremdenfeindlichen Attitüden und rechtsextremer Gewalt eine "beunruhigende Normalität" vorherrsche.

Angriffe aus der Union

Der Bericht der Bielefelder Sozialwissenschaftler Heinz Lynen von Berg, Kerstin Palloks und Johannes Vossen ist politisch brisant. Denn "Civitas" und die anderen Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus, "Entimon" (für das ganze Bundesgebiet) und "Xenos" (für Projekte mit Bezug zum Arbeitsmarkt), werden aus der Union angegriffen, seit sie Anfang 2001 von Rot-Grün als Konsequenz aus dem "Aufstand der Anständigen" aufgelegt wurden.

Die Bielefelder Forscher machen deutlich, dass längerfristiges Planen für die geförderten Initiativen mit einer Mittelvergabe à la "Civitas" unmöglich ist. Die "zeitintensiven administrativen Anforderungen", der nur "einjährige Projektzyklus" und dann auch noch die "stark verzögerte Mittelanweisung" - das alles habe sich "ungünstig auf Motivation und Arbeitsbedingungen" der Mitarbeiter ausgewirkt, bemängeln die Wissenschaftler. Basierten die Projekte von "Civitas" doch auf Vertrauen, Konstanz und personeller Kontinuität. Es geht zum Beispiel um Opferberatungsstellen, die zusammengeschlagenen Asylbewerbern oder nicht-rechten Jugendlichen Hilfe anbieten. Doch statt ihre Arbeit machen zu können, betteln viele von ihnen derzeit bei Ländern und Kommunen um Geld, weil die Mittel von "Civitas" gekürzt werden.

Nach ursprünglich zehn Millionen stehen in diesem Jahr noch neun Millionen für "Civitas"-Projekte zur Verfügung, in den nächsten beiden Jahren werden es je fünf Millionen sein. "Modellprojekte" sollen es sein, die später auf eigenen Beinen stehen. Doch woher das Geld kommen soll, ist ungeklärt. So ist zu befürchten, dass viel versprechende Ansätze verschwinden. Einige Sozialdemokraten und Grüne bemühen sich um eine langfristige Lösung. Ihre Idee: eine Bundesstiftung könnte "Civitas" sichern.

Die wissenschaftlichen Begleiter machen deutlich, wie notwendig der Aufbau von Zivilgesellschaft vielerorts ist - und wie schwierig. Arbeitslosigkeit, Abwanderung und Depression prägen ganze Regionen in Ostdeutschland. Auch weil die reguläre Jugendarbeit wegbricht, steht statt Kampf gegen Rechtsextremismus soziale Beratung auf dem Programm der Projekte. Für "Civitas" gibt es laut der Studie in Ostdeutschland noch reichlich zu tun. Es müssten noch mehr Erwachsene in Funktionen mit Vorbildcharakter einbezogen werden - Eltern und Erzieher, Fußballtrainer oder Aktivisten der Feuerwehrvereine. Stärker zu berücksichtigen seien Hauptschüler.

Die Studie liefert genug Stoff für eine erneute Debatte über die Zukunft von "Civitas" - wie schon vor einem Jahr, als eine erste Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung bekannt wurde. Damals hatten CDU-Politiker die Chance wahrgenommen, gegen die Programme zu wettern. Zu Wort meldete sich auch ein Christdemokrat aus Fulda. Der Bundestagsabgeordnete klagte, "Civitas" und "Entimon" seien "von einem ganz bestimmten Blickwinkel" geprägt. Er wünsche sich, in gleicher Weise auch "gegen links" vorzugehen. Der Mann darf inzwischen nicht mehr für die Unionsfraktion sprechen. Nach antisemitischen Äußerungen ist er ausgeschlossen worden. Er heißt Martin Hohmann.

Montag, 3. Mai 2004

Zivilgesellschaft muss gestaltet werden

Von den Mühen, in Ostdeutschland den Rechtsextremismus zu bekämpfen / Von Heinz Lynen von Berg, Kerstin Palloks und Johannes Vossen

Sozialwissenschaftler vom Bielefelder Institut für interdisziplinäre Gewalt- und Konfliktforschung haben in einer Studie im Auftrag der Bundesregierung analysiert, wie staatliche Programme gegen Rechtsextremismus wirken. Untersucht haben sie das Bundesprogramm "Civitas", das rechte Unkultur in Ostdeutschland bekämpfen soll.

(. . .) Dieser Bericht enthält die Ergebnisse der im Laufe des Jahres 2003 durchgeführten quantitativen und der qualitativen Erhebungen des Forschungsteams zur wissenschaftlichen Begleitung des Civitas-Programms. (. . .)

Der zivilgesellschaftliche Rahmen

(. . .) Das Civitas-Programm möchte dazu beitragen, "zivilgesellschaftliche Strukturen im Gemeinwesen in den neuen Bundesländern aufzubauen, zu stärken, zu vernetzen und modellhaft weiterzuentwickeln" (Civitas-Leitlinien 2003). Dies ist umso wichtiger, weil von stützenden Strukturen für eine Zivilgesellschaft in den neuen Bundesländern noch nicht flächendeckend ausgegangen werden kann. Zum Beispiel fehlen weiterhin bestimmte staatliche Regelstrukturen (etwa ein flächendeckendes Netz von Ausländerbeauftragten) bzw. werden zurzeit wieder reduziert (z. B. im Bereich der Jugendarbeit).

Zivilgesellschaft benötigt aber nicht nur stützende Strukturen jenseits von Markt und Staat. Wesentlich ist, ob es gelingt, zentrale Postulate einer politischen Kultur gesellschaftlich zu verankern. So ist fraglich, ob die Marktmechanismen einer rabiaten Konkurrenz und ihre Auswirkung auf die sozialen Lebensumstände noch hinreichend Anerkennungspotenziale bereithalten, damit Menschen nicht andere abwerten, gewissermaßen Fremdenfeindlichkeit ein Mittel zur Selbstaufwertung wird.

Es ist auch offen, ob staatliche Institutionen hinreichend in der Lage sind, die Opfer solcher Attitüden oder Verhaltensweisen gewissermaßen im gesellschaftlichen Alltag "vor Ort" zu schützen und Hilfen zur Integration bereitzustellen. Es geht um nichts weniger als die Schaffung einer "demokratischen Atmosphäre", also einer "politischen Kultur", in der Selbstverständlichkeiten und Normalitätsstandards vorherrschen, die wenigstens zwei Kernelemente unserer Verfassung sichern: die Gleichwertigkeit von Menschen und ihre physische und psychische Unversehrtheit.

Es wäre verkürzend, wenn ein "zivilgesellschaftliches" Programm nur gegen die Gleichwertigkeit und Unversehrtheit verletzende oder gar zerstörende Fremdenfeindlichkeit und entsprechende Varianten von Rechtsextremismus ausgerichtet wäre; es muss sich zugleich für den Aufbau von Normalitätsstandards zivilen Zusammenlebens in einer "demokratischen Atmosphäre" einsetzen.

Nicht nur stützende Strukturen und eine demokratische politische Kultur sind Voraussetzungen für eine funktionierende Zivilgesellschaft. Mindestens ebenso wichtig sind grundlegende Wertorientierungen zur Regulierung von (gesellschaftlichen) Konflikten und Angelegenheiten, die unverzichtbare Vorbedingungen für die Verankerung einer Zivilgesellschaft darstellen. Konflikte sollten sowohl in größeren Kollektiven als auch zwischen Personen gewaltfrei ausgetragen werden.

Verhandlungsprozesse und deliberative Formen der Behandlung von Themen und Interessen mit dem Ziel vernünftiger und sachorientierter Lösungen wären dabei ein anzustrebender Idealzustand. Dieser setzt einerseits ein hohes Maß an Selbstreflexivität und gegenseitigem Respekt voraus und gründet sich andererseits auf Lernprozesse, die solche Orientierungen freisetzen bzw. notwendig machen.

Des weiteren sind hohe kommunikative Kompetenzen bzw. deren Entwicklung konstitutiv für zivilgesellschaftliche Aushandlungsprozesse. (. . .)

Die Interventionspraxis gegen fremdenfeindliche Mentalitäten und rechtsextreme Aktivitäten ist immer im Kontext zweier Entwicklungslinien zu betrachten. Diese Interventionspraxis wird umso schwieriger, je komplexer und widersprüchlicher die rechtsextremen Entwicklungen einerseits und die gesellschaftlichen Reaktionen andererseits ausfallen. Es sind nicht nur die manifesten rechtsextremen Aktivitäten, die fremdenfeindlichen Attitüden und demokratiefeindlichen Haltungen, sondern auch das Problem eines sich abschirmenden "Normalitätspanzers" zu beachten.

Damit ist das Selbstbild einer "gesunden Normalität" gemeint, die sich gegen alles Andersartige oder Fremde abschirmen will. Ein derartiger "Normalitätspanzer" kann auch dazu führen, dass fremdenfeindliche Attitüden und rechtsextreme Gewalt sich um so eher ausbreiten können, je unspektakulärer dies geschieht, zumal wenn dies von der Öffentlichkeit weitgehend lakonisch ignoriert wird. Insofern muss von einer beunruhigenden Normalität gesprochen werden, die den Hintergrund der Interventionspraxis der Civitas-Projekte bildet. (. . .)

Die Entstehung einer Zivilgesellschaft kann nicht erzwungen werden, auch ist realistisch nicht zu erwarten, dass ein derartiges Programm im Laufe weniger Jahre strukturelle Defizite beheben oder politische Einstellungen flächendeckend verändern kann. Das Problem wird sich auch nicht von selbst erledigen, sondern bedarf einer kontinuierlichen Aufmerksamkeit und Bearbeitung. Ralf Dahrendorf hat mit Blick auf die Transformation der realsozialistischen Gesellschaften Osteuropas in Demokratien festgestellt, der Aufbau einer Zivilgesellschaft dauere 60 Jahre. Von daher ist vor zu hohen Erwartungen und einer Überforderung, im Übrigen auch einer Selbstüberforderung der Projekte, zu warnen.


Das Civitas-Programm ist das zurzeit wohl ambitionierteste Großexperiment zur Förderung der Zivilgesellschaft. Daher lohnt ein Blick auf das Erreichte, und der vorliegende Bericht gibt einen empirisch gesättigten, detaillierten Einblick in die Projektpraxis sowie die Chancen und Risiken dieses Vorhabens. (. . .)

Überblick über das Gesamtergebnis

Bürgerschaftliches Engagement setzt zivilgesellschaftliche Strukturen und funktionierende staatliche Institutionen voraus. Darum ist es eine wichtige Bedingung für die Förderung einer Zivilgesellschaft, dass deutungsmächtige und einflussreiche Akteursgruppen und Institutionen wie Kirchen, Verbände, Vereinigungen, kulturelle Einrichtungen, Bildungsträger sowie Vereine, selbstorganisierte Zusammenschlüsse und Interessengruppen die institutionellen Voraussetzungen und Räume für bürgerschaftliches Engagement schaffen. Die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Potenziale ist aber vor dem Hintergrund kulminierender Problemlagen zu sehen:

• Auf Grund gravierender Desintegrationserscheinungen (hohe Arbeitslosigkeit, Abwanderung etc.) und einer weit verbreiteten Distanz zu den Institutionen des politischen Systems sind diese Voraussetzungen in den neuen Bundesländern nur bedingt gegeben.

• Die Auseinandersetzung mit dem Thema Rechtsextremismus wird von Teilen der Bevölkerung und einem Teil der zivilgesellschaftlichen Institutionen als "Luxus" betrachtet, obwohl insbesondere in den ländlichen Gebieten die fremdenfeindlichen Mentalitäten ein relevanter Bestandteil der politischen Kultur sind und Eingang in die Normalitätsvorstellungen von erheblichen Bevölkerungsanteilen gefunden haben.

Ansätze und Zielgruppen

Auf diese komplexe Gemengelage muss das Civitas-Programm mit seiner Förderstrategie reagieren. Den Anspruch, Zivilgesellschaft in ihrer Breite zu entwickeln, kann das Programm nur begrenzt verwirklichen. Dafür lassen sich folgende Gründe feststellen:

• Die vielschichtigen und gravierenden strukturellen Problemlagen setzen dem hohen Anspruch, auf Dauer gestellte Formen zivilgesellschaftlicher Auseinandersetzung entwickeln zu wollen, deutliche Grenzen.

• Da ein Schwerpunkt in der Förderung von Projekten im Jugend- und Initiativenbereich liegt, werden die notwendigen, einflussreichen und deutungsmächtigen Gruppen und Institutionen noch nicht zur Genüge erreicht, so dass wesentliche Impulse zur Verbreiterung und Festigung der Zivilgesellschaft in den neuen Bundesländern noch nicht ausreichend einbezogen sind. (. . .)

Die Arbeit der Strukturprojekte

In der Projektpraxis konnten über die drei Förderschwerpunkte (Mobile Beratungsteams, Opferberatungsstellen und Netzwerkstellen) hinweg zwei grundlegende Ansätze herausgearbeitet werden.

a) Offener moderierender Ansatz: Dieser Ansatz ist am ehesten geeignet, die Ressourcen und Kompetenzen für nachhaltiges zivilgesellschaftliches Engagement effektiv nutzbar zu machen. Die zu diesem Ansatz gehörenden Voraussetzungen sind:

• ein selbstreflexives Rollenverständnis,

• Empathie- und Distanzierungsfähigkeit,

• die Fähigkeit, mit einer angemessenen Gesprächskultur auf die Anliegen der Akteure vor Ort einzugehen,

• die Fähigkeit, mit Differenzen und anderen Auffassungen integrativ umzugehen,

• die Fähigkeit, Konflikte konstruktiv zu moderieren. In diesem Feld sind noch intensive Fortbildungsanstrengungen anzustreben, um die Kompetenzen der Mitarbeiter/innen zu verbessern. Hier wäre besonders auf die Ausbildung von Moderations-, Mediations- und Beratungstechniken zu achten.

b) Ansatz der Gegnerschaft zum Rechtsextremismus: Konfrontative Vorgehensweisen können in Einzelfällen sinnvoll sein, sind jedoch generell weniger geeignet, ein breites Zielgruppenspektrum zu erreichen. Dafür lassen sich folgende Gründe aufzeigen:

• Die Verdrängung des Rechtsextremismus hat nicht automatisch eine Ausweitung und Stärkung der Zivilgesellschaft zur Folge.

• Ansätze, die sich thematisch auf die Gegnerschaft zum Rechtsextremismus beschränken, können durch Solidarisierung zwar bereits engagierte Akteursgruppen stärken, halten jedoch für den weiteren Kreis potenzieller Akteure kaum Mobilisierungsreserven bereit.

• Moralkommunikation und politische Grundsatzhaltungen erschweren die Ansprache und Integration reservierter Akteursgruppen und können sogar "abschreckend" wirken.

Moderates Vorgehen, konstruktive, auf verschiedene Zielgruppen zugeschnittene "Angebote" sowie das Bereitstellen von Ressourcen als Voraussetzung für Engagement sind von der Anlage her besser geeignet, die für den Aufbau einer Zivilgesellschaft relevanten Akteursgruppen und Initiativen zu erreichen. Der offene moderierende Ansatz ist daher als Modell zur Orientierung für eine Professionalisierung der langfristig geförderten Strukturprojekte zu betrachten.

Förderpraxis

Um den hoch gesteckten Zielen und vielseitigen Anforderungen gerecht zu werden, sollte in der Förderpraxis gezielt operativ und gleichzeitig flexibel vorgegangen werden.

• Die Strukturprojekte benötigen die Planungssicherheit eines mehrjährigen Projektzyklus als eine wesentliche Voraussetzung, um eine auf Verlässlichkeit basierende und auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Arbeit mit den Akteuren vor Ort durchführen zu können. (. . .)

• Durch kontinuierliche fachliche Beratung, Selbstevaluation bzw. formative Evaluation vor Ort sollten die Umsetzungspraxen der Strukturprojekte reflexiv begleitet werden, um dadurch die Qualität der Projektarbeit zu optimieren.


• Von Auftrag und Vorgehen der Strukturprojekte zu unterscheiden ist der Ansatz von engagierten Initiativen, die als Akteure auch mit konfrontativen Methoden eine Auseinandersetzung in den Gemeinwesen forcieren können. Darum wäre die Förderstrategie weiterzuentwickeln, die zwischen fachspezifischer Bearbeitung und der Förderung von politischem Engagement unterscheidet. Aufeinander abgestimmte Interventionsnetzwerke, bestehend aus Strukturprojekten sowie um diese gruppierten Kleinprojekten, können den gemeinwesenorientierten, generationsübergreifenden Anspruch des Programms einlösen.

• Gerade um die für die Entwicklung von Zivilgesellschaft wichtigen kleinen Träger zu stärken, müssen für diese niedrigschwellige Antrags- und Abrechnungsmodalitäten bestehen bleiben bzw. geschaffen werden. (. . .)

• Weiterhin ermöglicht eine flexible und an Einzelfällen orientierte Förderungspraxis, das Reagieren auf lokal notwendige Interventionsbedarfe auch mit Formaten und Laufzeiten, die in der breiten Förderung des Civitas-Programms nicht mehr favorisiert werden (z. B. interkulturelle Ansätze in Grenzgebieten zu Osteuropa; Event-Projekte, wenn Partizipation verschiedener Akteursgruppen anvisiert wird).

Resümierend lässt sich festhalten, dass es durch die geförderten Strukturprojekte gelungen ist, verschiedene Ansätze zu Formen einer demokratischen Auseinandersetzung mit dem komplexen Problemzusammenhang von fremdenfeindlichen Mentalitäten und rechtsextremen Erscheinungen zu entwickeln und zu erproben. Auch wenn die "Erträge" von unterschiedlicher Qualität sind, entsprechen sie durch ihren Innovationscharakter dem formulierten Modellanspruch des Programms. Darüber hinaus ist es einem Teil der Strukturprojekte bereits gelungen, sich als fachkompetente Ansprechpartner und wichtige Multiplikatoren in ihren jeweiligen regionalen bzw. lokalen Kontexten zu etablieren. Vor dem Hintergrund der schwierigen Rahmenbedingungen sollte dies als weiterer beachtenswerter Erfolg von Programm und Projektarbeit (. . .) gewürdigt werden.

Die Programme
Nach Ausrufen des "Aufstands der Anständigen" 2000 hatte die Bundes- regierung 2001 mehrere Programme aufgelegt, um den Kampf gegen den Rechtsextremismus zu unterstützen. "Xenos" unterstützt Projekte mit Bezug zur Arbeitswelt, "Entimon" gibt vielen kleinen Initiativen Geld und hat einen Schwerpunkt im interreligiösen Dialog. Das dritte Programm, "Civitas", zielt auf Ostdeutschland. Dort werden vor allem Opferberatungsstellen, Netz- werkstellen und Mobile Beratungsteams gefördert. Von Anfang an wurden die Programme auch wissenschaftlich begleitet, um die Erfolge abschätzen und Fehlentwicklungen begegnen zu können. pit

Die Autoren
Dr. Heinz Lynen von Berg ist seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld und dort Projektleiter der Begleitforschung des Civitas-Programms. Von 1999 bis 2002 war er Geschäftsführer von "Miteinander-Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt e.V.". Kerstin Palloks ist seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin am IKG. Nach ihrem Studium der Sozial- und Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin arbeitete sie in Forschungsprojekten zur Biografieforschung, zur Erforschung von Armut bei Kindern und Jugendlichen und zur Evaluation von Projekten zur Gewaltprävention an Schulen mit. Johannes Vossen arbeitet am Berliner Institut für Geschichte der Medizin für das DFG-Projekt "Wissenschaftlicher Anspruch und staatliches Interesse. Die Hochschulmedizin an der Charité im Wechsel politischer Systeme 1933 und 1945". Bis 2002 war er Geschäftsführer des IKG, 2002 bis November 2003 Projektkoordinator der Civitas-Forschung. Der komplette Bericht, der hier in von der FR ausgewählten Auszügen dokumentiert wird, ist im Internet zu finden unter: www.uni-bielefeld.de/ikg. ber

Dienstag, 4. Mai 2004

Etwa 250 Belziger gedachten im Grünen Grund der Opfer des Faschismus
Eindrucksvolles Bekenntnis

FRED HASSELMANN

BELZIG - Es wurden immer mehr: Menschen mit einer Nelke in der Hand, uniformierte Feuerwehrmänner mit einem Blumengebinde, Politiker in Schlips und Kragen, Jugendliche mit Adidas-Turnschuhen, Vertreter von Parteien und Organisationen, Pfarrer, Rentner auch Kinder. Diese schauten zunächst einem kleinen Frosch zu, um dann aber aufmerksam zuzuhören, was Bürgermeister Peter Kiep (SPD) und Stadtverordnetenvorsteher Dietmar Hummel (FDP) den mehr als 250 Belziger Bürgern an diesem 3. Mai, einem denkwürdigen Tag in der Belziger Geschichte, zu sagen hatten. Auch ein Fernsehteam des RBB war gekommen, um über die Gedenkveranstaltung im Grünen Grund zu berichten.

Vor 59 Jahren öffneten sich an dieser Stelle für die Häftlinge des Zwangsarbeiterlagers Roederhof die Tore zur Freiheit. Wie für alle Belziger hatte an diesem Tag der sinnlose Krieg für sie ein Ende. Dank der kampflosen Übergabe der Stadt an die Rote Armee.

Der Appell des Liberalen Hummel, den wieder auftauchenden rechten Rattenfängern nie wieder auf den Leim zu gehen, stieß auf ungeteilte Zustimmung. "Wehret den Anfängen. Der Schoß ist fruchtbar noch", rief er den Teilnehmern der eindrucksvollen Gedenkveranstaltung zu. Schon lange hatte Belzig nicht so viele Menschen auf einer politischen Veranstaltung seit der Wendezeit gesehen.

Auch wenn es manchem Bürger noch zu wenig erschien, Professor Götz Dieckmann konnte als Koordinator gegen Gewalt und Rechtsextremismus Listen mit insgesamt 576 Unterschriften überreichen, die von Mitgliedern des Belziger Forums kürzlich gesammelt worden waren. Unterschriften, mit denen der Aufruf aller Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung unterstützt wurde, in dem die Belziger zum aktiven Bekenntnis gegen die jüngsten rechtsgerichteten Aufmärsche und Aktivitäten der Neonazi-Szene aufgefordert worden waren.

Donnerstag, 6. Mai 2004

Rechte Brandstifter stehen vor Gericht

Vier junge Leute sind auch wegen versuchten Mordes angeklagt

Von Claus-Dieter Steyer

Neuruppin. Sie ist die jüngste der vier Angeklagten im Landgericht Neuruppin – und das einzige Mädchen. Doch nur die 17-jährige Christiane B. aus Pritzwalk hat den Mut, über die Geschehnisse in der Nacht vom 6. auf den 7. November vergangenen Jahres in ihrer Heimatstadt zu sprechen. Damals ging ein Asia-Imbiss-Wagen in Flammen auf. Ein weiterer Brandanschlag auf einen Döner-Imbiss schlug fehl. Doch die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten nicht nur zweifache schwere Brandstiftung aus ausländerfeindlichen Motiven vor, sondern auch versuchten Mord. Denn sie hätten zumindest billigend in Kauf genommen, dass sich in der Wohnung über dem Döner-Imbiss möglicherweise Menschen aufhalten.

Die damaligen Begleiter des Mädchens schwiegen zum gestrigen Prozessauftakt. Nicht einmal zu ihrem Lebenslauf wollten die Männer im Alter von 19 bis 25 Jahren Auskunft geben. Sie blickten deshalb recht mürrisch auf die Aussagen ihrer Freundin mit den gefärbten schwarzen und durch einen strengen Scheitel auf der Kopfmitte getrennten Haaren, der tätowierten linken Hand und einem roten Pullover. Diese fühlte sich von Minute zu Minute mehr und mehr eingeschüchtert. Unter Tränen gab die Angeklagte deshalb schließlich nur Bruchstücke über den Tatablauf bekannt. „Ich kann mich nicht mehr erinnern“ oder „Ich weiß nichts mehr“, lauteten die Standardformeln während der Befragung. Offensichtlich wollte das Mädchen, das die Schule schon nach der 8. Klasse verließ, keinen Kumpel belasten. Fast hilflos blickte sie laufend zu ihrer auf den Besucherbänken des Gerichtssaals sitzenden Mutter.

Sie gab zu, sich am Abend des 6. November den drei männlichen Angeklagten zu einer Autofahrt angeschlossen zu haben. „Wir fuhren zu einer Tankstelle. Einer holte in einer Saftflasche Benzin, mit dem wir den Asia-Imbiss anzünden wollten“, sagte Christiane B. Auf viele Nachfragen räumte sie schließlich ein, selbst das Benzin verteilt zu haben, weil sich ein anderer aus dem Quartett zu dusselig dabei angestellt habe. Der Imbiss-Wagen brannte völlig aus, am dahinter befindlichen Supermarkt entstand ein Sachschaden von 25 000 Euro. Danach seien sie zum Döner-Imbiss gefahren. „Weil sich in der Flasche noch ein bisschen Benzin befand“, erzählte das Mädchen. Dieses wurde auf dem Sockel der Schaufensterscheibe verteilt und angezündet. Ohne äußeres Eingreifen verloschen die Flammen jedoch nahezu sofort. Der Sachschaden fiel zwar gering aus, doch in der Wohnung über dem Imbiss hielt sich zur Tatzeit der Inhaber auf. Nach den Taten fuhren die Angeklagten in eine Pritzwalker Wohnung, wo sie anderen Personen von ihren Taten berichteten. „Sie brüllten „Sieg heil“ und „Scheiß Kanackenpack“, wie Anwohner der Polizei bestätigten.

Einer der Angeklagten saß erst vor knapp zwei Monaten letztmalig auf der Anklagebank des Landgerichts. Der 25-jährige Thomas W. erhielt damals eine mehrjährige Haftstrafe wegen seiner Beteiligung an einer Gewaltorgie gegen einen 21-jährigen Fußgänger in Glöwen. Im August 2003 war der Mann dreimal so getreten und geschlagen worden, dass er nur mit viel Glück überlebte. Gegen das Urteil legte der Verteidiger, der ihn auch diesmal wieder vertritt, Revision ein.

Der Prozess wird am Freitag fortgesetzt.

Freitag, 7. Mai 2004

Gedenkbuch für jüdische NS-Opfer

Potsdam. Das Landeshauptarchiv erstellt derzeit ein „Gedenkbuch für jüdische Opfer des Nationalsozialismus in der Region Brandenburg“. Die im Archiv vorhandenen und noch zu erschließenden Quellen würden es möglich machen, Einzelschicksale Brandenburger Juden zu rekonstruieren und sie dem Vergessen zu entreißen, sagte Kulturstaatssekretär Christoph Helm bei der Vorstellung erster Ergebnisse. Das Ministerium fördert die Auswertung von archivalischen Quellen zu jüdischen Bürgern, die zwischen 1933 und 1945 in der Region Brandenburg lebten, und die Erarbeitung einer wissenschaftlichen Datenbank mit 33000 Euro. Gedenkbuch-Projekte laufen auch in den KZ-Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen. Dpa

Samstag, 8. Mai 2004

Rechter Fackelzug genehmigt

Potsdam - Mitglieder der rechtsgerichteten "Preußischen Aktionsfront" dürfen heute Abend unter dem Motto: "Schluss mit der Befreiungslüge" am Gedenktag zum Ende des Zweiten Weltkriegs mit Fackeln durch Belzig (Potsdam-Mittelmark) marschieren. Das bestätigte gestern das Potsdamer Verwaltungsgericht. Das Polizeipräsidium hatte das Tragen von Fackeln bei dem Zug zunächst verboten, die Veranstaltung selbst aber genehmigt. Gegen die Auflage hat der vom Brandenburger Verfassungsschutz beobachtete Rechtsextreme Mario Scholz, der als Anmelder fungiert, jetzt erfolgreich geklagt.

 

Montag, 10. Mai 2004

Wecken mit Antifas im Dahmeland
Aktion gegen Nazi-Aufmarsch im Herbst 
 
Von Hannes Heine 
 
Für Aufregung in den verschlafenen Ortschaften des Dahmelandes sorgte am Wochenende der Besuch von 70 jungen Antifaschisten. In der ländlichen Gegend war nicht nur ungewöhnlich viel Polizei unterwegs, die Anwohner hatten auch wegen unerwarteter öffentlicher Aktionen viel zu diskutierten.
In Teupitz verteilten Mitstreiter der »Initiative zur Verhinderung eines Nazi-Aufmarsches in Halbe« während einer Kundgebung vor dem Amt Schenkenländchen Flugblätter. Auch im benachbarten Halbe wurden Plakate und Handzettel verteilt. Am dortigen Soldatenfriedhof gedachten die Antifaschisten mit einem Blumenkranz der hingerichteten Deserteure und Zwangsarbeiter. Die Initiative forderte neben dem Verbot des zu erwartenden Neonazi-Aufmarsches am 13. November dieses Jahres eine angemessene Ehrung der in Halbe begrabenen Opfer des Faschismus. Auf dem Boden des dortigen Soldatenfriedhofs fand die letzte große Kesselschlacht des Zweiten Weltkriegs statt. Sterbliche Überreste von über 28000 Wehrmachtssoldaten, sowjetischen Gefallenen, deutschen Deserteuren und unzähligen Zwangsarbeitern wurden hier begraben. Zum Volkstrauertag im Herbst sammelten sich in den letzten Jahren immer wieder Alt- und Neonazis im 2500-Seelen-Dorf. Fast 500 Neonazis hielten im vergangenen Jahr unter dem Motto »Ruhm und Ehre dem deutschen Frontsoldaten« eine Kundgebung ab. Etwa 300 Antifaschisten demonstrierten dagegen.
Der Landkreis Dahme-Spreewald und besonders dessen größte Stadt Königs Wusterhausen sind für eine organisierte rechte Szene bekannt. Hier beendeten die Antifa-Demonstranten ihre Tour. Sie besuchten das Denkmal der Verfolgten des Naziregimes und kündigten für den Fall neonazistischer Aktionen »konsequenten Widerstand« an.

Mittwoch, 12. Mai 2004

Eine Auszeichnung für "Unmenschlichkeit"

Mitarbeitern eines Ordnungsamts wurde ein "Denkzettel" wegen Rassismus verliehen - nun ziehen sie vor Gericht

BERLIN taz Am 21. März verlieh der Flüchtlingsrat Brandenburg einen Denkzettel an einen Dezernenten des Ordnungsamts im Brandenburger Landkreis Elbe-Elster - für "systeminternen und strukturellen Rassismus". Die gleiche Auszeichnung ging an einen Mitarbeiter der Ausländerbehörde. Anlass war der Internationale Antirassismus-Tag, an dem zum achten Mal ein "Denkzettel" verliehen wurde. Dabei geht es nicht um offenen Rassismus, sondern um legales Verhalten, bei dem bestehende Ermessensspielräume nicht genutzt werden. Zum ersten Mal in seiner Geschichte ist der Denkzettel nun Gegenstand einer Gerichtsverhandlung.

Die "ausgezeichneten" Herren fühlen sich beleidigt. Das Rechtsamt des Landrates will dem Flüchtlingsrat per einstweilige Verfügung untersagen, "unwahre Behauptungen" aufzustellen. Das angedrohte Ordnungsgeld beträgt bis zu 250.000 Euro. Heute wird vor dem Amtsgericht Potsdam verhandelt.

Anlass für den Denkzettel war die Abschiebung einer kurdisch-türkischen Familie, die im April 2003 von der Polizei aus dem Kirchenasyl geholt wurde. Es war das erste Mal, dass Brandenburgs Behörden ein Kirchenasyl brachen. Die Eltern, die psychische Probleme hatten, wurden festgenommen und kamen in Abschiebehaft, ihre drei Kinder ins Heim. Für 55.000 Euro wurde eine Chartermaschine bestellt, ohne dass die Familie über den Zeitpunkt der Abschiebung informiert wurde.

Der Bischof der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Wolfgang Huber, protestierte in einem Brief an die Landesregierung gegen den Bruch des Kirchenasyls. Der Flüchtlingsrat fand die Abschiebung "unmenschlich", das Vorgehen "von rücksichtloser Härte und einer Unzahl falscher Aussagen geprägt" und verlieh den Denkzettel.

Das Rechtsamt des Landkreises rechtfertigt seinen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung damit, dass die beiden Mitarbeiter "in Ansehen und Ehre verletzt werden". Es würden "ehrangreifende, polemische Behauptungen aufgestellt, die überzogen und völlig unsachlich" seien. Der Flüchtlingsrat Brandenburg soll es unterlassen, die Mitarbeiter "direkt oder indirekt als Rassisten, rücksichtslos, unmenschlich oder ähnlich beleidigend oder verleumderisch" zu bezeichnen.

"Es ist schon erstaunlich, mit welchem Ausmaß an Identifizierung offensichtlich die Mitarbeiter ihre Tätigkeit versehen, wenn aus der Bezeichnung einer Abschiebung als ,Akt der Unmenschlichkeit' die Behauptung abgeleitet wird, die die Abschiebung durchführenden Sachbearbeiter seien als unmenschlich bezeichnet worden", argumentiert Gesa Schulz, die Anwältin des Flüchtlingsrates, in ihrem Widerspruch - und sieht der Verhandlung gelassen entgegen.

"BARBARA BOLLWAHN

Mittwoch, 12. Mai 2004

Brisante Landesgeschichte

Das Landeshauptarchiv erstellt ein „Gedenkbuch für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in Brandenburg“

Von Jan Kixmüller

Potsdam. Die Judenverfolgung der Nationalsozialisten ist auch ein Stück brandenburgische Landesgeschichte. „Zu deren Aufhellung fühlt das Landeshauptarchiv sich verpflichtet, wenn man im Sinne einer aufrichtigen historisch-politischen Bildung den Blick für die dunklen Schattenseiten der Vergangenheit schärfen will“, sagte der Direktor des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, Dr. Klaus Neitmann im Rahmen der Präsentation eines Buchprojektes. Mit dem im Entstehen befindlichen „Gedenkbuch für jüdische Opfer des Nationalsozialismus in Brandenburg“ will das Landeshauptarchiv dazu beitragen, den Opfern und Überlebenden des Holocaust beziehungsweise ihren Nachfahren zur Rückgabe und Entschädigung ihres damaligen Vermögens zu verhelfen. Einzelschicksale Brandenburger Juden möchte man rekonstruieren und sie so „dem Vergessen entreißen“.

Ein besonders eindringliches Zeugnis der Judenverfolgung liefern nach den Worten von Neitmann die Finanzbehörde des Deutschen Reiches. Denn Auswanderung und Deportation der Juden zog aus Sicht der NS-Diktatur die Frage nach sich, was mit dem Eigentum der Opfer passiert. Unter dem Schlagwort der Arisierung zielte die NS-Politik von vornherein darauf ab, sich des jüdischen Vermögens zu bemächtigen.

Die Landesfinanzämter (ab 1937 die Oberfinanzpräsidien) wurden zum wichtigsten bürokratischen Instrument dafür. Das Brandenburgische Landeshauptarchiv verwahrt die erhaltenen Akten des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg mit rund 60 000 Akteneinheiten – meist Einzelfallakten, die Auskunft über die behördliche Behandlung einzelner jüdischer Bürger oder Familien und ihres Vermögens schriftlich festgehalten haben. In den „Vermögenserklärungen“ der Betroffenen finden sich Angaben zur Person und Familie sowie zum flüssigen Vermögen, Liegenschaften, Wohnungsinventar, Kleidung, gewerblichem Eigentum, Kunst- und Wertgegenständen. All diese wurde vor Ausreise oder Deportation in die Todeslager zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen, die Einziehungsverfügung wurde den Opfern per Zustellungsurkunde übermittelt.

Neitmann verwies in diesem Zusammenhang auf die schmähliche Rolle der DDR bei der Frage der Wiedergutmachung. Einen großen Bogen habe der sozialistische Staat um das Thema gemacht. Nach der Wende erst habe man damit beginnen können, den Umgang mit dem jüdischen Vermögen in der Region Berlin-Brandenburg zu rekonstruieren. Unterdessen seien die Bestände schon für zehntausende von Anfragen herangezogen worden. Das Vorhaben des „Gedenkbuches“ soll nun die Überlieferungen der Oberfinanzpräsidenten für die historische Forschung, und für die historisch-politische Bildungsarbeit öffnen. „Die inzwischen durch die Aktenlektüre angeeignete genaue Kenntnis von den einzelnen Phasen und Stufen der NS-Judenpolitik und ihrer jeweiligen Begleitumstände hat uns zu dem Entschluss geführt, das jüdische Schicksal in der damaligen Provinz Brandenburg von den ersten Verfolgungsmaßnahmen 1933 bis zu den Deportationen 1941/42 mit den Mitteln der Wissenschaft aufzuklären“, so Neitmann. So möchte man die Schicksale der einzelnen Menschen aufhellen. Die Zusammenstellung der Personennamen und ihren wichtigsten Lebensdaten soll dem Betrachter eindringlich vor Augen führen, dass „individuelle Persönlichkeiten gewaltsam aus ihrer vertrauten Lebenswelt herausgerissen und unter rassenideologischem Dogma der Verfolgung und Ermordung preisgegeben“ wurden. „Gerade die namentliche Benennung der Opfer soll diesen Tatbestand den Nachlebenden bewusst machen“, betont Neitmann.

Das Gedenkbuchprojekt soll nach Wunsch der Initiatoren einen Vorbildcharakter haben und ähnliche Initiativen in anderen Städten Brandenburgs auslösen. Zusammen mit der Friedrich-Flick-Stiftung bereitet das Archiv derzeit auch ein Projekt vor, mit dem Schüler durch die Lektüre von Archiv-Quellen in gut dokumentierten Fällen jüdische Lebenswege im Deutschland nach 1933 nachzeichnen können. Am Einzelschicksal soll deutlich werden, wie jüdische Bürger im NS-Staat gesellschaftlich diskriminiert, in die Isolation und Auswanderung getrieben wurden oder nach dem Angriff auf die Sowjetunion durch Deportation in den Osten ihrer Ermordung entgegen gingen.

Freitag, 21. Mai 2004

Couragierte Bürger ausgezeichnet

Potsdam - Drei Brandenburger und eine Berlinerin sind für ihr couragiertes Eintreten gegen rechtsextreme Gewalt ausgezeichnet worden. Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) überreichte ihnen das "Band für Mut und Verständigung". Der Weg zu einer toleranten Gesellschaft sei noch weit, betonte er dabei. Immer noch gehöre Rassismus zum Alltag. Brandenburgs Ausländerbeauftragte Almuth Berger sagte: "Es gehört wirklich Mut dazu, Vernunft gegen dummen Hass auf Fremde zu setzen oder Zivilcourage gegen Gleichgültigkeit." Initiator der zum elften Mal verliehenen Auszeichnung ist das 1993 ins Leben gerufene Bündnis der Vernunft gegen Gewalt und Ausländerfeindlichkeit.

Zu den am Mittwoch Geehrten zählt der 57-jährige gelernte Zimmermann Horst Martin, der am 27. September 2003 in einer Cottbuser Straßenbahn ein farbiges Paar gegen Angriffe rechtsradikaler Jugendlicher in Schutz genommen hatte. Als er mit Hilfe des Straßenbahnschaffners die Polizei rief, wurde er zusammengeschlagen und erheblich verletzt.

Editha Kindzorra (50) ist Mitbegründerin eines multikulturellen Projektes in Berlin, aus dem sich die "Oase Pankow" entwickelte. Der Verein bietet Deutsch-, Computer- und Bildungsseminare an und berät in Sozial-, Ausländer- und Asylrechtsfragen.

Das Ehepaar Gerda und Hans-Werner Backhaus wurde am 4. Mai 2002 Zeuge eines brutalen Angriffs von Jugendlichen auf zwei Spätaussiedler. Eines der Opfer erlag seinen schweren Kopfverletzungen. Als Hauptzeugen des Prozesses vor dem Landgericht Neuruppin im vergangenen Jahr trugen die Eheleute maßgeblich zur Verurteilung einer Reihe Angeklagter zu teilweise hohen Haftstrafen bei. dpa

 

Freitag, 21. Mai 2004

Richtige Worte zu rechtsradikaler Tat
»Band für Mut und Verständigung« an drei Brandenburger und eine Berlinerin verliehen 
 
Von Andreas Fritsche 
 
In den frühen Morgenstunden des 4. Mai 2002 weckt Lärm Gerda und Hans-Werner Backhaus. Die Eheleute sehen am Fenster, wie zwei Jugendliche getreten und geschlagen werden. Die Opfer liegen am Boden. Gerda Backhaus ruft die Polizei und einen Krankenwagen. Bevor Hilfe eintrifft, wird der 24-jährige Spätaussiedler Kajrat Batesov mit einem 17 Kilogramm schweren Stein erschlagen. Gerda und Hans-Werner Backhaus glauben, dass alle Jugendlichen in Wittstock wissen, wer die Täter sind. Die Eheleute sind sich sicher, dass sie nicht die einzigen Zeugen sind. Sie sind aber die einzigen, die vor Gericht aussagten.
Dafür bekamen sie am Mittwoch im Gebäude der Staatskanzlei in Potsdam das »Band für Mut und Verständigung«. Verliehen wird das Band seit 1994 durch das »Bündnis der Vernunft gegen Gewalt und Ausländerfeindlichkeit«.
»Es war für uns selbstverständlich, dass eine solche Straftat nicht ungesühnt bleibt. Wir haben ganz einfach die Wahrheit gesagt«, erklärte Hans-Werner Backhaus, der Revierförster in Alt-Daber ist.
»Wieso denn, wieso ich? Ich habe doch nichts Besonderes gemacht«– solche Erklärungen hört die Brandenburger Ausländerbeauftragte Almuth Berger immer wieder. »Ist es nicht eigentlich selbstverständlich und normal, dass ich mich gegen Rassismus in unserem Land engagiere?«, fragte Berger. »Wir alle wissen, dass es eben nicht so ist.«
Nach wie vor könne es keine Entwarnung geben und die rechte Gewalt nehme teilweise noch zu, sagte Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD). Das Bündnis der Vernunft ist eine Reaktion auf die Ausschreitungen in Hoyerswerda, wo 1991 Rechtsradikale vietnamesische Händler überfielen und ein Asylbewerberheim unter dem Beifall vieler Schaulustiger angegriffen wurde.
Zum Bündnis gehören die Regierungschefs von Berlin und Brandenburg, der DGB, Religionsgemeinschaften, Wohlfahrtsverbände sowie Landessportbund und Flüchtlingsrat von Berlin. 39 Personen und drei Initiativen und Vereine erhielten bisher das »Band für Mut und Verständigung«, an das keine Geldprämie geknüpft ist.
Mehrfach sind Menschen ausgezeichnet worden, die im Zug bzw. in der Straßenbahn Ausländer gegen Attacken von Nazis verteidigten. Diesmal erhielt der arbeitslose Versicherungsvertreter Horst Martin eine Ehrung, weil er sich in einer Cottbusser Straßenbahn vor ein farbiges Pärchen stellte.
Es ist der 27. September 2003. Ein Dutzend Randalierer, von denen mindestens einer einen Aufnäher mit einem Hakenkreuz-Symbol trägt, pöbelt die beiden Studenten an. Der 57-jährige Martin mischt sich ein: »Könnt Ihr die Leute nicht in Ruhe lassen?« Da richtet sich der Hass der Rechtsradikalen gegen ihn. Sie schlagen Martin so mit Fäusten, dass er später zum Arzt muss. Einer tritt dem Brillenträger ins Gesicht.
Die Straßenbahn ist voll besetzt, aber niemand greift ein. Nur ein alter Mann und der farbige Student wollen helfen. Dem Studenten ruft Martin auf Englisch zu, er solle sich nicht einmischen. Der Versicherungsvertreter fürchtet um das Leben des Pärchens, falls die Situation noch weiter eskaliert. Noch heute fragt sich Martin, warum die Männer in der Straßenbahn tatenlos zusahen. War es Gleichgültigkeit oder fehlte der Mumm? Er würde jeder Zeit wieder so handeln, wie an jenem 27. September.
Es ist auch nicht das erste Mal, dass Martin sich für Toleranz einsetzt. In Pirmasens, wo der im Rheinhessischen Geborene aufwuchs, sind einst oft die Spiele der türkischen Fußballmannschaft abgebrochen worden. Das erschien Martin verdächtig. Er schaute sich eine Partie an und bekam zufällig mit, wie die Schiedsrichter sich verabredeten, die türkische Elf zu benachteiligen. Martin veröffentlichte darüber einen Beitrag in der Stadtzeitung und schrieb: »Jeder Bürger, gleich welcher Staatsangehörigkeit oder Herkunft, ist herzlich willkommen, bei uns Fußball zu spielen.« Daraufhin wählte ihn der türkische Verein aus Dankbarkeit zum Vizevorsitzenden.
Bei dem Vorfall in der Cottbusser Straßenbahn war Horst Martins Sohn Steven Kummerow dabei. Monate später malte er für seinen Vater eine Karikatur mit dem Titel »Wenn Rassisten deprimiert sind«. Anstoß dazu war das Erlebnis in der Straßenbahn. Zeichnen ist sonst nicht die Sache des Zehnjährigen.
Ebenfalls mit dem »Band für Mut und Verständigung« ausgezeichnet wurde die arbeitslose Deutsch- und Englischlehrerin Editha Kindzorra, die sich im Berliner Verein »OASE Pankow« für die Belange von Einwanderern einsetzt.

Dienstag, 25. Mai 2004

Haftstrafen für ausländerfeindliche Brandanschläge

Neuruppin - Zwei ausländerfeindliche Brandanschläge auf Imbissstände in Pritzwalk hat das Landgericht Neuruppin jetzt mit mehrjährigen Haft- und Bewährungsstrafen geahndet. Drei Angeklagte wurden der versuchten schweren Brandstiftung, einer der Beihilfe für schuldig befunden. Bei den Anschlägen auf einen Asia- und einen Dönerimbiss in einem Wohnhaus im Herbst 2003 wurde niemand verletzt. Gegen einen 20-Jährigen, der zusammen mit einer angeklagten Frau das Benzin besorgt hatte, verhängte das Gericht eine Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren. Ein 25-Jähriger erhielt drei Jahre Haftstrafe, ein 26-Jähriger, der das Auto gefahren hatte, ein Jahr und zehn Monate Freiheitsstrafe. Die 18-Jährige erhielt zwei Jahre Jugendstrafe mit drei Jahren Bewährung. dpa

 

Dienstag, 25. Mai 2004

Hohe Strafen für Brandanschläge Quartett zündete zwei Imbisse von Ausländern an. Gericht sah keinen versuchten Mord

Neuruppin - Im Prozess gegen vier rechtsgerichtete Brandstifter aus Pritzwalk und Umgebung hat das Landgericht Neuruppin gestern teilweise hohe Haftstrafen ausgesprochen. Die drei Männer im Alter zwischen 19 und 26 Jahren sowie ihre 17-jährige Begleiterin hatten im November in Pritzwalk aus ausländerfeindlichen Motiven einen Asia-Imbiss-Wagen angezündet, der vollständig ausbrannte. Ihr Versuch, anschließend Feuer in einem Döner-Laden zu legen, scheiterte nur an der geringen Menge von Benzin. Die Flammen verloschen von selbst.

Wegen schwerer und versuchter Brandstiftung erhielt der 19-jährige Anstifter eine Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten, sein 26-jähriger Kumpan eine Freiheitsstrafe von drei Jahren. Bei der geständigen 17-Jährigen wurde die zweijährige Jugendstrafe für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Zudem muss sie 150 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten. Der vierte Angeklagte muss für ein Jahr und zehn Monate ins Gefängnis. Der 26-jährige hatte seine Freunde mit dem Auto zu den Tatorten gefahren und wurde wegen Beihilfe verurteilt.

Der Staatsanwalt hatte Strafen von bis zu viereinhalb Jahren gefordert. Denn er klagte das Quartett auch wegen versuchten Mordes an: In der Wohnung über dem Döner-Laden hielt sich zum Zeitpunkt der versuchten Brandstiftung die Familie des Eigentümers auf. Doch zur großen Überraschung vieler Prozessbeobachter sah Richterin Ria Becher keine „absichtliche Tötungsabsicht“. Die Angeklagten hätten wegen ihres hohen Alkoholpegels und der „angespannten psychischen Verfassung“ die Gefährlichkeit ihrer Tat nicht erkannt. Ihnen sei es offensichtlich nur darum gegangen, Ausländern einen „Denkzettel“ zu verpassen, meinte die Richterin. Nach den Anschlägen hatten die Verurteilten ihre Taten mit „Sieg-Heil“-Rufen gefeiert. Die Polizei kam ihnen schon am nächsten Morgen auf die Spur, weil sich ein Tankwart die Autonummer notiert hatte.

Alle vier Täter sind arbeitslos, die Männer besitzen ein längeres Vorstrafenregister. Noch bei der Urteilsverkündung äußerten sie sich abfällig über die 17-Jährige, die sie mit ihrem Geständnis belastet hatte. Das Mädchen vergoss zwar bei beiden Anschlägen das Benzin, weil sich die angetrunkenen Männer dafür „zu dusselig“ angestellt hätten. Aber sie war nicht nur geständig, sondern ist auch schwanger. Die Richterin hofft, dass das Mädchen als Mutter künftig die Finger von „solchen schlechten Dingen“ lassen wird.